1. Untersuchungsausschuss

BMZ wollte Entwicklungs­arbeit in Afghanistan fortführen

Soldaten gehen durch das Camp Marmal in Mazar-e Sharif/Afghanistan während der Rückverlegung und Ende der Mission Resolute Support (RSM), am 19.05.2021.

Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ist das Thema eines Untersuchungsausschusses des Bundestages. (© Bundeswehr/Torsten Kraatz)

In der 16. Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses zur letzten Phase des Afghanistan-Einsatzes hat sich das Gremium am Donnerstag, 1. Dezember 2022, auf die Entwicklungszusammenarbeit zwischen Afghanistan und Deutschland konzentriert. Dazu wurde ein damaliger Referatsleiter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) befragt. Er habe ab 2020 die Entwicklungszusammenarbeit in der Botschaft in Kabul koordiniert, gab er an. Vor dieser Zeit sei er zeitweise auch für das Ortskräfteverfahren verantwortlich gewesen.

Erschwerte Entwicklungszusammenarbeit

Deutschland habe mit zirka 250 Millionen Euro jährlich verschiedene Projekte in Afghanistan unterstützt. Davon sei ein Teil in den Fonds der internationalen Gebergruppe geflossen. Außerdem habe es gemeinsame Projekte des BMZ mit dem Auswärtigen Amt gegeben. Für die Umsetzung der Projekte im Land seien die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) und die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) verantwortlich gewesen.

Die Entwicklungszusammenarbeit sei schon vor 2021, aber auch danach, allmählich erschwert gewesen, aber dennoch weitergeführt worden, berichtete der Zeuge. Ziel sei es gewesen, die zivile Sicherheit zu stärken und stabile staatliche Strukturen zu schaffen, sodass die Entwicklungsarbeit sich selbst tragen kann. Anfang 2020 seien in Afghanistan auch große Fortschritte, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Kindersterblichkeit und Wasserversorgung, zu sehen gewesen. Eine junge Generation sei herangewachsen, die das Internet habe nutzen können. Man habe gehofft, dass diese Menschen eine Machtübernahme der Taliban verhindern könnten. Doch sei es nicht gelungen, diese Entwicklung auch landesweit in Gang zu setzen.

Schnelle Machtübernahme der Taliban

Nach dem Doha-Abkommen, mit dem der Abzug der internationalen Truppen besiegelt wurde, hätten die Mitarbeiter im BMZ verschiedene Szenarien entworfen, führte der Zeuge aus. So habe man die Projekte der Situation angepasst, damit diese auch nach einem militärischen Abzug aus dem Land weitergeführt werden können. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Taliban die Macht übernahmen, sei „ein Schock gewesen.“

Mit ihnen sei es zu keinen direkten Gesprächen gekommen. Ein inoffizieller Versuch, von den Taliban zu erfahren, was sie von der Entwicklungszusammenarbeit halten, habe gezeigt, dass diese „keine Ahnung von der Leitung von Entwicklungsprojekten hatten“ und ihre Bedingungen ohnehin teilweise nicht akzeptabel gewesen seien.

„Teufelskreis der Eskalation“

Die Ausschussmitglieder wiesen auf Diskrepanzen zwischen internen Lagebewertungen und den Informationen, die damals dem Bundestag vorgelegt wurden, hin. Daraufhin erklärte der frühere Referatsleiter beim BMZ, das Ministerium sei einerseits für eine Verlängerung des Bundeswehrmandats gewesen. Andererseits habe man nicht den Eindruck erwecken wollen, Deutschland ziehe sich aus Afghanistan zurück. Man habe nicht gewollt, dass nach dem Abschluss des Doha-Abkommens ein „Teufelskreis der Eskalation“ entsteht.

Zur Situation der Ortskräfte befragt, antwortete der Zeuge, dass sich die Zahl der Gefahrenanzeigen seitens der Ortskräfte nach dem Doha-Abkommen erhöht habe. GIZ und KfW hätten rund 1.500 Mitarbeiter gehabt. Detaillierte Angaben zu den Aufnahmekriterien der Ortskräfte wollte der Zeuge nicht machen, da diese einer „gewissen Geheimhaltung“ unterlägen.

