1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Amerikanische Entschei­dungsfindung war eine Blackbox

Bundeswehrsoldaten steigen in ein Transportflugzeug der Luftwaffe.

Bundeswehrsoldaten steigen in ein Transportflugzeug der Luftwaffe. (picture alliance/dpa/Bundeswehr | Torsten Kraatz)

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Bundestages hat am Donnerstag, 20. Oktober 2022, nach dem Referenten in der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Nato den ehemaligen Leiter des Referats Afghanistan/Pakistan beim Auswärtigen Amt befragt. Erneut versuchten die Abgeordneten, die diplomatischen Herausforderungen und Entscheidungen zu rekonstruieren, die sich für die Bundesregierung aus der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban ergaben.

Deutsche Diplomaten an Verhandlungen nicht beteiligt

Mit dem Abkommen wurde im Februar 2020 der Rückzug der US-Truppen und damit auch indirekt der internationalen Truppen aus Afghanistan besiegelt. Der Außenamts-Mitarbeiter erklärte dazu, wie schon mehrere Zeugen zuvor, dass deutsche Diplomaten an den Verhandlungen nicht beteiligt gewesen seien, wohl aber an den, letztlich ergebnislosen Gesprächen zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban.

Er hob hervor, dass die Bundesregierung und auch die anderen Verbündeten der USA in Afghanistan den Inhalt des Doha-Abkommens erst am 28. Februar 2020, also lediglich einen Tag vor dessen Veröffentlichung, hätten einsehen können. „Wir hatten alle gehofft, dass das Abkommen besser verhandelt worden wäre, als es wirklich war“, gab er zu Protokoll. Sie seien überrascht gewesen, denn noch während der Verhandlungen habe der US-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Zalmay Khalilzad, der Bundesregierung seine Ideen vorgestellt. Kurz darauf habe auch der damalige US-Außenminister Mike Pompeo in einem Tweet betont, das Abkommen sei an Konditionen gebunden. Deshalb habe man deutlich stärkere Elemente eines konditionsbasierten Ansatzes erwartet. Doch die Bundesregierung habe im Abkommen nur „leichte Anzeichen eines konditionsbasierten Ansatzes“ gesehen. Diese Sorge habe er bereits in der afghanischen Hauptstadt Kabul zum Ausdruck gebracht, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufhielt, und insbesondere gegenüber der Vertreterin der USA.

Suche nach politischer Lösung des Konflikts

Damals habe in Washington „eine sehr spezifische US-Regierung“ regiert, sagte der Zeuge - in Anspielung auf die Präsidentschaft Donald Trumps. Sein Referat habe dem damaligen Außenminister Heiko Maas (SPD) die Empfehlung gegeben, trotz der Geburtsfehler und Probleme des Abkommens, zu versuchen, den politischen Prozess zu unterstützen, um letztendlich auch eine politische Lösung des Konflikts zu erreichen.

Konkret sollte die Bundesregierung von den USA mehr Transparenz fordern, und angesichts „einer gewissen Konditionierung im Abkommen“, schauen, ob es möglich wäre, einen inklusiven Friedensprozess zu unterstützen. Das sei offensichtlich das Ziel Trumps gewesen, doch es habe auch starke Gegenmeinungen gegeben. „Deshalb gab es durchaus Anknüpfungspunkte, auf das Einhalten des Geistes des Abkommens zu drängen“, berichtete der Zeuge, der gleichzeitig zugab, dass „die Entscheidungsfindung auf der amerikanischen Seite auch für die deutschen Diplomaten ein Blackbox war“. 

Amtsantritt des neuen US-Präsidenten

Nach dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Joe Biden hätten die Partner in der Mission Resolute Support eine gemeinsame Bewertung des Abkommens gefordert, um dann gemeinsame Entscheidungen zu treffen zu können. „Wir haben versucht, eine Koppelung des Militärischen und des Zivilen zu erreichen. Wir waren nicht besonders erfolgreich“, räumte der ehemalige Referatsleiter im Auswärtigen Amt ein. Angesichts der Möglichkeit eines neuen US-Präsidenten habe man nicht gleich in die Planung des Abzugs einsteigen wollen, erklärte er weiter. Denn man habe nicht das Signal geben wollen, „wir gehen, egal was die Taliban tun“.

