Christine Lambrecht: Justizministerium hat alle Aufgaben wahrgenommen
Der 3. Untersuchungsausschuss („Wirecard“) hat am Mittwoch, 21. April 2021, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) befragt. Dabei ging es vor allem um die Rolle der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), die den Bilanzbetrug der Wirecard AG nicht aufdeckte und deren Verbindung zum Bundesministerium der Justiz.
„Auf Augenhöhe mit den zu kontrollierenden Unternehmen“
Entsprechend dem vom Deutschen Bundestag 2004 einstimmig beschlossenen Bilanzkontrollgesetz führe die 2005 vom Finanzministerium zertifizierte privatrechtlich organisierte DPR seit 2005 stichprobenartig Bilanzkontrollverfahren bei Kapitalmarktunternehmen auf der ersten Stufe eines zweitstufigen Verfahrens durch, erläuterte Lambrecht. Auf der zweiten Stufe werde die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als Teil der hoheitlichen Verwaltung tätig.
Für dieses Verfahren habe man sich in Reaktion auf die großen Unternehmensskandale vom Anfang der 2000er-Jahre entschieden, so die Ministerin, und erinnerte daran, dass es in Deutschland vorher gar keine Bilanzkontrolle gegeben habe. Man sei damals der Idee der Selbstregulierung der Wirtschaft gefolgt, habe eine mit hochkarätigen Experten aus der Wirtschaft besetzte Einrichtung geschaffen, mit Leuten, die sich auf Augenhöhe mit den zu kontrollierenden Unternehmen bewegten und wüssten, wo sie bei der Prüfung hinschauen müssen. Unstimmigkeiten sollten zunächst auf Privatrecht-Ebene gelöst werden.
„Zweistufiges Verfahren stieß an seine Grenzen“
Noch 2017 habe die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA das deutsche Verfahren als vorbildlich bezeichnet. 1.500 Prüfverfahren habe die DPR bis heute durchgeführt und in einzelnen Fällen Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft gestellt. Den Finanzbetrug bei Wirecard jedoch leider nicht entdeckt. „Da ist das zweistufige Verfahren ist an seine Grenzen gestoßen.“ Für Bilanzbetrug, kriminelle Strukturen, kriminelle Energie sei die DPR auch nicht zuständig, sondern lediglich für die Bilanzkontrolle und gegebenenfalls die Feststellung von Fehlern in der Rechnungslegung.
Ihr Haus, das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV), sei selbst nicht Teil des Enforcement-Geschehens, habe keinen Einblick in Einzelfälle, erläuterte Lambrecht. Man übe hier keine staatliche Aufsicht aus, es gebe weder ein Weisungs- noch ein Informationsrecht seitens des Ministeriums. Informationspflichten der DPR bestünden ausschließlich gegenüber der BaFin. Die Beschäftigten der DPR unterlägen sogar einer strafrechtlich bewehrten Verschwiegenheitspflicht.
„Finanzkontrolle wird künftig staatlich-hoheitlich organisiert“
Das sei „das Konstrukt, wie es der Gesetzgeber 2004 einstimmig beschlossen hat“. Daher habe das BMJV auch nicht über das laufend Prüfverfahren gegen die Wirecard AG informiert werden können. Im Zuge der Wirecard-Krise habe man sich das zweistufige Prüfkonstrukt dann genauer angeschaut.
Um Rechtssicherheit herzustellen und politischen Handlungsspielraum für eine Neuordnung zu bekommen, habe ihr Haus den Vertrag mit der DPR am 29. Juli 2020 im Rahmen einer ordentlichen Kündigung aufgelöst. Dieser laufe nun noch bis Ende 2021. Dies sei ausdrücklich nicht als Schuldvorwurf gegen die DPR zu verstehen. Die Bilanzkontrolle werde im Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz neu geregelt. Man habe nun andere Vorstellungen und werde die Finanzkontrolle künftig staatlich-hoheitlich organisieren.
