Kinderkommission

Experten: Flächen­decken­den Lockdown bei Kitas unbedingt vermeiden

Einen zweiten flächendeckenden Lockdown bei den Einrichtungen für die Kleinsten gelte es unbedingt zu vermeiden. Es brauche dringend eine bessere, frühzeitige Kommunikation unter Einbeziehung aller Betroffenen, falls neue Maßnahmen auf Kinder, Eltern und Erzieherinnen zukämen. Darin waren sich die Mitglieder der Kinderkommission (Kiko) des Deutschen Bundestages und die geladenen Sachverständigen in der Sitzung am Mittwochnachmittag, 28. Oktober 2020, unter Leitung von Norbert Müller (Die Linke) einig.

„Die erste Geige spielt hier, was für Kinder wichtig ist“

Man sammele in dieser Sitzung und an den folgenden Terminen der „Anhörungsreihe“ weiter Erfahrungen, ziehe Lehren und bringe diese als Empfehlungen in den Hauptausschuss (für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) ein. Während Kinder und Jugendliche in der ersten Phase der Pandemie in den öffentlichen Debatten fast völlig aus dem Blick geraten seien, werde deren Schicksal nun wieder verstärkt betrachtet, sagte Müller.

Die Kiko bleibe an dem Thema dran und nehme die Interessen der Kinder wie in den vergangenen 30 Jahren seit ihrer Gründung wahr. Über Parteigrenzen hinweg gelte für ihre Mitglieder: „Die erste Geige spielt hier, was für Kinder wichtig ist.“

„Wollen wir funktionierende Kinder oder mündige Bürger?“

Dass „funktionierende Kitas“ eigentlich ein Armutszeugnis seien, darauf verwies Dr. Elke Alsago von der Bundesverwaltung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, Fachstelle Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit. Sie bezeichnete es als „frappierend“, dass nach der Rückkehr der Kindergärten zum Regelbetrieb nach dem Lockdown im Frühjahr „nur noch über Betreuung gesprochen wird“.

Man müsse gerade dabei zusehen, „wie die pädagogischen Errungenschaften der letzten 20 Jahre“ wegen der Hygieneauflagen „über Bord geworfen werden.“ Den Alltag mitorganisieren, Freunde treffen, ihr Umfeld erkunden – momentan würden Kindern diese für ihre Entwicklung so wichtigen Möglichkeiten genommen. Die Frage sei: „Wollen wir eigentlich funktionierende Kinder oder mündige Bürger?“ Die Fachkräfte in den Einrichtungen funktionierten auch „nur noch“ und leisteten den Spagat zwischen pädagogischem Anspruch, Regeln des Gesundheitsschutzes und unklaren Perspektiven.

Pädagogische „Zeitreise in die siebziger Jahre“

Alsago bemängelte insbesondere die Absenkung der Standards. Je nachdem, in welches Bundesland man schaue, gebe es andere, mit heißer Nadel gestrickte Regelungen. Es gehe eigentlich nur noch um die Sicherstellung der Aufsichtspflicht. Gruppengrößen stiegen auf pädagogisch nicht mehr vertretbare 28 Kinder. Nicht-Pädagogen wie Eltern könnten beispielsweise in Berlin bei Personalengpässen hinzugezogen werden, woanders wiederum „Personen, die ein erweitertes Führungszeugnis vorweisen können“. Dies sei ein Rückfall, „eine Zeitreise in die siebziger Jahre“.

Es gelte dringend, die Personalausstattung der Einrichtungen zu verbessern und Pädagogen auszubilden, sagte Alsago. „Das ist uns in der Pandemie komplett auf die Füße gefallen.“ Man müsse zunächst aber alles dafür tun, dass wenigstens die Betreuung gesichert werde. „Ein kompletter Lockdown wäre eine Katastrophe. Die Länder müssen nun gute Pläne entwickeln“, um dies zu vermeiden. Wichtig sei zudem eine zeitliche Befristung von Pandemie-Maßnahmen.

Elternvertreter erreichten „unendlich viele Erlebnisberichte“

Ulrike Grosse-Röthig von der Bundeselternvertretung (BEVKI) berichtete von den Erfahrungen, die Familien mit dem Lockdown im Frühjahr gemacht hätten. Für die Betreuung der Kinder sei ab dem 13. März von einem Tag auf den anderen allein die Familie geblieben. „Die mit dem Staat bestehende Vereinbarung, dass Beruf und Familie vereinbar sein müssen, wurde einseitig gekündigt“, sagte Grosse-Röthig. Die flächendeckende Schließung der Kitas habe für Familien, Eltern und Kinder gleichermaßen, „schwerwiegende Folgen“ gehabt.

Was sie in der Sitzung vortrage, stamme „aus unendlich vielen Erlebnisberichten“, die Eltern der Bundeselternvertretung in den vergangenen Monaten hätten zukommen lassen. Mit der Aufgabe der Rund-um-die-Uhr-Betreuung kleiner Kinder – „Solange die Kinder wach sind, muss ich mich um sie kümmern“ – und den beruflichen Anforderungen, sei es auswärts oder im sogenannten „Home Office“, seien Eltern, darunter auch Alleinerziehende, einer kaum zu leistenden Doppelbelastung ausgesetzt. Viele Arbeitgeber hätten auf die Krisensituation keine Rücksicht genommen.

