Kinderkommission

Mehr Hilfe für Familien und bessere Ausstattung für Ki­tas und Schulen gefordert

An einer Ausgabestelle der Leipziger Tafel e.V. gehen Eltern und ihre Kinder mit gespendeten Lebensmittel nach Hause.

Die Kinderkommission widmete sich dem Thema Kinderarmut und Corona-Pandemie. (© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Waltraud Grubitzsch)

Die Corona-Pandemie hat gerade Kinder aus benachteiligten Familien hart getroffen, so die Sachverständigen in einem öffentlichen Fachgespräch der Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder (Kinderkommission, Kiko) zum Thema „Kinderarmut und die Corona-Pandemie“ am Mittwoch, 19. Oktober 2022. Die negativen Auswirkungen der Pandemie auf das Kindeswohl in den verschiedensten Bereichen gelte es nun schnell zu adressieren. Der Hilfe für Familien sowie einer besseren Ausstattung von Kitas und Schulen komme dabei eine besondere Bedeutung zu.

Ravens-Sieberer: Es müssen die Familien unterstützt werden

Die Corona-Pandemie hat die Lebensqualität und Gesundheit von Kindern beeinträchtigt, so die Ergebnisse einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, die Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vorstellte (Copsy-Studie). Ob psychische Auffälligkeiten, Angstsymptome oder die subjektiv wahrgenommene Gesundheit: Die Zahlen zeigten bei den vier Befragungen von mehr als 1500 Eltern mit ihren Kindern im Alter von elf Jahren oder älter in den Jahren 2020 und 2021 nach oben und sanken nach dem Ende der Lockdowns nicht wieder auf das Niveau von vor der Pandemie. Überdurchschnittlich betroffen seien Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status. Je höher Bildungsgrad und Einkommen der Eltern, desto geringer die Zahl betroffener Kinder. Dabei bleibe der „soziale Gradient stabil“, stellte Ravens-Sieberer fest, es sei kein Auseinanderdriften der sozialen Gruppen zu beobachten. „Es kommt bei allen Gruppen zu einem Anstieg. Die soziale Schere geht nicht weiter auseinander.“

Zu den Risikofaktoren für die Kinder zählten neben dem niedrigen Bildungsabschluss der Eltern und finanziellen Restriktionen durch Stress belastete oder erkrankte Eltern und häusliche Enge. Den Kindern, die schon vorher belastet waren, ging es besonders schlecht, so die Professorin für Gesundheitswissenschaften, Gesundheitspsychologie und Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Sehr helfen könne den Kindern vor allem die eigene Familie: ein gutes Familienklima, gemeinsam verbrachte Zeit. „Das macht die Kinder seelisch gesund, lässt sie resilienter werden.“ Aus dieser Schutzfunktion der Familie folge, dass man vor allem die Familien unterstützen müsse. Diese versuchten nämlich alles, damit das Leben auch unter erschwerten Bedingungen weitergehe, hätten aber in den Umfragen angegeben, durch die Belastungen der Krise erschöpft zu sein. An den Bildungseinrichtungen Kita und Schule brauche man ein dauerhaftes Alarm- oder Monitoringsystem, das den Zustand der allgemeinen mentalen Gesundheit überwache und Eltern und Lehren zeige, wenn etwas schief laufe. Leider habe man die Auswirkungen der Pandemie auf die kindliche Gesundheit nicht vorausgesehen.

Untersuchung zum Betreuungs- und Bildungsangebot der Kitas

Prof Dr. Susanne Kuger vom Deutschen Jugendinstitut München ergänzte aus verschiedenen wissenschaftlichen Studien, dass sozioökonomisch schlechter gestellte Familien seltener von dem Betreuungs- und Bildungsangebot der Kita Gebrauch machten. Zwar hätten Schließungen und Notbetreuung alle Familien gleich getroffen. In Bundesländern mit Wahlfreiheit hätten aber Eltern mit hohem Bildungsgrad ihr Recht auf einen Kitaplatz eher eingefordert als geringer qualifizierte. Die Liste mit schlechteren Bedingungen für Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien lasse sich noch weiter fortsetzen: So hätten „Kitas mit ungünstigerer sozioökonomischer Komposition öfter geschlossen“ und dort habe es auch „doppelt so viele Infektionen“ gegeben, vermutlich weil die Eltern Berufe mit weniger Möglichkeiten zum Telework ausübten. Sämtliche Kitas hätten einen höheren Förderbedarf angemeldet, aber die Kitas mit mehr Kindern aus benachteiligten Familien einen „eklatant höheren“. Dort habe es auch mehr Rückstellung von der Schule gegeben.