Auseinanderfallen von Dienstvertrag und Verfahrensordnung
Die Ausschussmitglieder konfrontierten die Ministerin mit der Frage wie sich die vom Gesetzgeber geforderte personelle Unabhängigkeit der DPR-Prüfer damit vertragen habe, dass der Leiter der Prüfstelle, Prof. Dr. Edgar Ernst, bis zuletzt drei Aufsichtsratsmandate bei den Unternehmen Metro, Tui und Vonovia inne hatte.
Eine Zeitlang habe man es ja mit einem Auseinanderfallen von Dienstvertrag und Verfahrensordnung der DPR zu tun gehabt in Bezug auf die Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten der DPR-Spitze. Eine Verschärfung der Regeln sei zunächst nicht auf den laufenden Vertrag des DPR-Präsidenten angewendet worden. Und dieser habe noch im Februar 2017 ein neues Aufsichtsratsmandat bei der Metro übernommen.
Verschärfte Verfahrensordnung ab 2019
Lambrecht klärte auf, dass der damals laufende Dienstvertrag des Prüf-Chefs dies durchaus erlaubt habe. Die 2016 novellierte Verfahrensordnung der DPR habe dann ausgeschlossen, neue Aufsichtsratsmandate anzunehmen, jedoch auf zukünftige Dienstverträge gezielt und zudem Ausnahmen für die DPR-Spitze vorgesehen. Und: „Uns ist dann klar geworden: Da warten wir nicht, bis jemand neues kommt“, sondern man fordere das bereits vom aktuellen Präsidenten an, wenn es zu dessen Vertragsverlängerung komme.
„Das wird nur verlängert, wenn die Verfahrensordnung auch auf den Präsidenten angewendet wird“, habe man eine klare Linie gezogen. Ab 2019 habe dann die verschärfte Verfahrensordnung auch im Dienstvertrag von Ernst Anwendung gefunden. Aber bis dahin habe der laufende Dienstvertrag eben rechtlich Vorrang gehabt, so die Rechtsauffassung in ihrem Haus.
Höchstens drei Aufsichtsratsmandate
Bei bestehenden Aufsichtsratsmandaten könne der für die DPR zuständige Nominierungsausschuss Ausnahmen zulassen. Demnach dürften der Präsident und sein Vize jeweils höchstens drei Aufsichtsratsmandate behalten, bei Ernst eben die von Metro, Tui und Vonovia. Es dürften jedoch keine neuen Engagements übernommen werden.
„Die drei bestehenden Aufsichtsratsmandate durfte er behalten“, monierte Matthias Hauer (CDU/CSU). „Das hört sich an wie ein Placebo: Nach außen verschärfen wir die Regeln und nach innen bleibt alles so wie es ist.“ Hauer brachte auch die „nicht besonders tief gehenden Regelungen“ des Anerkennungsvertrags zur Sprache, der das Verhältnis zwischen DPR, BaFin und BMJV zum Gegenstand hat. Eine in diesem Papier vorgesehene Präzisierung der Arbeitsbeziehungen durch eine weitere gesonderte Vereinbarung zwischen Behörde, Prüfstelle und Ministerien habe es wohl auch nie gegeben, stellte der CDU-Abgeordnete fest.
„Einziges Druckmittel war die Vertragsverlängerung“
„Das zugrunde liegende Gesetz stellt keine schärferen Anforderungen“, machte Lambrecht klar, die das Amt erst seit knapp zwei Jahren bekleidet. „Und jetzt soll ja alles neu geregelt werden.“ Die Ministerin unterstrich, dass es sich bei der DPR um eine unabhängige, privatwirtschaftlich organisierte Stelle handele, die dem Zeitgeist von 2004/05 entsprechend unabhängig, mit Experten aus der Wirtschaft ausgestattet, auf Kooperation ausgerichtet handeln solle. Man müsse bedenken: „Vorher gab es nichts“ dergleichen.
Die Unabhängigkeit bedeute auch, dass es seitens des Ministeriums weder eine Rechts- noch eine Fachaufsicht gebe und somit auch kein „Eingreifen“ oder „Durchgreifen“. Es sei eine unabhängige Stelle. „Einziges Druckmittel“, um auf Veränderungen hinzuwirken, „war die Vertragsverlängerung.“ Den Vertrag habe sie ja gekündet und sich so maximale Handlungsfreiheit verschafft.
