Parlament

Andreas Nick: Russ­land muss sich schwie­ri­gen Fragen zu Nawalny stellen

Ein graumelierter Mann mit Anzug und Brille steht am Rednerpult des Bundestages und spricht.

Andreas Nick, CDU-Abgeordneter aus dem Wahlkreis Montabaur, leitet die Bundestagsdelegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates. (DBT/Melde)

Die Türkei, Polen und Russland standen im Fokus der ersten Sitzungswoche der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in diesem Jahr vom 25. bis 29. Januar 2021. Eine Aktualitätsdebatte war dem Fall Alexej Nawalny gewidmet. „Die russische Seite wird sich schwierigen Fragen stellen müssen“, sagt Dr. Andreas Nick (CDU/CSU), Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates im Interview. „Weit über den Fall Nawalny hinaus erfüllt die Russische Föderation viele ihrer Verpflichtungen als Mitglied des Europarates nicht.“ Die Delegierten konnten sowohl vor Ort im Plenargebäude „Palais de l’ Europe“ in Straßburg als auch digital zugeschaltet aus ihren Heimatländern an den Sitzungen teilnehmen. Das Interview im Wortlaut:

Herr Dr. Nick, Sie und Ihr Stellvertreter Frank Schwabe hatten vergangenen Sommer gefordert, die Geschäftsordnung der Versammlung so zu ändern, dass die Organisation auch in andauernden Pandemie-Zeiten und bei eingeschränktem Sitzungsbetrieb ihren Aufgaben gerecht werden kann. Nun hat die erste Sitzungswoche seit einem Jahr in „hybrider“ Form stattgefunden. Wie ist es gelaufen und was waren dabei die Herausforderungen?

Die erste hybride Sitzungswoche verlief wirklich reibungslos, alle Beteiligten haben in der Pandemie bislang einen tollen Job gemacht. Denn auch zuvor war die Parlamentarische Versammlung jederzeit handlungsfähig: seit Beginn der Pandemie fanden online 14 Präsidiumssitzungen, 16 Sitzungen des Ständigen Ausschusses und insgesamt 89 Ausschusssitzungen statt. Diese Woche wurde Despina Chatzivassiliou-Tsovilis als erste Frau zur Generalsekretärin der Parlamentarischen Versammlung gewählt. Neuer Stellvertretender Generalsekretär des Europarates ist Bjørn Berge. Neben der Konstituierung des Präsidiums und der Ausschüsse haben wir auch den neuen griechischen und Schweizer Richter für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewählt. Damit hat die Parlamentarische Versammlung auch den Nachweis erbracht, dass sie ihre statuarischen Aufgaben – insbesondere die notwendigen Wahlen – in hybrider Form wahrnehmen kann.

Sind Sie nach Straßburg gereist?

Ja, denn auch ein hybrides Format erfordert ein Mindestmaß an Präsenz. Wir haben uns deshalb als Delegation gemeinsam mit dem Bundestagspräsidenten und dem Ältestenrat auf einen Kompromiss verständigt: Kollegen, die als Vorsitzende einer Fraktion oder eines Ausschusses beziehungsweise als Vizepräsident Leitungsfunktionen vor Ort wahrzunehmen hatten, durften nach Straßburg reisen. Die übrigen Delegationsmitglieder haben digital aus Berlin teilgenommen, bei den Wahlen lag die Beteiligung der deutschen Delegation sogar bei 100 Prozent. Die Hygienemaßnahmen und Schutzvorkehrungen im Palais de l’ Europe waren außerordentlich hoch, mit Schnelltests beim erstmaligen Betreten und PCR-Tests vor der Rückreise.

Wären elektronische Abstimmungen nicht auch etwas für die nationalen Parlamente wie den Deutschen Bundestag?

Dieser Vorschlag wurde in der Vergangenheit schon diskutiert. Im Europäischen Parlament und vielen nationalen Parlamenten sind elektronische Abstimmungen seit Langem üblich. Hier hat der Bundestag sicherlich noch Nachholbedarf. Persönlich kann ich dem Abstimmungsverfahren im Europarat viel abgewinnen. Insbesondere bei namentlichen Abstimmungen kommt man damit schnell zu genauen Ergebnissen. Und gerade jetzt in der Pandemie hat sich auch gezeigt, dass das System des Europarates einer Parlamentssitzung im hybriden Format bestens standhält.

