Dietmar Nietan: Verhandlungen mit den Taliban sind unabdingbar
Afghanistan stand als eines der wichtigsten Themen auf der Agenda der Jahrestagung der Interparlamentarischen Konferenz für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union (IPC/GASP) am Donnerstag, 9. September 2021. „Wir können die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen“, sagt Dietmar Nietan (SPD), Delegationsleiter der Bundestagsabgeordneten zur IPC/GASP, im Interview. Zunächst sei es notwendig, vor Ort humanitäre Hilfe zu leisten. Aber es würden auch „operative, pragmatische Kontakte mit den Taliban nötig sein“, so der Außenpolitiker. „Verhandlungen mit den Taliban sind unabdingbar.“ Dabei würden aber Bedingungen gestellt, was die Wahrung der Menschen- und insbesondere Frauenrechte sowie die Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit angehe. Das Interview im Wortlaut:
Herr Nietan, bei der Jahrestagung stellt sich regelmäßig der EU-Außenbeauftragte den Fragen der Parlamentarier. Hat Josep Borrell etwas dazu gesagt, wie er sich künftig den Umgang der EU mit der neuen Taliban-Regierung in Afghanistan vorstellt?
Josep Borrell und die EU-Außenminister haben ja bereits deutlich gemacht, dass operative, pragmatische Kontakte mit den Taliban nötig sein werden. Wir können Afghanistan jetzt nicht komplett sich selbst überlassen. Eine weitere Entwicklungszusammenarbeit wird aber konditioniert. Es werden Bedingungen an die Taliban gestellt, was die Wahrung der Menschen- und insbesondere Frauenrechte, Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, Bewegungsfreiheit für humanitäre Hilfe, eine inklusive Regierung et cetera angeht. Darüber haben wir auch bei der IPC/GASP gesprochen.
Wie wurde der Abzug der Afghanistan-Allianz unter den Abgeordneten reflektiert?
Einigkeit besteht darüber, dass der Afghanistan-Einsatz insgesamt und natürlich auch die Umstände des Abzugs intensiv analysiert und evaluiert werden müssen. Um in Afghanistan stabilere Verhältnisse zu ermöglichen, hätte er länger andauern müssen. Darüber war aber insbesondere mit unseren amerikanischen Verbündeten keine Einigung zu erzielen. Der Abzug hat uns auf äußerst schmerzhafte Weise einmal mehr die militärische Abhängigkeit Europas von den USA vor Augen geführt. Wenn wir Europäer solch komplexe Operationen in Zukunft auch eigenständig durchführen können wollen, müssen wir entschlossen handeln und uns in die Lage versetzen.
Wie will man etwas von den Stabilisierungs- und Aufbaubemühungen der letzten 20 Jahre in Afghanistan sichern?
Wie gesagt, wir können die Menschen in Afghanistan nicht im Stich lassen. Es ist notwendig, vor Ort weiter zu helfen, zunächst einmal mit grundlegender humanitärer Hilfe. Deshalb sind Verhandlungen mit den Taliban unabdingbar, natürlich ist das eine schwierige Gratwanderung. In Afghanistan konnte in vielen Bereichen viel aufgebaut werden, und ich lehne es entschieden ab zu sagen, dass der ganze Einsatz umsonst war. Es ist nicht das gleiche Land und die gleiche Gesellschaft wie zu Beginn des Einsatzes. Eine Generation von Menschen ist in einem Afghanistan aufgewachsen, in dem Demokratie, Partizipation und freie Medien grundsätzlich funktioniert haben, in dem Mädchen zur Schule gingen, Frauen studierten, arbeiteten, Firmen gründeten und innerhalb der Gesellschaft sichtbar in Erscheinung traten. Das geht nicht spurlos an der Gesellschaft vorüber. Die Taliban werden es schwerer haben.
Haben Sie mit Borrell darüber gesprochen, was nach dem Abzug der Afghanistan-Kräfte von dem Land für neue Gefahren, auch für die EU, ausgehen könnten?
Das war natürlich auch ein Thema. Uns allen ist bewusst, dass unter den Taliban ein Erstarken von Terroristen und ein noch ungehemmterer Drogenanbau wahrscheinlich werden. Die Gefahr von Bürgerkrieg, Gewalt, regionaler Instabilität, Diskriminierung, Armut und Hunger steigt, was wiederum Flüchtlingsbewegungen zur Folge hätte. All das würde neben den Nachbarländern Afghanistans und der Region natürlich auch die EU betreffen. Auch deshalb ist es trotz aller Schwierigkeiten wichtig, auch mit den Taliban zu sprechen. Das ist jetzt unsere einzige Möglichkeit, noch in irgendeiner Weise einen Zugang zu den Entwicklungen in Afghanistan zu haben.
Ein wichtiges Thema für den slowenischen Vorsitz ist, die Perspektive eines Beitritts der Westbalkanländer aufrechtzuerhalten. Welche Hindernisse liegen noch auf dem Weg?
