1. Untersuchungsausschuss

Behörden sahen keine besondere Gefahr für Weihnachts­märkte

In Gedenken an den Anschlag auf dem Breitscheidplatz stehen rote Kerzen auf den Stufen vor der Gedächtniskirche

In einer weiteren Vernehmung befasste sich der 1. Untersuchungsausschuss mit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. (picture alliance/Bildagentur-online)

Die deutschen Sicherheitsbehörden sind 2016 nicht davon ausgegangen, dass für Weihnachtsmärkte eine besondere Gefährdung durch radikalislamische Anschläge bestand. „Man war hinreichend dafür sensibilisiert, dass Weihnachtmärkte vulnerabel sind, aber nach unserer damaligen Bewertung war das Risiko, dort zum Opfer zu werden, gleich groß wie bei anderen Menschenansammlungen“, sagte ein leitender Beamter des Bundesinnenministeriums am Donnerstag, 26. November 2020, dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz des Abgeordneten Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Der heute 49-jährige Ministerialrat Jens Koch steht in der Abteilung Öffentliche Sicherheit (ÖS) an der Spitze der Arbeitsgruppe Internationaler Terrorismus und Extremismus.

BKA gibt jede Wintersaison Gefährdungseinschätzung ab

Das Bundeskriminalamt (BKA) gebe in jeder Wintersaison eine eigene Einschätzung zur Gefährdung von Weihnachtsmärkten ab, berichtete der Zeuge. Diese sei 2016 nicht anders ausgefallen als in den Jahren zuvor. Auch dass damals nur drei Wochen vor dem Attentat des Tunesiers Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz in Frankreich ein vergleichbarer Anschlag gescheitert war, habe an dieser Bewertung nichts geändert.

Zwar könne man sich vorstellen, dass Weihnachtsmärkte für islamistische Terroristen ihres Symbolgehalts wegen besonders attraktive Ziele darstellten, räumte der Zeuge ein.  Erfahrungsgemäß sei dies aber nicht der Fall. Dschihadistische Attentäter schlügen in der Regel dort zu, wo sich eine Gelegenheit biete. So hätten damals auch die Empfehlungen des sogenannten Islamischen Staates (IS) für seine Anhänger in Europa gelautet: „Macht es irgendwo, wo es euch passt.“ Der IS habe nicht zwischen höher- und geringerwertigen Zielen unterschieden: „Symbolik war nicht der primäre handlungsleitende Gesichtspunkt.“

Behörden ziehen Schlussfolgerungen aus Terroranschlägen

Bei ihren Bemühungen um Terrorprävention hätten die deutschen Behörden durchaus auch Schlussfolgerungen aus Vorkommnissen in anderen europäischen Ländern gezogen. So sei nach dem Massaker an der Redaktion des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo im Januar 2015 festgestellt worden, dass die deutsche Polizei auf vergleichbare Angriffe unter Einsatz von Kriegswaffen nicht angemessen vorbereitet war. In der Folge sei die Ausrüstung „deutlich verbessert“ worden.

Nach dem Anschlag in Nizza, wo im Juli 2016 ein Islamist am Steuer eines Lastwagens über die Uferpromenade gerast war und zahlreiche Menschen in den Tod riss, sei im Bundesinnenministerium und zwischen Bund und Ländern in der Innenministerkonferenz die Frage zur Sprache gekommen, wie sich Fußgängerzonen etwa durch Betonpoller besser sichern ließen: „Man hat sich schon Gedanken darüber gemacht, was man Sinnvolles tun konnte.“

Krisensitzung im Ministerium

Koch berichtete auch über die Reaktion in seinem Hause auf Vorwürfe, die ein nordrhein-westfälischer Kriminalhauptkommissar im November 2019 vor dem Ausschuss gegen die Führung des BKA und das Innenministerium erhoben hatte. Der Zeuge hatte damals von einem Vieraugengespräch mit einem BKA-Kollegen berichtet, dem zufolge es eine Anweisung „von ganz oben“ gab, einen hochkarätigen V-Mann des Düsseldorfer Landeskriminalamts im radikalislamischen Milieu „totzuschreiben“.

Er habe wohl am selben Abend aus den Medien davon erfahren, sagte Koch: „Ich konnte das nicht  wirklich einordnen. Der zweite Gedanken war: Quatsch.“ Am frühen Morgen des Folgetages habe im Ministerium eine Krisensitzung mit dem zuständigen Abteilungsleiter stattgefunden, bei der der betroffene BKA-Beamte zugeschaltet gewesen sei. Dieser habe erklärt, ein Vieraugengespräch des geschilderten Inhalts habe es nie gegeben. Die Runde habe beschlossen, der Beamte solle seine Darstellung in einer dienstlichen Erklärung zusammenfassen. Zudem sollte ein energisches Dementi an die Medien gehen.