Wie sehr es in Krisenzeiten für die Kinder auf ein gutes Familienklima ankomme, darauf verwies auch Kuger. „Verlässliche Routinen und positive Praktiken, ein geregelter Tagesablauf eine hohe Lebenszufriedenheit der Eltern“ hätten stabilisierend gewirkt. Kinder aus benachteiligten Familien, die schon vor der Pandemie eine schlechtere Ausgangssituation gehabt hätten, hätten auch während der Pandemie ungünstigere Bedingungen vorgefunden, sei es bei der Betreuung als auch in ihren Familien. Sowohl Kindergärten als auch die Familien seien an der Belastungsgrenze und bräuchten mehr Unterstützung.

Kroggel: Schulschließungen für Kinder besonders dramatisch

Von ihren praktischen Beobachtungen berichtete die Sozialpädagogin und Schulsozialarbeiterin Karolin Kroggel vom Verein SOS-Kinderdorf Berlin. Vor allem an sogenannten Brennpunktschulen häuften sich nach den Lockdowns die Probleme. Besser gestellte Familien im Einzugsgebiet schickten ihre Kinder gar nicht mehr dorthin. An vielen Schulen hätten 90 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund, Eltern mit niedrigem Bildungsgrad und Einkommen, lebten auf beengtem Raum, oftmals in Gemeinschaftsunterkünften. Zu dem schwierigen sozialen Umfeld seien dann die Umstände der Pandemie gekommen: Die Kinder seien lange mit ihren Problemen allein zu Hause gewesen, ohne Kontakt zu ihren Freunden, Familienbesuche und die normalen Sport- und Freizeitangebote.

Die Schulschließungen seien für Kinder aus benachteiligten Familien besonders dramatisch gewesen, sagte Kroggel. „Schule ist der Ort, wo alle Kinder sind und wo wir sie im Blick haben.“ Die Schule baue Bildungsbenachteiligung ab. Als die Schulen wieder öffneten habe es dort neue Probleme gegeben: Gewalt, Kinder, die sich selbst und ihre Mitschüler vom Lernen abhielten, mit Konzantrationsschwäche oder mit massiver Schulangst. „Das Klima war rau, es krachte erst mal.“ Die Folgen von zwei Jahren Pandemie und Schulschließungen seien noch immer an einem veränderten Sozialverhalten der Kinder sichtbar. Die Gewaltbereitschaft sei gestiegen, viele klagten über Müdigkeit oder Burnout, die Mediennutzung habe zugenommen, die Sprachdefizite häuften sich oder es gebe Kinder, die sich nicht mehr trauten ihr Gesicht frei von einer Maske zu zeigen, andere seien einfach noch nicht schulreif und würden mit dem Buggy zur Schule gefahren.

Ein pädagogisch ausgefeiltes Konzept sei nötig, um alle Kinder ans Lernen zu bringen. Es müsse zu einer Reduzierung der Klassenstärken kommen, um jeden einzelnen besser fördern zu können. Aber dieser Bedarf treffe auf eine angespannte Personalsituation. Dabei brauche es mehr Sprachförderung, mehr Sonderpädagogen, aber auch Therapieplätze. Für die Kinder sei es grundlegend, mehr Selbstwirksamkeit zu erfahren, Erfolge erlebbar zumachen. Dagegen würden in benachteiligten Familien Mut- und Lustlosigkeit immer größer, das eigene Selbstbild jedoch immer schwächer. „Immer weniger Kinder glauben, dass sie in ihrem Leben etwas bewirken können.“ Man müsse den individuellen Reichtum der Kinder in Blick nehmen, ihnen ihre Aktions- und Freiräume zurückgeben. „Man kann sich nicht aussuchen, in welche Familie man hineingeboren wird.“ Aber die Gesellschaft brauche doch jeden jungen Menschen, sie würden gebraucht, es gebe schließlich einen riesigen Bedarf an Fachkräften. (ll/19.10.2022)

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