Auswärtiges

Sachverständige beurteilen Aufstieg Chinas und Folgen für internationale Ordnung

Zeit: Montag, 17. Oktober 2022, 14 bis 17 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.900

Die Chancen und Risiken des Aufstiegs Chinas und die Auswirkung auf die internationale auf Regeln basierende Ordnung werden von Experten unterschiedlich beurteilt. In einer öffentlichen Anhörung des Auswärtigen Ausschusses zur „systemischen Konkurrenz von liberalen Demokratien und autoritär geführten Staaten“ bestand am Montag, 17. Oktober 2022, in einem Punkt allerdings eher Einigkeit: Unter den Großmächten sei nur China mit seinem Staatskapitalismus, seinen technologischen Fortschritten und seinem riesigen Heimatmarkt wettbewerbsfähig.

Systemkonkurrenz mit China

„Russland ist ein großer Störenfried, aber nicht wirklich wettbewerbsfähig als System“, so fasste es der Sachverständige Thorsten Benner (Global Public Policy Institute) zusammen – und in anderen Worten der Sachverständige Dr. Ben Schreer (International Institute for Strategic Studies): Außen- und sicherheitspolitisch sei Russland „ein Orkan“, China hingegen der „Klimawandel“.

Benner riet dazu, nicht in den „Sirenengesang der Äquidistanz “ zu verfallen. Es handle sich im Systemwettbewerb mit China nicht um einen Großmachtkonflikt, aus dem sich Europa am besten heraus- und die Kontrahenten USA und China auf Abstand halten könne. Es gehe im Gegenteil darum, nicht verzagt, sondern mit „Lust auf Erneuerung und Innovation unserer Demokratie und der sozialen Marktwirtschaft“ in die Systemkonkurrenz mit Chinas autoritärem Staatskapitalismus zu treten. Das Ziel sei, wettbewerbsfähig zu sein in dieser Konkurrenz, „innovativ, widerständig, wehrhaft, attraktiv als Modell“.

Interessengeleitete Zusammenarbeit

Auch Experte Schreer hielt den Kurs eines Mittelwegs Europas zwischen den USA und China für „zunehmend problematisch“. Er warb für einen „realpolitischen Ansatz“: China sollte als systemischer Wettbewerber, aber auch als punktueller Partner betrachtet werden. Die deutsche Wirtschaft müsse unter dem Stichwort „partielles Decoupling“ diversifiziert, die Abhängigkeit von kritischen Mineralien und Materialien verringert werden.

Schreer warb dafür, mit autoritären Staaten interessengeleitet zusammenzuarbeiten und verwies auf das Beispiel Australiens. Niemand dort gebe sich der Illusion hin, dass Länder wie Singapur, Vietnam, Bangladesch oder die Mongolei demokratischer würden. Aber sie seien von zentraler Bedeutung und würden auf absehbare Zeit noch wichtiger werden.

„Liberales-demokratisches Club-Denken“

Prof. Dr. Hanna Pfeifer (Goethe-Universität Frankfurt am Main) wandte sich gegen das starre Modell einer Dichotomie zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten: Auch letztere hätten ein Interesse an einer stabilen internationalen Ordnung, an Institutionen, Regeln und Verfahren und seien nicht per se konflikt- und kriegsgeneigter. Umgekehrt seien auch Demokratien nicht zwingend kriegsscheu, wie zahlreiche Militärinterventionen zeigen würden.

Gefährlich wäre ein „liberales-demokratisches Club-Denken“. Es gebe keine gemeinsame globale Allianz autoritärer Staaten. Ein solches Denken würde zu dieser aber beitragen. Pfeifer warb für „konditionale Kooperationen“ und eine qualifizierte Auswahl der Partner: „Was kann mit welchen Aussichten und welchen Risiken mit welchem Partner gestaltet werden?“

Etwas Neues schaffen

Dr. Janka Oertel (European Council on Foreign Relations) bezeichnete China unter Staatschef Xi Jinping als „full spectrum challenge“: Das Land sei nicht nur zu einem ernsthaften wirtschaftlichen Wettbewerber geworden, es sei auch willens und bereit,  seine Interessen global durchzusetzen. Um in diesem Systemwettbewerb zu bestehen, sollte es unter anderem darum gehen, die Demokratie und Rechtstaatlichkeit zu Hause zu stärken, Anstrengungen zu unternehmen, die westliche Technologieführerschaft zu behalten und das eigene Wirtschaftsmodell zu diversifizieren.

Es sollten Exportabhängigkeit reduziert, „Klumpenrisiken“ vermieden werden. Oertel wandte sich gegen Panik, mahnte aber ein „Verständnis für die Dringlichkeit“ an. In Bezug auf die internationale Ordnung gehe es nicht mehr darum, „etwas zu erhalten, was es gibt, sondern darum, etwas Neues zu schaffen“.

Von Chinas Pragmatismus lernen

Der Sachverständige und Rechtsanwalt Dr. Karl-Friedrich Weiland sprach sich dafür aus, China als einen Wettbewerber zu betrachten, von dessen „extremen Pragmatismus“ man viel lernen könne. Das Land habe eine Staatsquote von 33 Prozent, Deutschland hingegen von 51 Prozent. China sei „kapitalistischer geworden als wir es mittlerweile sind“. 

Weiland wandte sich zudem gegen die Vorstellung, dass die regelbasierte internationale Ordnung für alle Staaten gleiche Rechte, Pflichten und Gestaltungsmöglichkeiten bedeute. Es gäbe „Großmächte und Nichtmächte“, „Hasen und Löwen“. Europa als Schicksalsgemeinschaft bleibe nur, sich „auch Zähne und Klauen wachsen zu lassen, die Hasengesinnung abzulegen, um damit von den Großmächten überhaupt ernst genommen zu werden und auf einer Stufe zu sprechen“.

Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Ingar Solty (Rosa-Luxemburg-Stiftung) hingegen nannte jeden Schritt einer Verrechtlichung in einer „anarchischen Staatenwelt“ begrüßenswert, weil so Schwache vor Starken geschützt werden könnten. Er machte aber eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aus. Es werde in westlichen Staaten zu oft mit zweierlei Maß gemessen – in Bezug auf Interventionen im Nahen Osten, auf extralegale Tötung und beispielsweise in Bezug auf den völkerrechtswidrigen Kosovokrieg mit deutscher Beteiligung.

Man könne diese Widersprüche übergehen, und behaupten, es gehe nur um eine Rivalität mit China. „Dann aber ist man auf dem Terrain von Interessen.“ Solty stellte sich gegen eine „konfrontative Chinapolitik“: Eine weltkriegerische Auseinandersetzung zwischen den USA und China („Thukydides-Falle“) müsse unbedingt verhindert werden. (ahe/18.10.2022)