Noch ein Wort zur Pandemie: Thema der Versammlung war auch, wie im Zuge der Impfkampagne die Rückkehr zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben gestaltet werden soll. Monatelang wird dabei eine wachsende Zahl Geimpfter der Gruppe Noch-nicht-Geimpfter gegenüberstehen. Sollte man, wie kürzlich von Bundesminister Heiko Maas angeregt, über abgestufte Rechte nachdenken?

Vor allen Dingen reden wir hier über Grundrechte. Diese sind weder „Privilegien“ noch teilbar. Die durch die Pandemie bestehenden Freiheitsbeschränkungen sind nur gerechtfertigt, solange die Gefährdung einer Infektionsübertragung besteht. Noch wissen wir aber gar nicht, ob Geimpfte zwar selbst vor Erkrankung geschützt sind, aber das Virus dennoch weitertragen können. Eine Diskussion über die konkrete Rücknahme oder Differenzierung von Schutzmaßnahmen ist daher verfrüht. Sie muss am Ende auch praktikabel umsetzbar sein. Allerdings haben wir uns in der Versammlung über die ethischen und rechtlichen Rahmenparameter im Hinblick auf das Ausrollen der Impfungen ausgetauscht. Dabei sind verschiedene Blickwinkel deutlich geworden – sowohl aus den Mitgliedstaaten als auch seitens der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Die Versammlung hat nun das neue Verfahren zum Umgang mit Mitgliedsländern, die massiv gegen die Regeln des Europarates verstoßen, beschlossen. Was bringt die Neuformulierung?

Es ist uns seitens der Parlamentarischen Versammlung endlich gelungen, die notwendigen Regeländerungen für das sogenannte „Joint-Procedure“ in Kraft zu setzen. Damit haben wir ein wichtiges Instrument geschaffen, um als Parlamentarische Versammlung gemeinsam mit dem Ministerkomitee auf einzelne Mitgliedstaaten maximalen Druck auszuüben, um sie zur Beachtung der Grundwerte und Regeln des Europarates zu bewegen. Der neue Mechanismus ist keine Abkürzung auf dem Weg zu Sanktionen. Er schafft aber klare Verantwortlichkeiten zwischen Ministerkomitee und Parlamentarischer Versammlung. Und er stärkt damit unsere Rolle als Parlamentarier. Die künftige Glaubwürdigkeit des Europarates wird sich auch am konsequenten und zielgerichteten Einsatz seines gesamten Instrumentariums bemessen.

Die Zahl der Länder, die betroffen sein könnten, beispielsweise aufgrund von Defiziten bei der Rechtsstaatlichkeit, hat nicht abgenommen. Welchen Ländern gegenüber könnte das neue Instrument zum Einsatz kommen?

Am besten wäre es natürlich, wenn wir gar nicht erst in die Situation kämen, weil alle Mitgliedstaaten die elementaren Verpflichtungen erfüllen, die sich aus der Mitgliedschaft im Europarat ergeben. Diesem Ziel dient ja auch das Monitoring-Verfahren der Parlamentarischen Versammlung. Die Einhaltung und Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist hier der Lackmus-Test. Das ist keine Optionalität, sondern eine Verpflichtung als Mitgliedstaat des Europarates. Der deutsche Vorsitz im Ministerkomitee hat diese Frage daher zu einem Schwerpunktthema gemacht. Drei Länder standen diese Woche immer wieder im Fokus: Die Türkei mit den Fällen der Regierungskritiker Osman Kavala und Selahattin Demirtaş, Polen mit dem Angriff auf die Unabhängigkeit der Justiz und natürlich Russland mit seiner Verfassungsänderung, aber auch dem aktuellen Fall Nawalny.

Nach der Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hat die Diskussion über die Russische Föderation großen Raum in der Versammlung eingenommen. Was für Worte haben die Abgeordneten gefunden? Welche Reaktionen wird es geben?

In einer Aktualitätsdebatte haben wir sehr deutlich gemacht, dass sowohl Nawalnys Vergiftung, seine Verhaftung bei der Rückkehr nach Russland wie auch die massenhaften Verhaftungen bei den anschließenden Protesten keine nationalen Angelegenheiten sind. Der Fall ist auch keine bilaterale deutsch-russische Frage. All seine Aspekte haben völkerrechtliche Dimensionen, die auch den Europarat betreffen. Auch Außenminister Heiko Maas hat sich als Vorsitzender des Ministerkomitees dazu vor der Versammlung sehr deutlich geäußert. Der französische Kollege Jacques Maire hat als zuständiger Berichterstatter der Versammlung für die Aufklärung des Nervengiftanschlags auf Nawalny breite Rückendeckung erfahren. In der April-Sitzung wird er auch zu den Vorkommnissen um die Verhaftung und die Proteste berichten.