„Wir dachten, dass das der beste Weg wäre, diese Dinge aus der Welt zu schaffen“, sagte Koch. Dass die Glaubwürdigkeit der dienstlichen Erklärung dann angezweifelt wurde, habe niemand erwartet. Die massive Reaktion sei wegen der „absehbaren Pressewelle“ geboten gewesen: „Im Raum stand, dass ein Bundesminister des Innern die Anweisung erteilt, eine Quelle totzuschreiben.“ Seine Erfahrung sei, so der Zeuge, „wenn bestimmte Dinge mit einem gewissen Drive den Weg in die Presse gefunden haben, dass man das nicht so schnell wieder ausgeräumt kriegt.“

Ex-Abteilungsleiter nimmt Minister in Schutz

Ein früherer Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium hat den damaligen Minister Dr. Thomas de Maizière vehement gegen den Verdacht verteidigt, er habe 2016 einen Informanten des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA) zum Schweigen bringen wollen. „Es wäre geradezu absurd, wenn ein Minister einen solchen Vorgang kennt und sagt, den schreibt ihr tot“, sagte der Zeuge Ministerialdirigent Stefan Kaller dem Ausschuss im weiteren Verlauf der Sitzung. Der heute 62-jährige Zeuge war acht Jahre lang Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit (ÖS), bevor er im Januar 2020 in die Funktion eines „Sonderberaters für Prävention“ wechselte.

Kaller bezog sich auf einen Vorgang, der sich am 14. November 2019 im Untersuchungsausschuss abgespielt hatte. Damals schilderte ein Zeuge aus dem Düsseldorfer LKA, Kriminalhauptkommissar M., eine Meinungsverschiedenheit mit dem Bundeskriminalamt (BKA) über die Einschätzung der Zuverlässigkeit eines Informanten im radikalislamischen Milieu, der von der nordrhein-westfälischen Polizei unter der Bezeichnung „VP01“ geführt wurde. In diesem Zusammenhang habe ihm ein BKA-Kollege unter vier Augen anvertraut, die VP01 solle auf Anweisung „von ganz oben“ „totgeschrieben“ werden. Als Urheber der Anweisung sollen die BKA-Spitze und das Innenministerium, namentlich de Maizière, genannt worden sein.

Reaktion auf Aussage im Untersuchungsausschuss

Kaller berichtete, ein Beamter seines Ministeriums, der als Beobachter zum Ausschuss abgeordnet war, habe ihn noch am selben Abend über die Aussage des Zeugen M. unterrichtet. Er habe die Information „einigermaßen verblüfft“ zur Kenntnis genommen und für den nächsten Morgen eine Telefonkonferenz mit dem BKA anberaumt. Er habe „aus dem Mund“ des betroffenen Kriminalhauptkommissars K. hören wollen: „Was ist aus seiner Erinnerung dran an dem, was M. am Vortag geäußert hat?“ Er habe damit seine Dienstpflicht als damals Verantwortlicher für die Rechts- und Fachaufsicht über das BKA wahrgenommen.

Während der Besprechung in seinem Büro habe er unter den Teilnehmern „ungläubiges Kopfschütteln“ über den Auftritt des Zeugen M. registriert. „Was erzählt der denn da, wo kommt das her?“, sei die Frage gewesen. Den BKA-Beamten Klein habe er eine Stunde lang „deutlich und intensiv befragt, ich habe ihm richtig auf den Zahn gefühlt, denn der Vorwurf im Raum, der hatte schon was“. Der Mann habe nach seinem Eindruck glaubhaft versichert, ein Vieraugengespräch des geschilderten Inhalts habe nie stattgefunden. Er habe daraufhin entschieden, mit einem „harten Dementi“ an die Öffentlichkeit zu gehen, sagte Kaller. Er habe sich damit auch vor den BKA-Beamten stellen wollen, dem gegenüber er eine Fürsorgepflicht empfunden habe.

Stellungnahme von Thomas de Maizière eingeholt

Er habe davon absehen müssen, den Standpunkt des Zeugen M. persönlich zu erfragen. Zum einen habe er sich nicht in die Ermittlungsarbeit des Untersuchungsausschusses einmischen dürfen. Zum anderen sei er als Vertreter eines Bundesministeriums nicht befugt gewesen, mit einen nordrhein-westfälischen Landesbeamten direkten dienstlichen Kontakt aufzunehmen. Er habe aber eine Stellungnahme de Maizières eingeholt. Dieser habe erwartungsgemäß das Dementi bestätigt und hinzugefügt, „selbstverständlich hätte er so was nie getan“, sagte Kaller: „Ein Minister müsste mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er sich so verhalten würde. Er kann doch nicht ernsthaft professionellen Ermittlern so reingrätschen.“

Selber habe er von den Vorgängen um den Informanten des Düsseldorfer LKA erst im Laufe des Jahres 2017 nach dem Anschlag des Tunesiers Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz erfahren, betonte Kaller: „Ich schließe absolut aus, dass ich 2016 etwas von der VP01 wusste. Ich hatte auch von Amri, seiner Vita, nie etwas gehört.“ (wid/26.11.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • Jens Koch, Ministerialrat, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
  • Stefan Kaller, Ministerialdirigent, Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat
  • Reinhard Müller, Ministerialdirigent, Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (nichtöffentlich)

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