1. Untersuchungsausschuss

General­bundes­anwalt: Anis Amri war nie Mit­glied der Terror­miliz IS

Ein belebter Weihnachtsmarkt zwischen einem modernen Kirchturm und einer Straße bei Nacht.

Der Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin mit dem Mahnmal für die Opfer des Attentats vom 19. Dezember 2016 (unten links). (picture alliance/dpa | Christoph Soeder)

Der Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri war nach bisheriger Kenntnis deutscher Sicherheitsbehörden zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Dies erklärte Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank am Donnerstag, 10. Dezember 2020, vor dem 1. Untersuchungsausschuss („Breitscheidplatz“) unter Vorsitz von Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU). Amri habe zwar mit dem IS sympathisiert und auch persönliche Kontakte zu IS-Kämpfern unterhalten. Es gebe aber keinen Hinweis, dass er selber der Organisation formal angehört habe, sagte Frank.

„Es gab keine Handhabe, Ermittlungen an sich zu ziehen“

Der Zeuge berief sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshof zum Vorwurf der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129b des Strafgesetzbuchs, der eine originäre Ermittlungskompetenz des Generalbundesanwalts begründet. Demnach bedarf es eines Nachweises, dass ein Verdächtiger einer Organisation, deren Mitgliedschaft ihm zur Last gelegt werden soll, in irgendeiner Weise förmlich beigetreten ist, sich also „integriert“ in den „Personenverband“, um ihn „von innen heraus“ zu stärken. Dies sei im Falle Amris offenbar nicht geschehen.

Es habe somit für ihn vor dem Berliner Anschlag keine Handhabe gegeben, laufende Ermittlungen gegen Amri an sich zu ziehen, betonte Frank. Ungeachtet seines polizeibekannten Status als islamistischer Gefährder sei er auch nicht wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach Paragraf 89a des Strafgesetzbuchs zu belangen gewesen, der ebenfalls in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts gefallen wäre. Um einen solchen Vorwurf zu begründen, hätte festgestellt werden müssen, dass ein Verdächtiger im Besitz der Mittel sei, die ihn zur Ausführung der Tat befähigt hätten.

„Haben keine Einzeltäterthese vertreten“

Amri habe sich nach Erkenntnissen eines V-Mannes seit Ende 2015 zwar wiederholt gebrüstet, er sei jederzeit in der Lage, in Frankreich oder Italien Kalaschnikows zu beschaffen. Er habe aber nie konkrete Anstalten dazu gemacht. Der Kontakt zu Mitgliedern einer ausländischen Terrororganisation allein sei nicht strafbar, betonte Frank. Die Sympathiewerbung für eine terroristische Vereinigung habe der Gesetzgeber 2002 aus dem Strafrecht gestrichen.

Wie bereits andere Zeugen aus den Sicherheitsbehörden vor ihm, bestritt auch Frank energisch, dass die Ermittler nach dem Attentat auf die Vermutung festgelegt gewesen seien, Amri habe die Tat allein begangen. „Weder ich noch meine Behörde haben eine Einzeltäterthese vertreten“, betonte er. Vielmehr habe er bereits am 23. Dezember 2016 vier Tage nach dem Anschlag ein Ermittlungsverfahren wegen Beihilfe gegen den tunesischen IS-Kämpfer Mouadh Tounsi eröffnet, mit dem Amri während der Tatbegehung in Kontakt stand .

„Ermittlungen haben Höchstmaß an Anstrengung abgefordert“

Ein gleichartiges weiteres Verfahren sei am 29. Dezember gegen Amris Vertrauten Bilel ben Ammar eröffnet, wegen mangelnden Tatverdachts später aber wieder eingestellt worden: „Beides widerlegt, dass wir auf eine Einzeltäterthese festgelegt waren.“ Er selbst habe am frühen Abend des 20. Dezember 2016, gut 21 Stunden nach der Tat, von der Identifizierung Amris als Täter erfahren, zunächst noch unter dem Pseudonym Ahmed al Masri, sagte Frank. In seiner Behörde sei der tatsächliche Name allerdings zu diesem Zeitpunkt schon bekannt gewesen. In der Nacht habe ihm seine damalige Pressesprecherin über Anrufe von Journalisten berichtet, die den Klarnamen Amri ebenfalls bereits gekannt hätten.

Die Ermittlungen unmittelbar nach dem Anschlag hätten seiner Behörde ein Höchstmaß an Anstrengung abgefordert. Das Lagezentrum sei an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr besetzt,  Arbeitsschichten von zwölf bis 14 Stunden über Weihnachten und Neujahr seien die Regel gewesen: „Die Kollegen haben dabei wirklich, richtig gebrannt in diesem Ermittlungsverfahren, um voranzukommen.“

Schweriner Verfassungsschutzchef weist Vorwürfe zurück

Im weiteren Verlauf der Sitzung wies der Leiter der Verfassungsschutzbehörde in Mecklenburg-Vorpommern den Vorwurf zurück, nach dem islamistischen Terroranschlag an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ermittlungsrelevante Erkenntnisse unterschlagen zu haben. Er habe der Information nur geringen Wert beigemessen, weil der V-Mann seiner Behörde, auf dessen Angaben sie beruhte, mehrfach unzutreffend, widersprüchlich und obendrein nur vom Hörensagen berichtet habe, sagte Ministerialdirigent Reinhard Müller. Der heute 64-jährige Beamte steht seit 2009 an der Spitze des Verfassungsschutzes, der in Mecklenburg-Vorpommern dem Innenministerium eingegliedert ist.