Die erneute Anfechtung der Akkreditierung der russischen Delegation hat die Versammlung aber wiederum mehrheitlich zurückgewiesen. Wie schätzen Sie diese Entscheidung ein?

Die Anfechtung wurde vor allem von Kollegen aus der Ukraine, Georgien, Polen und dem Baltikum beantragt. Aus der besonderen historischen Erfahrung und Betroffenheit in aktuellen Konflikten dieser Länder ein Stück weit verständlich. Die große Mehrheit der Versammlung war aber erneut der Auffassung, dass wir uns mit Russland nicht vorrangig über Verfahrensfragen auseinandersetzen sollten. Eine Entscheidung von solch großer Tragweite sollten wir auch nicht in einer Hauruck-Aktion innerhalb von drei Tagen treffen.

Wie geht es nun weiter?

Der Druck nimmt zu. In den Debatten der letzten Woche standen nicht mehr nur die externen Konflikte im Mittelpunkt, sondern auch zunehmend die innenpolitische Situation in Russland. Weit über den Fall Nawalny hinaus erfüllt die Russische Föderation viele ihrer Verpflichtungen als Mitglied des Europarates nicht. Die traurige Wahrheit ist: Die Verhältnisse im Hinblick auf die Wahrung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten verschlechtern sich zunehmend. Das hat der Bericht des österreichischen Kollegen Schennach präzise benannt. Die russische Seite wird sich schwierigen Fragen stellen müssen: Spätestens, wenn der Kollege Jacques Maire seinen Bericht zum Fall Nawalny präsentiert oder die Kollegen Axel Schäfer und Ria Omen-Ruijten den ersten vollständigen Monitoring-Bericht zu Russland seit 2016 vorlegen.

Bereits zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren hat sich der Europarat äußerst kritisch zum Thema „Ethnic profiling“ bei der Polizei in Deutschland geäußert. Darüber haben Sie auch am letzten Sitzungstag debattiert. Sollten die Vorwürfe auf deutscher Seite untersucht werden?

Im Kern geht es bei der Frage des Ethnic Profiling darum, ob Polizistinnen und Polizisten ihre Arbeit im Einklang mit geltenden Grundrechten und ohne Diskriminierung ausführen. Nur so kann das bestehende hohe Vertrauen zwischen Bevölkerung und Polizei gestärkt werden. Das ist aber kein spezifisch deutsches Thema. Ich bin davon überzeugt, dass der weit überwiegende Teil unserer Beamten in Deutschland seine Aufgaben korrekt und im Sinne ihres Auftrags erfüllt. Eine unabhängige Studie, die zum Beispiel prüft, inwiefern einzelne dienstliche Vorschriften für Polizisten möglicherweise derartiges Ethnic Profiling begünstigen, könnte aber dazu beitragen, noch bestehende Probleme aufzudecken und ein noch stärkeres Bewusstsein und mehr Handlungssicherheit für unsere Polizeibeamten zu schaffen.

70 Jahre gehört die Bundesrepublik nun dem Europarat an. Passend zum Jubiläum hat Deutschland im ersten Halbjahr 2021 den Vorsitz inne. Was haben Sie sich als Parlamentarier für dieses Jahr in der Versammlung für Ziele gesetzt?

Aufgrund der Pandemie können leider viele Teile des Rahmenprogramms des Vorsitzes nicht stattfinden. Das betrifft zum Beispiel die Sitzung des Ständigen Ausschusses in Berlin, aber auch das umfassende Kulturprogramm, das die Vorsitzmonate normalerweise begleitet. Die politische Arbeit geht aber digital weiter – auch zu Schwerpunktthemen wie dem Schutz von Minderheiten oder den Auswirkungen der Nutzung von Künstlicher Intelligenz auf den Schutz der Menschenrechte. Der seit Langem angestrebte Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention hätte eine hohe symbolische und praktische Bedeutung. Dass er endlich gelingt, ist mir institutionell, aber auch persönlich ein großes Anliegen. Es ist gut, dass die Bundesregierung im Ministerkomitee die Voraussetzungen dafür vorantreibt. (ll/29.01.2021)

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