Abschlussbericht zum Attentat vom Berliner Breitscheidplatz übergeben
1.873 Seiten stark ist der Abschlussbericht des 1. Untersuchungsausschusses („Breitscheidplatz“), den der Ausschussvorsitzende Klaus-Dieter Gröhler (CDU/CSU) am Montag, 21. Juni 2021, an Bundestagspräsident Dr. Wolfgang Schäuble übergeben hat (19/30800).
Der Bundestag hatte am 1. März 2018 einstimmig einen Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin vom 19. Dezember 2016 eingesetzt. Der Ausschuss sollte den Anschlag und seine Hintergründe aufklären und sich ein Gesamtbild vom Handeln der zuständigen Behörden verschaffen. Aufbauend auf den Untersuchungsergebnissen sollte er Empfehlungen für die Arbeit der im Untersuchungsauftrag benannten Behörden sowie für die Betreuung und Unterstützung von Hinterbliebenen und Opfern solcher Anschläge entwickeln. Dem Untersuchungsausschuss gehörten je neun Abgeordnete als ordentliche und als stellvertretende Mitglieder an.
Bewertung durch den Ausschuss
Der Untersuchungsausschuss hatte Akten der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden des Bundes und aller 16 Länder beigezogen, ausgewertet und miteinander abgeglichen sowie rund 180 Sachverständige, Zeuginnen und Zeugen gehört, um die. Umstände aufzuklären, die dazu führten, dass der Attentäter Anis Amri nicht aufgehalten und dieser Anschlag nicht verhindert werden konnte. Der Ausschuss hat nach eigenen Angaben die Überzeugung gewonnen, dass sowohl individuelle Fehleinschätzungen und Versäumnisse wie auch strukturelle Probleme in den zuständigen Behörden verantwortlich waren: die mit den Herausforderungen nicht Schritt haltenden Ressourcen der für islamistische Gefährder zuständigen Einheiten der Sicherheitsbehörden, die völlige Überlastung aller mit Geflüchteten befassten Stellen im Sommer und Herbst 2015, die Zersplitterung staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten auch bei als Gefährder eingestuften Tatverdächtigen sowie Mängel beim Informationsaustausch und der Koordination des Vorgehens zwischen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum GTAZ.
Keine der individuellen Fehleinschätzungen und Versäumnisse habe für sich genommen besonders schwer gewogen. Doch im Zusammenwirken hätten sie dazu geführt, dass niemand Amri in den Arm fiel und der Anschlag nicht verhindert wurde. Nach Überzeugung des Ausschusses hat es in allen Bereichen inzwischen erhebliche Verbesserungen gegeben, um die strukturellen Probleme zu beheben. Die Ressourcen der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung islamistischen Terrors seien ausgebaut worden, sie könnten nun Gefährder zielgenauer erkennen. Die für die Anwendung des Asyl- und Aufenthaltsrechts zuständigen Stellen hätten neue Befugnisse und mehr Personal und Ressourcen erhalten. Staatsschutzstaatsanwaltschaften können heute leichter alle Verfahren gegen Gefährder konzentriert aus einer Hand führen.
Nötiges sei zu lange nicht umgesetzt worden. Auch in der Gesetzgebung habe es Verzögerungen und Versäumnisse gegeben, wofür der Ausschuss um Nachsicht bittet. Auch wenn für die Sicherheitsbehörden heute die wachsende terroristische Bedrohung durch Rechtsextremisten vielerorts im Vordergrund stehe, bedürfe die Bedrohung durch islamistische Extremisten – auch mit Blick auf die große Zahl von Gefährdern in diesem Bereich – weiterhin höchster Aufmerksamkeit, heißt es. Mit den Reformen sei die föderale Sicherheitsarchitektur heute viel robuster aufgestellt, um diesen Herausforderungen zu trotzen, so die Bewertung der von den Koalitionsfraktionen CDU/CSU und SPD getragenen Ausschussmehrheit.
Sondervotum von FDP, Linksfraktion und Grünen
Im gemeinsamen Sondervotum der Oppositionsfraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen heißt es, die von den politisch Verantwortlichen nach dem 19. Dezember 2016 vertretene These des selbst radikalisierten „Einzeltäters“ Anis Amri sei nach dreieinhalb Jahren Aufklärungsarbeit im Untersuchungsausschuss klar widerlegt. Zu den teils ignorierten, teil falsch bewerteten Alarmsignalen und drastischen Hinweisen gehörten eine ganze Reihe von Sachverhalten und Anschlagsplanungen, die Amri mutmaßlich seit seiner Einreise von Italien über die Schweiz nach Deutschland im Juli 2015, ganz sicher aber spätestens ab Ende November 2015 nachweislich verfolgt habe.
Amri sei gerade nicht der „klassische“ Einzeltäter gewesen, der sich selbst radikalisierte und im Verborgenen einen Anschlag plante. Stattdessen habe er viele Monate lang unter den Augen verschiedener Sicherheitsbehörden agiert. Diese hätten ihn observierten, sein Umfeld infiltriert, V-Leute an ihn herangespielt sowie seine komplette digitale Kommunikation teilweise in Echtzeit mitverfolgt. Mindestens eine der V-Personen in seinem Umfeld habe regelmäßig über Amris Umtriebe und Anschlagsplanungen und mit dramatischen Appellen vor seiner Gefährlichkeit gewarnt.
Sondervotum der AfD
Die AfD-Fraktion stellt in ihrem Sondervotum die Frage, ob es zu diesem Anschlag gekommen wäre, wenn die bundesdeutschen Grenzen sowie die Außengrenzen der Europäischen Union und des Schengen-Raumes vor allem 2015 „ordnungsgemäß geschützt“ gewesen wären. Für die Fraktion lautet die „klare Antwort“, dass sich die Wahrscheinlichkeit für den schwersten islamischen Anschlag in der Bundesrepublik sowie damit verbunden das Leid der Angehörigen und Opfer dann erheblich reduziert hätten.
Zusammenfassend stellt die AfD fest, dass das Versprechen der Bundeskanzlerin, dass alles unternommen werde, um das Attentat aufzuklären, nicht erfüllt worden sei. (vom/21.06.2021)