Vor 60 Jahren: Bundestag beschließt Bundessozialhilfegesetz
Vor 60 Jahren, am Donnerstag, 4. Mai 1961, verabschiedete der Deutsche Bundestag das Bundessozialhilfegesetz und regelte damit das bisherige Fürsorge- und Armenrecht neu. Mit dem neuen Gesetz sollte das geltende Leistungsrecht der öffentlichen Fürsorge, das in seinen grundsätzlichen Bestimmungen seit 1924 galt, sowohl an die Entwicklung der allgemeinen sozialen Verhältnisse angepasst, als auch der besonderen Lage im Fürsorgewesen gerecht werden. Die bis dahin in den geltenden Bestimmungen des Fürsorgerechts verwendete Bezeichnung „öffentliche Fürsorge“ wurde durch den Begriff „Sozialhilfe“ ersetzt.
Abschied vom Armenwesen
Das Bundessozialhilfegesetz stellte das Recht der öffentlichen Fürsorge auf eine neue gesetzliche Grundlage. Grund für die Reform war unter anderem, dass die „bestehenden Fürsorgevorschriften der veränderten sozialen Wirklichkeit nicht mehr“ entsprächen, wie Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU, 1910–1989) ein Jahr zuvor bei seiner Vorstellung des Gesetzentwurfs in der ersten Lesung im Bundestag am 4. Mai 1960 ausgeführt hatte. „Wenn die Bundesregierung das Wort “Öffentliche Fürsorge„ nicht übernommen hat, so geschah dies vor allem aus dem Wunsch heraus, den endgültigen Abschied vom Armenwesen vergangener Zeiten deutlich zu machen und um durch die gewählte Bezeichnung den neuen Geist und den neuen Inhalt des Gesetzes zum Ausdruck zu bringen.“
Der Begriff „öffentliche Fürsorge“ sei in der Öffentlichkeit noch nicht losgelöst von der Vorstellung der Armenfürsorge früherer Zeiten. Zudem würde damit überwiegend die richtsatzmäßige Unterstützung für den Lebensunterhalt gemeint, während die eigentliche Bedeutung des neuen Gesetzes auf dem Gebiet der Hilfe in besonderen Lebenslagen liege und deren Leistungen im damaligen Fürsorgerecht häufig noch nicht ausdrücklich aufgeführt gewesen seien.
„Denken Sie an sieche oder sonst pflegebedürftige Personen, denen mit der Zahlung einer Geldsumme allein nicht gedient ist. Denken Sie weiter an Personen aller Altersgruppen, die körperbehindert sind, blind, sprach- oder hörgeschädigt sind. Lassen Sie mich hier auch alte Menschen nennen, die ohne persönliche Betreuung völlig vereinsamen.“
Rechtsanspruch auf Pflichtleistungen der Fürsorge
Die Vorarbeiten zu diesem Gesetz hatten bereits 1955 unter Federführung des Bundesinnenministeriums begonnen. Bis der Innenminister stolz verkünden konnte: „Ich habe heute die Ehre, Ihnen, meine Damen und Herren, diesen Entwurf eines Bundessozialhilfegesetzes zu unterbreiten“, waren fünf Jahre vergangen. „Der Entwurf hat zwei Ziele: er soll das Recht der öffentlichen Fürsorge auf neue gesetzliche Grundlagen stellen und es der heutigen sozialen Situation anpassen“, erklärte er. Außerdem, ergänzte Schröder, soll das gesamte Leistungsrecht der öffentlichen Fürsorge in einem Gesetz zusammengeführt werden und daneben die „Beseitigung der schon bestehenden und die Verhütung einer weiteren Zersplitterung des Fürsorgerechts bezwecken“.
Das Bundessozialhilfegesetz enthielt in Paragraf 4 nun ausdrücklich den durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits in einem Urteil am 24. Juni 1954 aufgestellten Grundsatz, dass auf die Pflichtleistungen der Fürsorge ein Rechtsanspruch bestehe. „Auf Sozialleistung besteht ein Anspruch, soweit dieses Gesetz bestimmt, dass die Hilfe zu gewähren ist.“
Zur Begründung führte der Innenminister aus: „Nach dem Grundgesetz ist die Bundesrepublik ein sozialer Rechtsstaat. Als solcher kann sie an der Not ihrer Bürger nicht vorbeigehen.“ Und ergänzte: „Die Sozialhilfe soll es dem Empfänger der Hilfe möglich machen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.“ Ein Rechtsanspruch bestünde aber nur dann, „wenn der Hilfesuchende sich nicht selbst helfen kann und wenn er die Hilfe auch von anderen nicht erhält“, betonte er.
