Bürgerschaftliches Engagement

Freiwilliges Engagement wird flexibler, pluralis­ti­scher und projektförmiger

Flexibler, pluralistischer und projektförmiger läuft heute bürgerschaftliches Engagement ab, erläuterten die Sachverständigen im öffentlichen Fachgespräch des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement zum Thema „Modernes Ehrenamt, non-formales Engagement und Digitalisierung“ am Mittwoch, 14. Dezember 2022. Vereine haben nach wie vor Zulauf, auch unter jungen Leuten, aber digital vernetzte Bewegungen und Projekte wachsen noch stärker. Um die Digitalisierung als ein wesentliches Medium bürgerschaftlichen Engagements für Vereine und andere Zusammenschlüsse zu fördern, brauche es vermehrter Anstrengungen, um Vereinen und Engagierten eine nachhaltige finanzielle Ausstattung und die nötige Expertise an die Hand zu geben.

Dritter Engagementbericht der Bundesregierung

Digital können sie besser zur Gesellschaft beitragen, sind freier darin zu entscheiden, wofür sie sich engagieren und wann sie diesem Engagement nachgehen, begründeten 30 Prozent der Jugendlichen in einer Erhebung im Rahmen des Dritten Engagementberichts der Bundesregierung (19/19320) ihre Präferenz für ein Engagement außerhalb traditioneller Organisationen und 22 Prozent ihr Engagement im Rahmen online organisierter Gruppen, berichtete Prof. Dr. Jeanette Hofmann, Leiterin der Forschungsgruppe Politik der Digitalisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Diese Zahlen von 2019 würden wohl weiter zunehmen.

Das Fehlen von Hierarchien und der Notwendigkeit einer formalen Bindung, ihre Offenheit für alle, Internationalität und Ortsungebundenheit ließen projekt- und themenzentrierte Schwärme, Onlinegemeinschaften und Netzwerke im Internet für junge Leute interessanter erscheinen als Parteien oder Vereine. Der klassische Sportverein sei deswegen aber nicht obsolet, das Digitale stelle lediglich eine Erweiterung dar. „Alles wird pluralistischer.“

Hofmann sieht soziale Ungleichheit beim Engagement

Aus dem dritten Engagementbericht ergeben sich laut Hofmann drei Schlussfolgerungen: Gesellschaftliches Engagement nimmt in der jungen Generation nicht ab, sondern wird flexibler und projektförmiger. Das Engagement profitiere von der Digitalisierung. Und: Es bestehe eine erhebliche soziale Ungleichheit: Engagement sei weitgehend etwas für sozioökonomisch Privilegierte, Schüler mit geringerer Bildung stünden eher abseits. Da bestehe der größte öffentliche Förder- und Handlungsbedarf. Gesellschaftliches Engagement, vor allem als Selbstwirksamkeitserfahrung, solle in der Schule vermittelt werden.

Und die Parteien seien gefragt. Dramatischerweise lehnten viele junge Leute eine Parteimitgliedschaft für sich ab. Lieber wollten sie schnell ein hilfreiches Projekt auf die Beine stellen statt dicke Bretter in einer solchen klassischen Organisation zu bohren. Aber wer soll gesellschaftliche und demokratische Integration betreiben wenn nicht die Parteien, fragte Hofmann. Die Parteien müssten sich darüber klar werden, dass die meisten von ihnen ein Durchschnittsalter um die 60 erreicht und somit „ein Altersproblem“ hätten. Sie müssten Angebote für junge Leute machen, die deren Präferenz für spontanes, kurzfristiges Engagement aufgreifen, das sich aus dem Wunsch speise, schnell etwas ändern zu wollen. Für die Parteien gelte es, Sympathisierende stärker einzubeziehen, ohne dass diese gleich eine Mitgliedschaft in Betracht ziehen müssen.

Krimmer: Informelles Engagement ist nicht neu

Kein neues Phänomen sei das non-formale oder informelle Engagement, sagte Dr. Holger Krimmer, Geschäftsführer von Zivilgesellschaft in Zahlen. Sowohl das formale, beispielsweise in Vereinen organisierte Engagement, als auch das non-formale sei in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewachsen. Das non-formale allerdings deutlich schneller, auch getrieben durch die Digitalisierung. Was zuverlässige statistische Angaben betreffe, sei letzteres jedoch ein noch „sehr schlecht vermessener Bereich“. Spontane bürgerschaftliche Hilfe etwa in einer Verwaltungskrise wie 2015, aber auch soziale Proteste oder nachbarschaftliche Initiativen und Projekte gehörten dazu.

Die Verbindlichkeit eines Engagements nehme ohne den Status einer  Mitgliedschaft keinesfalls ab, sagte Krimmer und forderte eine Aufwertung des informellem Engagements. Dies sei eine legitime Form neben demjenigen wie es beispielsweise im Rahmen von Vereinen geschehe. Durchschnittlich wendeten informell Engagierte sogar eine höhere Stundenzahl für ihr Vorhaben auf als formal organisierte. Fördermöglichkeiten gelte es auch ohne die Form einer Rechtspersönlichkeit beispielsweise durch Mikroförderung zu schaffen.