Der Zeuge wurde von den Abgeordneten auch zum Ortskräfteverfahren befragt. Er erklärte, das Auswärtige Amt sei davon ausgegangen, dass das militärische Engagement beendet werden müsse, aber das zivile Engagement weitergehen würde. Deshalb habe man nicht vorhersehen können, dass die Nachfrage nach Evakuierungen derart steigen würde. Auch organisatorische Probleme habe es gegeben. In Kabul habe zum Beispiel keine Visastelle existiert.

Keine Übereinkunft zum Abzug mit den USA

Zuvor hatte der 1. Untersuchungsausschuss den Sitzungstag mit der Befragung des ehemaligen Referenten der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der Nato begonnen. Im Mittelpunkt des Interesses der Ausschussmitglieder stand vor allem die Koordination zwischen den USA und den Nato-Verbündeten hinsichtlich des Doha-Abkommens, das Ende Februar 2020 den Rückzug der internationalen Truppen aus Afghanistan einleitete.

Der Zeuge erklärte dem Ausschuss, unter den deutschen Vertretern bei der Nato seien die Verhandlungen zunächst als eine Chance begriffen worden. „Wir dachten, dass die Verhandlungen zu einer politischen Lösung des andauernden militärischen Konfliktes führen könnten.“ Doch relativ bald sei klar geworden, dass sich die Taliban nicht dem Geist des Vertrages entsprechend verhalten und den Friedensprozess konstruktiv angehen würden. 

Zeuge nennt Doha-Abkommen „schwammig“

Das Abkommen zwischen den USA und den Taliban sei schwammig gewesen. „Uns war bewusst, dass die Amerikaner den Text des Abkommens sehr eng ausgelegt haben.“ Viele Alliierte hätten sich gewünscht, dass die Abzugsgeschwindigkeit mit substanziellen Fortschritten im innerafghanischen Friedensprozess und der Gewaltreduzierung verbunden wird. 

Die Nato-Verbündeten hätten den Text relativ kurz nach der Veröffentlichung des Abkommens einsehen können. Er sei ihnen jedoch nicht übergeben worden. Deshalb habe man den Text abschreiben müssen. Das sei außergewöhnlich bei der Nato gewesen, jedoch verständlich, befand der Zeuge. Schließlich habe es sich bei dem Abkommenstext nicht um ein Nato-Dokument, sondern um ein US-Dokument gehandelt.

Initiative von Ex-Bundesaußenminister Heiko Maas

Die Entscheidung, alle Truppen abzuziehen, sei für ihn überraschend gewesen, erklärte der frühere Nato-Referent weiter. Das Auswärtige Amt habe seine Überraschung geteilt. Nach der Wahl von US-Präsident Joe Biden hätte die US-Administration den Verbündeten zugesagt, ihr Vorgehen mit ihnen abzustimmen. Sie habe das Abkommen auch einer Prüfung unterzogen. In deren Zuge seien auch die Verbündeten um ihre „Sichtweise“ gebeten worden und man sei diesem Wunsch nachgekommen. Dem Zeugen zufolge sei es aber zu keinem Zeitpunkt nach der Veröffentlichung des Doha-Abkommens möglich gewesen, eine Übereinkunft mit den USA zu erreichen, um von einem zeitbasierten zu einem konditionsbasierten Ansatz des Abkommens zu kommen.

Der damalige Bundesaußenminister Maas habe bei einem Außenministertreffen der Nato eine entsprechende Initiative gestartet und gefordert, keinen Automatismus beim Truppenabzug hinzunehmen. Er habe vorgeschlagen, dass die Alliierten die Lage gemeinsam bewerten und entscheiden. Die Vertreter Deutschlands hätten „durchgehend eng mit den Alliierten zusammengearbeitet“, stellte der ehemalige Referent der Ständigen Vertretung bei der Nato klar. Er selber habe davor gewarnt, dass politische Kosten entstehen würden, sollte der Abzug schneller als in sechs Monaten vollzogen werden. Er habe befürchtet, dass ein „überhasteter Abzug ein instabiles Umfeld hinterlassen“ und zu einem chaotischen Zustand führen würde. Das wiederum hätte dem Ansehen der internationalen Gemeinschaft geschadet.

Die Zeugenbefragung wurde oft von einem Vertreter des Auswärtigen Amtes unterbrochen, der darum bat, in eine nichtöffentliche Sitzung zu übergehen, wenn aus den Dokumenten zitiert werde. Ausländische Verbündete würden bei Gesprächen mit ihren deutschen Kollegen darauf vertrauen, dass der Inhalt vertraulich behandelt werde. 

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/21.10.2022)

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