„Der gesetzliche Auftrag wurde erfüllt“
Bis zum Fall Wirecard sei seitens des BMJV das zweistufige Prüfverfahren nicht infrage gestellt worden, sagte Lambrecht. Seitens der BaFin habe es aber doch jahrelang Beschwerden über die Prüfstelle gegeben, erinnerte Ausschussvorsitzender Kay Gottschalk (AfD) an die Aussagen von Dr. Hannelore Lausch, bei der BaFin im Untersuchungszeitraum zuständige Abteilungspräsidentin für Grundsatzfragen der Wertpapieraufsicht, vor dem Gremium.
Diese habe der Prüfstelle Ineffizienz vorgeworfen. Auch die Verlangensprüfung bei Wirecard habe sehr lange gedauert. Die in den jährlichen Berichteten angegebene durchschnittliche Verfahrensdauer von zuletzt acht Monaten komme ihr „nicht überdurchschnittlich lange“ vor, entgegnete Lambrecht. „Das hat keinen Anlass gegeben, darüber zu stolpern.“
„Das BMJV hat alle Aufgaben wahrgenommen, die wir haben. Der gesetzliche Auftrag wurde erfüllt“, resümierte die Ministerin. Darüber hinaus seien bis zum Fall Wirecard keine Initiativen ergriffen worden, um die Dinge zur verändern. Weder von ihrem Ministerium und auch nicht aus den Reihen des Gesetzgebers, spielte Lambrecht den Ball an die Abgeordneten zurück.
In den Juni-Tagen des Jahres 2020
Dr. Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen (BMF) und dort zuständig für die Aufgabenbereiche Finanzmarktpolitik und Europapolitik, war der zweite Zeuge, den die Abgeordneten in ihrer öffentlichen Sitzung befragten.
In den Juni-Tagen des Jahres 2020, als sich die Krise um Wirecard zuspitzte, sei er im Ministerium noch mit der drohenden Insolvenz der Lufthansa beschäftigt gewesen. Das kaum kalkulierbare Pandemiegeschehen habe zudem die Finanzmärkte belastet. Man habe das Neun-Milliarden-Euro-Rettungspaket für Lufthansa auf den Weg gebracht. Mit dem Fall Wirecard habe dann die Gefahr einer Insolvenz eines weiteren Dax-Unternehmens bestanden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Finanz- und Bankenkrise 2008 habe man von der Möglichkeit ausgehen müssen, dass sich auch die Realwirtschaft ansteckt.
Gespräche mit dem kreditgebenden Bankenkonsortium
Innerhalb kürzester Zeit habe er sich intensiv über den Zustand von Wirecard informiert, Stimmen aus der Wirtschaft gehört, darunter Finanzunternehmen wie Cerberus und die Deutsche Bank, die sich über eine Beteiligung an einer Lösung für eine möglicherweise insolvente Wirecard AG Gedanken gemacht hätten. Es habe zudem Gespräche mit dem Wirecard kreditgebenden Bankenkonsortium, zu dem auch die Commerzbank gehörte, gegeben. Dabei konnten sich die Banken auf eine Verlängerung des Konsortialkredits, ein „Stillhalteabkommen“, einigen. Zunächst sei es einfach darum gegangen, Zeit zu gewinnen, um eine ungeordnete Insolvenz zu vermeiden, sich einen Überblick zu verschaffen und die Märkte zu beruhigen.
Die Privatwirtschaft habe sich in diesen unruhigen Juni-Tagen 2020 intensiv mit Wirecard beschäftigt. Man habe sich gefragt: Was für erhaltenswerte Bestandteile Wirecard umfasse. Wie die aktuellen Verkäufe des Insolvenzverwalters zeigten, sei da schon etwas Verwertbares vorhanden gewesen. Als abschreckend auf potenzielle Käufer aber hätten sich schon damals die erheblichen Rechtsrisiken und die nur schwer überschaubare komplexe Konzernstruktur erwiesen.