Der Vorgang, zu dem Müller Stellung zu nehmen hatte, war im Oktober 2019 ruchbar geworden. Damals meldete sich ein ehemaliger Mitarbeiter des Schweriner Verfassungsschutzes, der vor dem Ausschuss unter dem Kürzel T. S. ausgesagt hat, beim Generalbundesanwalt und beim Bundeskriminalamt. Der frühere V-Mann-Führer berichtete, er habe Anfang Februar 2017 von einer Quelle in Berlin den Hinweis erhalten, dass der Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri von einer arabischen Großfamilie unterstützt worden sei. Diese habe Geld und ein Fluchtfahrzeug zur Verfügung gestellt. Auf Anweisung seiner Vorgesetzten habe er diese Information aber nicht zur Weitergabe an die Ermittlungsbehörden verschriftlichen dürfen.

Behörden erörtern Fall gemeinsam

Der V-Mann, von dem die Angabe stammte, berichtete Müller, sei erstmals im Mai 2016 mit Informationen über islamistische Umtriebe der arabischen Großfamilie an seine Behörde herangetreten. Diese habe während des damaligen Ramadan einen Anschlag in Berlin oder anderswo in Europa geplant, habe er vom Hörensagen berichtet. Müller erklärte, er habe die Information dem Bundesamt und dem Berliner Landesamt für Verfassungsschutz zugeleitet. Am 10. Juni 2016 hätten Vertreter der beteiligten Behörden den Fall gemeinsam in Berlin erörtert. Das dortige Landesamt habe unter dem Codewort „Opalgrün“ weiter ermittelt. Nachdem der Ramadan Anfang Juli ohne Zwischenfälle verstrichen war, habe sich die Information erledigt.

Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz habe V-Mann-Führer T. S. die Quelle am 29. Dezember 2016 sowie Mitte Januar und am 1. Februar 2017 getroffen, ohne dass von Amri die Rede gewesen wäre. Erst bei einer weiteren Begegnung am 7. Februar habe der Mann überraschend erwähnt, dass Amri den Anschlag mit Unterstützung der arabischen Großfamilie verübt habe. Müller sagte, er habe davon am 16. Februar erfahren und am Folgetag das Bundesamt und das Berliner Landesamt informiert. Von dort habe er am 21. März die Auskunft erhalten, dass sich dieser „Einzelhinweis“ auch „durch breit angelegt operative Maßnahmen“ nicht habe erhärten lassen.

Information zunächst nicht weitergegeben

Müller berichtete weiter, am 24. Mai 2017 habe der V-Mann seine Angaben präzisiert. Wiederum vom Hörensagen habe er jetzt berichtet, Amri habe den Anschlag verübt, um sich zu bereichern. Er sei von der Großfamilie mit einer Tasche voll Geld und dem Fluchtfahrzeug entlohnt worden. Er habe, betonte Müller, diesen Angaben von vornherein keinerlei Glaubwürdigkeit beigemessen. Bekanntlich sei Amri ein fanatischer Islamist und mit Sicherheit nicht pekuniär motiviert gewesen.

Nicht nachvollziehbar sei auch das Motiv der Großfamilie gewesen, die im Berliner kriminellen Milieu erfolgreich im Geschäft gewesen sei und mit der Unterstützung eines Anschlags nichts zu gewinnen hatte. Am 19. Juni 2017, so Müller, habe er eine Aktennotiz zu dem Vorgang abgezeichnet, sich aber entschlossen, die Information diesmal zunächst nicht weiterzugeben. Er müsse heute sagen, dass das wohl ein Fehler war: „Aus heutiger Sicht würde ich nicht zuletzt wegen des vielen Ärgers anders entscheiden.“

Für Müller begann der Ärger am 15. August 2019, als ihn der frühere V-Mann-Führer T. S. zu einem Gespräch aufgesucht habe. S. habe sich über seine Arbeitssituation beklagt und sei nochmals auf den Fall Amri zu sprechen gekommen. Auf Müllers Frage, was er jetzt von ihm erwarte, habe er geantwortet: „Nichts.“ Er sei mit seiner Beschwerde schließlich beim Generalbundesanwalt gelandet. (wid/10.12.2020)

Liste der geladenen Zeugen

  • A. B., Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern (nichtöffentlich)
  • Torsten Akmann, Staatssekretär, Senatsverwaltung für Inneres und Sport des Landes Berlin
  • Dr. Peter Frank, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof
  • Reinhard Müller, Ministerialdirigent, Landesamt für Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommern
  • Thomas Lenz, Staatssekretär, Ministerium für Inneres und Europa Mecklenburg-Vorpommern

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