Es sind nach wie vor die gleichen Themen und Herausforderungen. Neben den anderen Baustellen geht es in erster Linie um Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung, eine unabhängige Justiz und unabhängige Medien. Gerade wenn Beitrittsverhandlungen beziehungsweise Annäherungsprozesse langwierig und die Herausforderungen groß sind, muss darauf geachtet werden, dass der Reformeifer und die Zustimmung zum EU-Beitritt nicht erlahmen. Seitens der EU gibt es klare Ansagen, aber auch positive Signale dürfen nicht zu kurz kommen. Wir halten an der Beitrittsperspektive fest, daran darf kein Zweifel bestehen. Beide Seiten müssen dazu beitragen.
Wie begleitet die EU die Länder der Region außenpolitisch in der Zeit bis zu einem möglichen Beitritt?
Die EU nimmt die Beziehungen der Länder untereinander und ihre Stärkung als Region in den Blick. Genau das ist ja das Anliegen im Berliner Prozess. Es ist auch nach wie vor in den bilateralen Beziehungen nicht alles harmonisch; gerade zwischen Serbien und dem Kosovo oder angesichts der Blockade Bulgariens in Bezug auf den Beginn der Beitrittsgespräche mit der Republik Nordmazedonien. Hier versucht die EU beziehungsweise die aktuelle Ratspräsidentschaft immer, zu vermitteln und Lösungen zu finden. Natürlich sind die Westbalkanländer in ihrer Außenpolitik souverän, und natürlich ist die EU nicht der einzige Player, mit dem die Länder des westlichen Balkans Beziehungen pflegen. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen muss aber eine Harmonisierung mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erfolgen. Für gewöhnlich tragen EU-Beitrittskandidaten außenpolitische Erklärungen der EU mit. Im Fall von Serbien stellen wir bei Abstimmungen in den Vereinten Nationen Abweichungen von der EU-Linie fest, wo das Land Russland und China außenpolitisch entgegenkommt. Das sind Baustellen, über die man sprechen muss.
Welchen Standpunkt vertritt die deutsche Delegation in der Frage? Ist der Beitritt der Westbalkanländer auch eine außenpolitisch-strategische Frage für die EU?
Wir haben die strategische Dimension meines Erachtens schon längst erkannt, müssen aber viel offensiver damit arbeiten. Diese Erkenntnis setzt sich durch. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Brief von neun EU-Außenministern im Frühling dieses Jahres an Herrn Borrell. Wenn China oder Russland in der Wahrnehmung der Menschen vor Ort der Europäischen Union den Rang ablaufen oder in bestimmten Fällen gar versucht wird, die EU-Annäherung zu stören, haben wir ein Problem, dem wir uns aktiv widmen müssen.
Die Jahrestagung ist immer auch ein Forum, über die künftige außen- und sicherheitspolitische Rolle der EU in der Welt nachzudenken. Was für ein Profil müsste die Gemeinschaft entwickeln?
Die EU entwickelt ihr Profil bereits ständig weiter. Debatten über die Europäische Armee oder schnelle EU-Eingreiftruppen gewinnen angesichts des Dramas von Kabul nun wieder an Fahrt. Die gemeinsame Arbeit am „Strategischen Kompass“ bringt uns sicherlich einen guten Schritt nach vorn. Wichtig bleibt, die Abhängigkeit von den USA weiter zu verringern, ohne jedoch dabei die Nato zu vernachlässigen. Denn das Bündnis ist und bleibt ganz zentral für unsere Sicherheit. EU-intern wären zudem Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik hilfreich. Deutschland setzt sich dafür weiter ein.
Halten die Kapazitäten der EU mit den gestiegenen Anforderungen Schritt? Wo müsste die EU ihre Fähigkeiten ausbauen?
Momentan halten die Kapazitäten nicht Schritt. Aber das lässt sich ändern. Auszubauen ist aus meiner Sicht in allererster Linie die Koordinierung. Wir haben innerhalb der EU bereits viele Fähigkeiten, die viel wirksamer gebündelt werden könnten. Und was fehlt, muss gemeinsam beschafft werden. Der Europäische Verteidigungsfonds ist dieses Jahr in Kraft getreten; der CARD-Prozess (Coordinated Annual Review on Defence, koordinierte Verteidigungsplanung für Europa) läuft, wir arbeiten im Rahmen von PESCO (Permanent Structured Cooperation, ständige strukturierte Zusammenarbeit) zusammen. Dennoch müssen wir ehrlicherweise sagen, dass der Ausbau von Koordinierung und Fähigkeiten keine Frage von Monaten, sondern von Jahren ist. Ich hoffe, dass die europäischen Regierungen dem Thema eine gleichbleibend hohe Priorität einräumen. Dazu werden wir als Parlamentarier und als IPC/GASP unseren Beitrag leisten!
(ll/10.09.2021)