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Rede von Wolfgang Schäuble im Plenum anlässlich seiner 50-jährigen Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag am 15. Dezember 2022

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Frau Renger war eine allseits respektierte Bundestagspräsidentin. Sie achtete streng auf die Würde des Hauses –  so wie man sie damals verstand. Als einmal ein sozialdemokratischer Kollege ohne Krawatte im Plenum saß, ließ sie ihm durch einen Parlamentsassistenten unauffällig einen Binder bringen, den dieser auch ohne Widerspruch anlegte. Ich kann mich übrigens nicht erinnern, dass die Tatsache, dass eine Frau das Amt inne hatte, mir besonders bemerkenswert erschienen wäre. Vielleicht war manches auch vor 50 Jahren schon selbstverständlicher, als heute viele glauben. Gewöhnungsbedürftig war für uns in der Union damals allenfalls, dass erstmals eine Sozialdemokratin das Amt ausübte – das ist heute allerdings auch keine Besonderheit mehr.

Übrigens hatte 1972 der erste Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums schon die Gefahren von exponentiell wachsenden Ressourcen-Verbrauchs und Umweltbelastung aufgezeigt und viel Aufmerksamkeit erfahren – und leider zu wenig praktische Schlussfolgerungen gefunden. Auch deswegen verstehe ich, warum die junge Generation heute so drängt – und sehe die Herausforderung für die parlamentarische Demokratie zu erklären, warum in der freiheitlichen Gesellschaft Prozesse oft langsam verlaufen. Schon 1973 folgte die erste Energiekrise, weil die damals von den arabischen Staaten dominierte OPEC mit einer Verknappung der Ölförderung den Westen zu einer weniger israel-freundlichen Politik zwingen wollten. Sonntagsfahrverbote in der Adventszeit 1973 waren die Folge. Der Einspar-Effekt beim Ölverbrauch war übrigens auch damals gering.

Meine Partei hatte im Wahlkampf 1972 vor allem die ansteigende Inflation mit ihren Gefahren für Wachstum und Beschäftigung thematisiert. Irgendwie hatten wir im Beifall unserer Anhänger im Wahlkampf nicht so richtig mitbekommen, dass manche Reformen der sozialliberalen Koalition 1969 bis 1972 in einer Gesellschaft, die sich in der Nachkriegszeit zunächst vor allem auf das Wirtschaftswunder konzentriert hatte, nun Zustimmung fanden. Und vor allem hatten wir nicht verstanden, dass die Fortschreibung der West-Integration mit der neuen Ost- und Deutschlandpolitik der begrenzten Zusammenarbeit unter der Überschrift „Wandel durch Annäherung“ nicht nur mit dem Friedensnobelpreis für Willy Brandt, sondern auch mit wachsender Zustimmung in der öffentlichen Meinung honoriert wurde.

Man sieht, auch wenn heute alles ganz anders zu sein scheint als vor 50 Jahren, so ist doch alles auch nicht ganz neu. Nach meinen Erfahrungen bin ich mir auch nicht so sicher, dass aus anfangs idealistischem Protest, wenn er zu strafbaren Mitteln greift, auch schlimme Entscheidungen entstehen können. Deshalb ist es gut, wenn unsere zuständigen Behörden auch hier den Anfängen wehren.

Auch wenn sich Geschichte nicht wirklich wiederholt, lassen sich aus der distanzierten Betrachtung von Entwicklungen Entscheidungshilfen für Gegenwart und Zukunft gewinnen. Dass Bereitschaft zur Zusammenarbeit und Partnerschaft nicht zum Verzicht auf Verteidigungs-, auf Abschreckungsfähigkeit führen darf, haben wir nach Putins Überfall auf die Ukraine wieder lernen müssen. Es stand so schon im Harmel-Bericht der Nato von 1967. Wir hatten dann die gesellschaftliche Debatte Ende der 70iger/Anfang der 80iger Jahre, nachdem Helmut Schmidt 1979 in der Nato den sogenannten Doppelbeschluss durchgesetzt hatte.

Der wollte eine Lücke in der Glaubwürdigkeit der Abschreckung schließen, weil die Sowjetunion mit Raketen mittlerer Reichweite, die nur Europa, aber nicht Amerika erreichen konnten, ein Bedrohungspotential geschaffen hatte, von dem Helmut Schmidt und dann auch die Nato überzeugt waren, dass es entweder beseitigt werden, oder durch eine entsprechende Aufstellung von Waffensystemen mit mittlerer Reichweite in Europa ausgeglichen werden müsse. An diesem Doppelbeschluss hat Helmut Schmidt die Unterstützung seiner Partei verloren.

Der Widerstand richtete sich bemerkenswerterweise nicht gegen die auf uns gerichteten sowjetischen Raketen, sondern gegen die zu unserem Schutz zu treffenden Maßnahmen. Meines Erachtens gehört es zu den großen Leistungen von Bundeskanzler Kohl nach dem Regierungswechsel 1982, dass er diesen Nato-Doppelbeschluss gegen heftigen öffentlichen Widerstand vollzogen hat. Vielleicht wäre die Geschichte mit Michail Gorbatschow ohne diese Entscheidung anders verlaufen. Jedenfalls hat uns Putin jetzt gezeigt, dass wir auch im 21. Jahrhundert den Frieden nur sichern können, wenn wir auch in der Lage sind, uns gegebenenfalls zu verteidigen. Wir hätten es wissen können, wir wollten es nicht sehen – wie AKK sagte.

