1. Untersuchungsausschuss

Zeuge schildert frühere Sicherheitslage und Machterosion in Afghanistan

Symbolbild mit der Abbildung des Wappens an der Deutschen Botschaft in Kabul hinter Stacheldraht

Im Untersuchungsausschuss befragt wird unter anderem der ehemalige Gesandte in der Deutschen Botschaft Kabul. (picture alliance / photothek | Thomas Koehler)

Zwei Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes hatte der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Deutschen Bundestages zur dritten Beweisaufnahmesitzung am Donnerstag, 13. Oktober 2022, in den Zeugenstand geladen. Zunächst berichtete der ehemalige Gesandte in der Deutschen Botschaft Kabul.

Nach seinen Ausführungen enthielt das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban eine Reihe offensichtlicher handwerklicher Fehler und hatte in der Folge zu einer Machverschiebung zugunsten der Taliban geführt. 

„Ein Vertrag zulasten Dritter“

Das sogenannte Friedensabkommen sei „ein Vertrag zulasten Dritter“ gewesen, hätte doch die US-Regierung unter Präsident Donald Trump, von der die Initiative dazu angegangen war, weder ihre Verbündeten einbezogen noch die damalige afghanische Regierung, sondern dieses Abkommen bilateral mit den Taliban abgeschlossen, so der Zeuge. „Alle anderen wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.“

Außerdem sei der Friedensvertrag „im Prinzip ein Truppenabzugsabkommen der Amerikaner“ gewesen. Die Taliban seien der Idee, mit der afghanischen Regierung und anderen politischen Kräften im Land Friedensgespräche zu führen, nicht nachgekommen. Und für ihren Truppenabzug habe die amerikanische Seite von den Taliban schließlich nur vage formulierte Gegenleistungen wie eine „Verpflichtung zur Reduzierung der Gewalt“ oder „keine Angriffe auf die abziehenden Truppen“ verlangt, während die Formulierungen, die sich auf die afghanische und die US-Regierung selbst bezogen, sehr viel präziser seien. 

„Sicherheitslage ist immer weiter erodiert“

Die Taliban hätten dann stets auf die genaue Erfüllung des Wortlautes gepocht, etwa beim Austausch von 5.000 Gefangenen. Während der US-Oberkommandierende Arthur S. Miller die Taliban immer wieder habe „beknien“ müssen, offenbar nur mündlich gemachte Zusagen einzuhalten, um die Eskalation der Gewalt aufzuhalten. Das sei „die große Schwäche des Abkommens“ gewesen. Warum hat man wesentliche Dinge nicht oder nur derart abgeschwächt in das Dokument hineingeschrieben, wunderte sich der Zeuge, der das Zustandekommen des Doha-Abkommens lediglich durch die Berichterstattung aus der Ferne verfolgt habe. 

„Im Umfeld des Doha-Abkommens“, das schließlich zum kompletten Abzug der internationalen Kräfte aus Afghanistan führte, und zu seiner Zeit im Generalkonsulat in Masar-e Scharif und in der Botschaft in Kabul, sei die Sicherheitslage „immer weiter erodiert“, berichtete der Zeuge. „Die Sicherheitslage hat sich kontinuierlich verschlechtert. Täglich wurde ja in der Mehrheit der Provinzen gekämpft. Die Sicherheitslage war täglich in allen Besprechungen das erste Thema.“ Der Abschluss des US-Taliban-Abkommens habe viele afghanische Kräfte in Regierung, Verwaltung, Polizei und vor allem den Streitkräften demoralisiert und paralysiert. 

Versuch, den Friedensprozess zu begleiten

Obwohl das US-Taliban-Abkommen für den angestrebten Friedensprozess in Afghanistan kaum praxistauglich gewesen sei, habe die deutsche Seite, also die Bundesregierung und das Auswärtige Amt, es als eine seit fast 40 Jahren nicht dagewesene Chance begriffen und versucht, den Friedensprozess zu begleiten und zu unterstützen. „Es war das einzige Forum“, das sich geboten habe. Was hätte man sonst tun sollen als darauf einzugehen und zu versuchen, das Beste daraus zu machen? „Wir haben diesen Rahmen genommen und diesen Prozess unterstützt, einfach weil es der einzige war.“ Afghanische Regierung und Taliban hätten sich erstmals an einen Tisch gesetzt und sich zumindest als Gesprächspartner akzeptiert. 

Dennoch habe er auf die zahlreichen Steine hingewiesen, die der Friedenshoffnung im Weg lagen. „Meine Aufgabe war es, auf Risiken hinzuweisen.“ „Die Hauptbelastung für den Friedensprozess war, dass immer weiter gekämpft wurde.“ Der unbestimmte Passus „Reduzierung der Gewalt“ habe die Taliban im Grunde auf nichts festgelegt. Die Taliban hätten zudem nie mit der afghanischen Regierung verhandelt, hätten diese nie anerkannt, sondern „wollten immer nur mit den USA reden“. 

Die Rolle des Nachbarlandes Pakistan

Der Lageeinschätzung zu den Folgen des Doha-Abkommens und der sich verschlechternden Sicherheitsbedingungen schloss sich der zweite geladene Zeuge an, ein ehemaliger Referent in der Deutschen Botschaft Islamabad und später Pakistan-Referent im Auswärtigen Amt. Mit der Befragung des zweiten Zeugen beleuchtete der Ausschuss die Rolle des Nachbarlandes Pakistan gegenüber Afghanistan, dem dortigen internationalen Engagement, dem Doha-Abkommen und den Taliban. Pakistan habe die international unterstützte afghanische Regierung stets als legitimen Vertreter Afghanistans anerkannt, nicht aber die Taliban. „Politisch ließ Islamabad keine Zweifel an seiner Anerkennung der afghanischen Regierung.“ Islamabads Hauptinteresse sei ein stabiles Nachbarland. „An einem Kollaps der Staatlichkeit hatte Pakistan kein Interesse.“

Zwischen Kabul und Islamabad habe es stets enge Kontakte, einen breiten Austausch, in allen möglichen Bereichen gegeben, beide Länder seien eng miteinander verflochten. Über die lange und poröse gemeinsame Grenze gebe es jedes Jahr eine massenhafte geduldete Wanderung von Menschen – Funktionäre, Kämpfer, Landleute, Familien – in beide Richtungen. Drei Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan lebten zudem seit Jahrzehnten in Pakistan. 

Die Einstellung Pakistans gegenüber „Resolute Support

Der angekündigte Truppenabzug der USA sei unmittelbar eine Genugtuung für die pakistanische Regierung gewesen. Islamabad sei immer der Meinung gewesen, dass das westliche Engagement im Nachbarland nicht von Dauer sein dürfe und dementsprechend gegenüber der Mission „Resolute Support“ kritisch eingestellt. Das Doha-Abkommen hätten die Pakistaner daher nicht abgelehnt.

„Man war in Islamabad der Meinung, dass das den eigenen regionalen Interessen entgegenkommt.“ Dabei sei die dortige Regierung wie fast alle internationalen Akteure davon ausgegangen, dass es in Afghanistan zu längeren Friedensverhandlungen und schließlich zu einer Beteiligung der Taliban an einer nationalen Einheitsregierung kommen werde. „Pakistan wünschte sich eine starke Rolle der Taliban im afghanischen Machtgefüge“, erklärte der Diplomat.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (ll/13.10.2022)

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