Enquete-Kommission Berufliche Bildung

Ausbildungs­reife versus Berufswahl­kompetenz im Fokus

Die Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ hat am Montag, 2. November 2020, in ihrer 27. Sitzung unter Leitung von Antje Lezius (CDU/CSU) online über das Thema „Ausbildungsreife versus Berufswahlkompetenz“ beraten. Die externen Sachverständigen plädierten dafür, die berufliche Orientierung als einen Prozess zu sehen.

Berufliche Orientierung als Entwicklungsgeschehen

Der Sachverständige Prof. Dr. Marc Thielen (Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover) erläuterte, dass „Ausbildungsreife“ und „Berufswahlkompetenz“ die berufliche Orientierung als ein Entwicklungsgeschehen betrachten, in dessen Vollzug definierte Standards erreicht werden sollen. Während „Ausbildungsreife“ auf Alters- und Entwicklungsnormen rekurriere und Diskrepanzen zwischen dem Entwicklungsstand Jugendlicher und den Erwartungen von Ausbildungsbetrieben betrachte, gehe es bei der „Berufswahlkompetenz“ mehr um Lern- und Entwicklungsaufgaben mit einem Fokus auf den Bedingungen.

Der Begriff „Ausbildungsreife“ knüpfe thematisch an das ältere Konzept der Berufsreife an, sodass es um Mindestanforderungen zur Aufnahme einer Berufsausbildung gehe. Im Diskurs dominiere die individuelle Perspektive, strukturelle Fragen in Bezug auf das Berufsbildungssystem spielten kaum eine Rolle.

„Ungleiche Chancen zur Realisierung beruflicher Ziele“

Bei der Berufswahlkompetenz stehe das Entwicklungsziel in Bezug auf die Berufs- und Zukunftsplanung sowie die Fähigkeiten im Fokus, die Jugendliche dafür benötigten. Bei der Orientierung bestünden keine grundsätzlichen Defizite, sondern vielmehr ungleiche Chancen zur Realisierung der beruflichen Ziele, sagte er weiter.

Problematisch sei die „implizite Orientierung an linearen Entwicklungsmodellen“ und der „starke Fokus auf individuellen Persönlichkeitsmerkmalen“ bei Vernachlässigung biografischer und sozialer Aspekte. Thielen plädierte für mehr didaktische Angebote und pädagogische Begleitung, sodass Inklusion „der Weg und das Ziel beruflicher Orientierung und Bildung“ werde.

„Selbsteinschätzung muss man lernen“

Sien-Lie Saleh vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) in Stuttgart sprach als Vertreterin der Bund-Länder-BA-Begleitgruppe der „Initiative Bildungsketten“ zu dem Gremium. Sie verwies auf die Ergebnisse der Sinus-Jugendstudie, die ein guter Einstieg seien, um die Hauptkritikpunkte des Katalogs zur Ausbildungsreife aus dem Jahr 2004 zu betrachten. „Damals gab es ein Überangebot an Ausbildungswilligen. Bereits seit zwölf Jahren gibt es aber mehr Ausbildungsplätze als Suchende“, sagte Saleh.

Die Ausbildungschancen der Bewerber hingen oftmals von der Struktur der regionalen Ausbildungsangebote ab, zudem sei das Zeitfenster sich beruflich zu orientieren sehr klein: „Selbsteinschätzung muss man lernen und üben“, sagte sie und empfahl, die Konzepte stärker aufeinander abzustimmen und kohärente Systeme von der Grundschule bis zum Ende der weiterführenden Schule zu nutzen.

„Berufliche Orientierung als Prozess sehen“

Es sei wichtig, die berufliche Orientierung als einen Prozess zu sehen, der altersgerechte Angebote bereitstelle und regelmäßig die Selbstreflexion fördere, sagte Saleh. Insbesondere mehrwöchige Praktika könnten zu realistischen Einschätzungen beitragen. Sie betonte auch, dass bereits die frühkindliche Erziehung „starken Einfluss auf Rollenbilder“ habe, sodass geeignete Formate der gendersensiblen und klischeefreien Selbsteinschätzung und Selbstreflexion bereits ab der Grundschule erprobt werden könnten. Auch eine Berufswahl-App oder webbasierte Potenzialanalyse könne die berufliche Orientierung stärken. „Berufswahlkompetenz wird ein Arbeitsleben lang benötigt“, sagte sie.

Weiter sei für die Förderung des direkten Übergangs in passende Ausbildungen für möglichst viele auch eine verbesserte Öffentlichkeitsarbeit nötig, da viele Instrumente noch nicht bei allen Akteuren bekannt seien. (lbr/02.11.2020)

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