Eltern „weit oberhalb jeder Belastungsgrenze“

Wirtschaftliche Zwänge hätten eine völlige Umplanung des Alltags nötig gemacht, Existenzängste machten sich breit. „Erprobte Tagesabläufe haben nicht mehr funktioniert. Alles wurde von einem auf den anderen Moment zerschossen.“ Die Eltern hätten nun seit acht Monaten Arbeitszeiten in Familie und Beruf „weit oberhalb jeder Belastungsgrenze“. Und: „Je länger dieser Zustand andauerte, desto schwieriger wurde es.“

Eine nochmalige flächendeckende Schließung von Kindertagesstätten gelte es unbedingt zu vermeiden, betonte Grosse-Röthig. Die Folgen eines zweiten Lockdowns „wären so zentral, dass die daraus folgenden Schäden die Gesundheitsschutzmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung überdecken“. Sie gehe „fest davon aus, dass die Politik mit großer Sorgfalt mit einem zweiten Lockdown umgehen wird“, sagte die Elternvertreterin. Diese Maßnahme sei ein „scharfes Schwert“.

Und ein „Jeder-wartet-auf-jeden“ bei der Verkündung neuer Maßnahmen: „Das sind Fehler, die sich nicht wiederholen dürfen.“ Jetzt müsse es „Krisenstäbe“ geben „mit allen Beteiligten“. Und wenn sich die Lage zuspitze, „müssen da Pläne liegen, und jeder weiß, was in nächster Zeit zu tun ist“.

Masken bremsen sprachliche Entwicklung

Die mittlerweile fast ein Jahr dauernde Pandemie bedeute für ein dreijähriges Kind ein Drittel seines Lebens, sagte Heiko Krause, Bundesgeschäftsführer beim Bundesverband für Kindertagespflege. Das Leben unter solchermaßen erschwerten Bedingungen in der frühkindlichen, formativen Phase des Lebens habe mit Sicherheit beträchtliche psychosoziale Auswirkungen. „Wir brauchen Studien, was da passiert“, forderte er.

Die Kinder fragten sich: „Warum ist plötzlich alles anders?“, seien durch Masken verunsichert, würden dadurch in ihrer sprachlichen Entwicklung zurückgeworfen und erlebten verunsicherte Erwachsene. Hinzu kämen „Einschränkungen im impulsiven körperlichen Kontakt“. Krause weiter: Täglich wechselnde Regelungen machten es sowohl Eltern wie auch den etwa 45.000 in Deutschland tätigen „Tagespflegepersonen“ schwer, die „mit den diversen Rollenanforderungen“ überfordert seien.

Finanzielle Unwägbarkeiten gebe es außerdem nicht nur auf Seiten der Familien, sondern auch bei der professionellen Tagespflege, bei der sich große Unsicherheiten in der Abrechnung ihrer Dienstleistungen aufgetan hätten, wenn sie sich beispielsweise jenseits der Pflegestunden für die Kinder engagierten: „Wir brauchen ein neues Modell der Finanzierung der Kindertagespflege.“

„Kindertagespflegegruppen in Pandemiezeiten interessant“

Drei Millionen Arbeitnehmer in Deutschland seien weiterhin in Kurzarbeit, viele Eltern behielten ihre Kinder weiterhin zu Hause, erläuterte Krause. Dabei könnten Kindertagespflegegruppen wegen ihrer geringen Gruppengröße von maximal fünf Kindern und ihrer festen, familienähnlichen Struktur gerade in Pandemiezeiten interessant sei.

Kinderbetreuungseinrichtungen seien jedenfalls „das, was als letztes geschlossen werden sollte“. Die Politik müsse sich über die gesellschaftlichen Folgewirkungen eines weiteren Lockdowns im Klaren sein. Die Kiko solle dazu noch stärker ihre Stimme erheben und deutlich machen, welche Bedeutung Angebote der Bildung und Betreuung für Kinder und Jugendliche neben anderen Bereichen in Gesellschaft und Wirtschaft hätten.

Falls Maßnahmen beschlossen würden, so habe man immer dann gute Erfahrungen damit gemacht, wenn diese Regeln einheitlich, transparent und mit genügendem zeitlichem Vorlauf gewesen seien: „Schnelle, datenschutzrechtlich abgesicherte Kommunikationswege sind nötig.“ (ll/28.10.2020)

Liste der geladenen Sachverständigen

  • Dr. Elke Alsago, Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft Bundesverwaltung (ver.di), Fachstelle Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit
  • Ulrike Grosse-Röthig, Bundeselternvertretung (BEVKI)
  • Heiko Krause, Bundesgeschäftsführer Bundesverband für Kindertagespflege e. V.

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