„Alle Möglichkeiten eines Eingriffs schnell verworfen“
Er sei im BMF mit der Krisenreaktion befasst gewesen, habe den Fall Wirecard kurz und intensiv geprüft, habe dann aber „alle Möglichkeiten eines Eingriffs schnell verworfen“ und die „Insolvenz nicht mehr aufgehalten.“ Er habe auch nicht etwa Banken wie die staatliche KfW IPEX gedrängt, Kredite zu verlängern.
Kukies schilderte den Mitgliedern des Untersuchungsausschusses sein Handeln als Staatssekretär im BMF, seine Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Bundesminister Olaf Scholz und den involvierten Behörden.
Das zweistufige Bilanzprüfverfahren der BaFin
Ein so hohes an den Tag gelegtes Ausmaß krimineller Energie wie im Fall Wirecard sei für staatliche Institutionen immer eine große Herausforderung. Es sei eine dauernde Verpflichtung daran zu arbeiten, künftig solche kriminellen Akte zu verhindern. Dem dienten die Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses ebenso wie die Bemühungen seines Hauses, aber auch das neue Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz und die Neuaufstellung der BaFin.
Der Zeuge rief in Erinnerung, dass der Vorschlag, zu einem einstufigen Bilanzprüfverfahren und zu einer Stärkung der BaFin zu kommen, vom BMF ausgegangen sei. Er verteidigte allerdings die Entscheidung der BaFin, sich auch im Fall von Wirecard an das bis heute geltende zweistufige Verfahren gehalten zu haben, als die Behörde die Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung um eine Verlangensprüfung ersuchte. Der Gesetzgeber habe 2004 festgelegt, dass auch in Fällen von Finanzmanipulation das zweistufige Bilanzprüfungsverfahren gelten solle.
„Wir hatten keine Zweifel, dass das läuft“
Die Abgeordneten bewegte die Frage, ob die BaFin nicht das Recht gehabt habe, jederzeit das Verfahren an sich zu ziehen. Genug Experten betonten, dass auch die alte Regelung dies bereits hergegeben hätte. Es sei doch nicht Ziel des Gesetzgebers gewesen, dass die BaFin untätig herum sitzen müsse, solange die DPR prüft, sagte der Ausschussvorsitzende Gottschalk.
Man habe damals auch keine Anhaltspunkte gehabt, dass die DPR zu langsam prüft. „Wir hatten keine Zweifel, dass das läuft“, erinnerte sich Kukies. Man habe ja zudem die Verlangensprüfung, die sich zunächst nur auf die Vorfälle bei einer Wirecard-Tochter in Singapur bezog, dann massiv ausgeweitet. Es sei klar gewesen, dass das die normale durchschnittliche Verfahrensdauer von acht bis neun Monaten überschreiten würde.
„Leider kaum kritische Hinweise aus der BaFin“
Im Nachhinein wisse man allerdings mehr darüber, was alles schiefgelaufen sei. Im Mai 2020, nachdem am 28. April das von Wirecard beauftragte KPMG-Gutachten erschienen war, und bereits Zusammenfassungen erschienen, die dieses aus Marktperspektive analysierten, sei offenbar geworden: „Die DPR war äußerst langsam.“
Auch BaFin-Präsident Hufeld sei das zu langsam gegangen und BaFin-Abteilungspräsidentin Lausch habe sich seit 2014 über die Zusammenarbeit mit der DPR beschwert, so Gottschalk. „Warum haben Sie dann nicht früher das Enforcement-Verfahren auf den Prüfstand gestellt?“
Kritische Hinweise aus der BaFin habe es leider kaum gegeben, außer solche, die sich auf prozedurale Fragen bezogen hätten, entgegnete Kukies. Die kritische Berichterstattung der Fachpresse habe allerdings bereits 2015 vieles schon thematisiert, über das man später diskutiert habe. „Die Indikationen lagen in Rohform schon vor. Aber die waren noch nicht hinreichend konkret.“ (ll/22.04.2021)
Liste der geladenen Zeugen
- Christine Lambrecht (SPD), Bundesministerin für Justiz und Verbraucherschutz
- Dr. Jörg Kukies, Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen ist zuständig für die Aufgabenbereiche Finanzmarktpolitik und Europapolitik