Einzelfallentscheidungen beim Ortskräfteverfahren

Grundsätzlich habe sich „die Gefahr für Leib und Leben“ mit der Exponiertheit der Person erhöht, aber es würden in jedem Fall immer Einzelfallentscheidungen getroffen. Viele lokale Mitarbeiter seien mit ihrer Arbeit bei den deutschen Entwicklungsorganisationen und deren Partnern zufrieden gewesen und hätten zur Entwicklung ihres Landes beitragen wollen. Das BMZ sei auch deshalb gegen eine Ausweitung des Berechtigtenkreises beim Ortskräfteverfahren gewesen, weil die praktische Umsetzung zu erheblichen Schwierigkeiten führen würde. Dem Zeugen zufolge vergingen nach einer Zusage bis zu 18 Monate, bis Betroffene ein Visum bekämen und ausreisen könnten.

Mit Blick auf die chaotischen Szenen im Kabuler Flughafen im August 2021 sagte der Zeuge, er glaube, die Gründe dafür seien praktische Herausforderungen gewesen. Er habe zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr in diesem Bereich gearbeitet. 

Zeuge aus dem Kanzleramt

Im weiteren Verlauf der Sitzung befragte der Untersuchungsausschuss einen weiteren Zeugen, diesmal einen Referenten aus dem Bundeskanzleramt. Er war im Bundeskanzleramt für die bilateralen Beziehungen unter anderem zu den Staaten Asiens verantwortlich, als das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban abgeschlossen wurde, gab dieser dieser.

Afghanistan sei nicht sein einziges Beschäftigungsgebiet gewesen, erklärte der Zeuge dem Ausschuss. Einige Krisenländer wie Afghanistan hätten aber trotzdem ungefähr ein Viertel seiner Arbeitszeit in Anspruch genommen.

Vorschläge in Washington

Nach dem Abschluss des Doha-Abkommens habe man vor zwei Herausforderungen gestanden, berichtete er. Erstens sei man der Ansicht gewesen, dass es Kriterien für die Umsetzung des Abkommens hätte geben müssen. Zweitens sollten die innerafghanischen Friedensgespräche konstruktiv unterstützt werden. Dazu habe die Bundesregierung auf Leitungsebene in Washington Vorschläge gemacht. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) habe diesen Versuch unterstützt.

Das Doha-Abkommen sei in zwei Phasen umgesetzt worden, führte der Zeuge aus. In der ersten 145-tägigen Phase, die parallel zum Wahlkampf in den USA gelaufen sei, hätten die internationalen Partner einen Teilabzug organisiert und vollzogen. Die zweite Phase sei 14 Monate lang gewesen. In dieser Zeit habe sich die Bundesregierung bemüht, das Zeitfenster für den Abzug zu entzerren, so der Zeuge. Ziel sei gewesen, einen konditionsbasierten Abzug zu erreichen und Zeit für innerafghanische Friedensgespräche zu gewinnen. Es sei darum gegangen „ein unwahrscheinliches Szenario wahrscheinlich zu machen und nichts unversucht zu lassen“, um die Entscheidungen der US-Administration zu beeinflussen.

„Ein schwieriger Partner“

Die damaligen innenpolitischen Konflikte in Afghanistan hätten dieses Vorhaben erschwert, führte der Zeuge aus. Nach der Präsidentschaftswahl 2019 hätten beide Kandidaten, Aschraf Ghani und Abdullah Abdullah, sich selbst zum Wahlsieger erklärt. Erst im Frühjahr 2020 sei die politische Krise mit einem Abkommen zur Machtteilung zwischen den beiden Lagern beendet worden. Das habe die Situation verkompliziert. Die Bundesregierung habe sogar darauf verzichtet, Aschraf Ghani zur Wahl zu gratulieren. Die afghanische Regierung sei „nach Ansicht der Bundesregierung ein schwieriger Partner“ gewesen, aber es habe keine Alternative zur Zusammenarbeit gegeben.

Zum damaligen Zeitpunkt sei die „Stärkung der Demokratie in Afghanistan nicht das Ziel der Bundesregierung“ gewesen, berichtete der Zeuge. Es sei darum gegangen, die innerafghanischen Friedensgespräche zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Man habe an die Wähler gedacht, die an die Wahlurnen gegangen seien, und sie nicht allein zurücklassen wollen. In einem Punkt seien sich alle Afghanen einig gewesen, erinnerte sich der ehemalige Kanzleramts-Referent: Sie hätten sich gewünscht, dass Deutschland eine aktive Rolle bei den innerafghanischen Verhandlungen übernimmt und die Gespräche mit den Taliban in Deutschland stattfinden. Diesem Wunsch hätte sich die Bundesregierung nicht komplett entziehen können, urteilte der Zeuge. Deshalb habe man Nutzen und Risiken einer solchen Rolle diskutiert, dabei aber immer die internationalen Partner im Blick gehabt. Am Ende hätten die Gespräche dennoch in Doha stattgefunden.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/02.12.2022)