Streitpunkt Subsidiaritätsprinzip
Im Grundsatz herrschte bei den meisten Abgeordneten Einigkeit über die mit dem Gesetzentwurf verfolgten Ziele. Verschiedene Auffassungen ergaben sich jedoch bezüglich der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Prinzipien der Subsidiarität bezüglich staatlicher Institutionen. Die staatliche Sozialhilfe sollte nach dem Gesetzentwurf nur dann gewährt werden, wenn alle anderen Hilfen versagen. Damit waren nicht nur die Selbsthilfe oder die Hilfe von Unterhaltspflichtigen gemeint, sondern auch Hilfen von anderen Sozialleistungsträgern wie den Wohlfahrtsverbänden. Wo Verbände bereits Hilfen anbieten, sollte der Staat nur in den Bereichen tätig werden, in denen Hilfen fehlen oder nicht angeboten werden.
Die Opposition beanstandete vor allem die Verpflichtung der Träger der Sozialhilfe, die Verbände der freien Wohlfahrtspflege in ihrer Tätigkeit auf dem Gebiet der Sozialhilfe angemessen zu unterstützen, sowie die Bestimmungen über das Zurücktreten der Träger der Sozialhilfe gegenüber den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege bei der Durchführung von Hilfemaßnahmen und bei dem Ausbau und der Schaffung von Einrichtungen.
Opposition: Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung
Nicht nur Sozialdemokraten wie die Abgeordnete Helene Wessel (1898–1969) sahen darin eine Abkehr von dem der geltenden Regelung zugrunde liegenden Grundsatz des partnerschaftlichen Verhältnisses zwischen den Fürsorgeverbänden und den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege; auch die Vertreter der Freien Demokraten teilten diese Auffassung. Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Jan Eilers (1909–2000) wies zudem darauf hin, dass diese Bestimmungen ein dem Grundgesetz widersprechender Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung seien und damit in das Recht der Gemeinden eingegriffen werde, alle Angelegenheiten in eigener Verantwortung zu regeln.
Die Unionsmehrheit hingegen begrüßte diese Bestimmungen, weil durch sie der Wirkungsbereich der freien Wohlfahrtspflege gegenüber den Trägern der Sozialhilfe im notwendigen Umfange gesichert werde. Auch der CDU-Abgeordnete Dr. Rainer Barzel (1924–2006) unterstrich die Überzeugung, dass die vorgesehenen Bestimmungen nicht im Widerspruch zu den Vorschriften des Grundgesetzes stünden.
Zahlreiche Änderungsanträge
Nach Ansicht der Opposition war, wie es der Sozialdemokrat Werner Jacobi (1907–1970) ausdrückte, hier noch einiges zu klären. Doch auch zwei Tage heftiger Debatten, am 3. und 4. Mai 1961, begleitet von zahlreichen Änderungsanträgen aus den Reihen von SPD und FDP, konnten in diesen Punkten keinen Kompromiss herbeiführen. Beide Fraktionen lehnten daher den Gesetzentwurf ab. Am Ende setzte sich die Union mit ihrer Regierungsmehrheit durch. Ein Hammelsprung bei der Abstimmung ergab 193 Stimmen für den Gesetzentwurf. 150 Abgeordnete stimmten dagegen, drei enthielten sich der Stimme.
Mit der Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes entwickelte sich die Bundesrepublik vom Fürsorgestaat zum modernen Sozialstaat. Mit diesem Gesetz wurden soziale Bürgerrechte geschaffen. Die Bürger sollten darauf vertrauen können, dass ihnen diese Hilfe auch zusteht. Zum ersten Mal gab es damit einen durchsetzbaren, einklagbaren Rechtsanspruch auf Existenzsicherung.
Hilfe zum Lebensunterhalt und in besonderen Lebenslagen
Die staatliche Sozialhilfe wurde als Hilfe zum Lebensunterhalt oder als Hilfe in besonderen Lebenslagen (unter anderem Aufbau oder Sicherung der Lebensgrundlage, Ausbildungs-, Gesundheits-, Kranken-, Eingliederungs-, Tuberkulose-, Blinden-, Pflege-, Altenhilfe) gewährt und sollte damit ein menschenwürdiges Existenzminimum in persönlichen Notfällen nach den Besonderheiten des Einzelfalls und ohne Rücksicht auf die Ursache der Bedürftigkeit sicherstellen.
Die Sozialhilfe oblag den Kommunen und übergeordnet den Wohlfahrtsverbänden und Sozialämtern in Zusammenarbeit mit der freien Wohlfahrtspflege. Das Bundessozialhilfegesetz trat am 1. Juli 1962 in Kraft. Am 1. Januar 2005 wurde es im Zuge der sogenannten Hartz-Reformen durch das Zwölfte Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) abgelöst. (klz/27.04.2021)