Dass es Bedrohungen durch terroristische, asymmetrische Kriegsführung auch nichtstaatlicher Akteure gibt, haben wir am 11. September 2001 mit den Anschlägen auf das World Trade Center erfahren. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wurde danach – um Peter Struck zu zitieren – am Hindukusch verteidigt. Wir haben bis heute keine gute Antwort gefunden, wie wir auf solche Bedrohungen reagieren sollen. In Afghanistan nicht und jetzt in Mali auch wieder nicht.

Den Sieg der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, den Francis Fukuyama nach 1990 in seinem „Ende der Geschichte“ verkündete, hat Samuel Huntington in seinem „clash of civilizations“ 1996 schon hinterfragt. Noch immer suchen wir nach dem richtigen Maß an Respekt vor unterschiedlichen Kulturen, Traditionen und Wertvorstellungen einerseits und unserer universalen Verantwortung für Menschenrechte andererseits. Jedenfalls haben wir im Vergleich zu 1972, als für uns in Europa die Polarität des Ost-West-Konfliktes alles andere zu überlagern schien, die größere Vielfalt und zugleich Vernetzung globaler Strukturen lernen müssen. Und wir sehen, dass wir uns in Deutschland und in Europa sehr anstrengen müssen, wenn wir unseren eigenen Ansprüchen im globalen Ranking auch nur einigermaßen gerecht werden wollen. Vielleicht müssen wir Deutsche auch aufpassen,  dass wir nicht als Besserwisser, die ihren eigenen Ansprüchen aber selbst nicht gerecht werden, international zu viel  Sympathie verlieren. Unser insgesamt  doch eher unbefriedigender Auftritt bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar könnte  dazu manchen Beleg liefern.

Verändert hat sich jedenfalls die öffentliche Kommunikation, die sich aus den Print- und elektronischen Medien viel stärker in soziale Netzwerke verlagert hat, mit all den Gefahren für die Stabilität unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, die wir fast überall in der Welt, wo es solche Demokratien überhaupt gibt, beobachten müssen. Das Vertrauen in die Fähigkeit von Politik, Probleme zu lösen, sozialen Zusammenhalt zu gewähren, einen verlässlichen und ausgewogenen Rahmen für Freiheit und Sicherheit zu gewährleisten, nimmt ab, offenbar je mehr wir uns bemühen, jedes einzelne Problem noch besser und noch perfekter zu lösen.

Ich weiß nicht, wie viele Entbürokratisierungs-Kommissionen und -initiativen wir in diesen 50 Jahren hatten – besser geworden ist jedenfalls nichts. Föderalismus-Kommissionen hatten wir zwei groß angelegte zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung; aber niemand behauptet ernsthaft, dass die föderale Ordnung unseres Landes, die ja im Grundsatz weitgehend unbestritten ist, mit Bund und Ländern und kommunaler Selbstverwaltung derzeit in guter Verfassung sei.

Mit ungebetenen Ratschlägen will ich mich wirklich zurückhalten, so habe ich es mir in meiner Alters- und Mandatszeit begründeten Sonderrolle vorgenommen. Deshalb will ich auch Ihr freundliches Angebot, Frau Präsidentin, heute einige Worte zu sagen, jetzt nicht missbrauchen. Aber vielleicht ein Gedanke. Wie wäre es, wenn wir eine breite öffentliche Debatte anstoßen würden, wie wir unseren durch perfektionistische Überregulierung ähnlich dem gefesselten Riesen Gulliver in zu Vielem fast schon handlungsunfähig gewordenen Staat durch eine grundlegende Neuordnung der Aufgaben, auch zwischen Staat und Gesellschaft, und der Zuständigkeiten  einschließlich der Zuordnung von selbst zu bestimmenden Einnahmen von Bund, Ländern und Kommunen wieder effizienter machen könnten. Die nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaft haben vor kurzem einen interessanten Anstoß gegeben, den wir aufgreifen sollten.

Und dann könnten wir auf diesem Weg einer wieder als handlungsfähig wahrgenommenen Politik auch das Verständnis der Bürger fördern, dass Demokratie eben eine Zumutung ist und nicht nur ein Supermarkt für Schnäppchenjäger. Dass es neben Rechten auch Pflichten gibt und dass jeder nach seiner ganz eigenen, unterschiedlichen Entscheidung auch seinen Beitrag für andere und damit für das Gemeinwohl leisten kann, leisten muss.

Wir sollten auch – gerade in dem jetzt so oft beschriebenen Wettbewerb der Systeme  - bedenken, dass bei all unseren Schwächen die Grundwerte unserer freiheitlich-rechtstaatlichen Ordnung sich fast überall da auf der Welt, wo diese Werte nicht verwirklicht sind, so großer  Anziehungskraft erfreuen, dass die Unterdrückten sich danach sehnen und die Diktatoren sie fürchten. Also tragen wir Verantwortung zu zeigen, dass das auch funktioniert.

Weil wir uns, solange es uns gut zu gehen scheint, schwer tun, für notwendige Änderungen ohne zu viel Perfektionismus politische Mehrheiten zu finden, bleibe ich auch in der gegenwärtigen Krise zuversichtlich: Je mehr wir begreifen, dass wir nicht einfach so weitermachen dürfen, umso eher wächst die Chance, für notwendige Änderungen stabile Mehrheiten zustande zu bringen. Das ist die Lehre von Karl Poppers offener Gesellschaft, die im Prozess von trial und error doch immer wieder den Weg zu neuen Lösungen findet, und deshalb sind Krisen immer auch Chancen. Und so haben wir Grund zur Zuversicht. Das gilt heute genauso wie vor 50 Jahren.

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