Nicht-formales, digitales Engagement einerseits und die klassische Vereinsarbeit andererseits seien kein Gegensatz, keine Parallelwelten, sondern es bestünden fließende Übergänge zwischen beiden. Die Mitgliedschaftsbindung nicht formal Engagierter nehme sogar im Zeitverlauf zu, berichtete Krimmer. Während man einerseits eine Zunahme der Vereinszugehörigkeit beobachte, stünden Vereine andererseits vor dem Problem, dass immer weniger Mitglieder Führungsverantwortung übernehmen wollten. Daher müsse man über neue Formen der Vereinsführung nachdenken, eine arbeitsteilige Governance ohne den bisherigen, einen Vorstand.

Fridays for Future: eine nicht formale Organisation

Einblick in die Organisationsform ihrer Bewegung gab Annika Rittmann, Pressesprecherin von Fridays for Future. „Schon nach dem zweiten Treffen in einer der 400 Ortsgruppen in Deutschland können Leute mitentscheiden was bei uns passiert.“ Fridays for Future schlössen sich junge Menschen bis 30 an, die angesichts der Lage des Klimas etwas tun wollten und keine Lust hätten auf starre Strukturen und Hierarchien. Fridays for Future funktioniere ohne formale Mitgliedschaft, man sei basisdemokratisch und niedrigschwellig organisiert, jeder könne sich einsetzen wo er oder sie möchte, jede und jeder habe eine Stimme und es gebe keinen Vorstand und kaum Ämter. Eine Pressesprecherin etwa wähle man, damit die Medien sich nicht einzelne Gesichter herauspickten.

Die Organisation werde getragen von dem hohen Engagement jedes einzelnen, die je nach persönlicher Verfügbarkeit flexibel mehr oder weniger Zeit einsetzten. Man treffe sich in den Ortsgruppen oder tausche sich meist via Chat aus. „Unsere Entscheidungen für Aktionen werden in enorm kurzen Zyklen getroffen“, sagte Rittmann. Die Zusammenarbeit mit klassischen Organisationen wie Gewerkschaften sei frustrierend, da diese viel langsamer arbeiteten. Die Flexibilität des Engagements fördere Selbständigkeit und Verantwortung des einzelnen. „Das bindet wiederum an die Organisation und ist attraktiver als bei einer Partei. Wir als nicht formale Organisation können sehr dabei helfen, die Demokratie zu fördern.“

Wenn es darum gehe Gelder zu verwalten oder Spenden einzunehmen, sei man dennoch auf ein Mindestmaß an formalen Strukturen angewiesen, wie es die geltende Rechtslage fordere. Es sei aber an der Zeit beispielsweise das Gemeinnützigkeitsrecht zu ändern, damit Organisationen, die Fridays for Future unterstützen, nicht ihren Staus der Gemeinnützigkeit verlören. „Es braucht Möglichkeiten, dass nicht-formale Organisationen Unterstützung bekommen können.“ Es gebe noch eine Fülle juristischer Fragen zu klären, beispielsweise die der Haftung und Versicherung bei Demonstrationsveranstaltungen. Der Zustand als nicht eiungetragener Verein bringe Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich. Man definiere gerade noch „wer wir sind“, frage sich beispielsweise, ob man in das Lobbyregister wolle.

Weichert: Digitalisierung steht erst ganz am Anfang

„Die Zivilgesellschaft rennt der Digitalisierung hinter her, sie gestaltet sie nicht“, sagte Dr. Nils Weichert, Leiter des Bundesnetzwerkes digitale Nachbarschaft, Deutschland sicher im Netz e. V.. Bei der Digitalisierung stehe man erst ganz am Anfang. Digitales Engagement brauche eine langfristige finanzielle Perspektive, statt nur einer punktuellen Förderung. Leider sei die Zivilgesellschaft beim Digitalgipfel der Bundesregierung bislang nicht eingeladen worden. Man müsse nun massiv „Unterstützung, Förderung, Beratung reingeben“, dauerhafte Strukturen schaffen, auch das Gemeinnützigkeitsrecht und die Abgabenordnung aus der analogen Zeit herausholen und überhaupt für das Thema der Digitalisierung mehr Sichtbarkeit schaffen.

Fehlende Ressourcen in den Vereinen

Zu den Hauptstolpersteinen bei der Digitalisierung gehörten fehlende Ressourcen in den Vereinen: eine sichere finanzielle Grundlage sowie Erfahrung und weiterführendes Fachwissen, um das Thema Digitalisierung überhaupt angehen zu können. Das müsse über eine Erstausstattung mit Hardware hinausreichen und stattdessen „prozessual begleitet“ werden.

Die Verantwortlichen müssten grundlegende Fragen klären: Was bedeutet es überhaupt, meinen Verein zu digitalisieren? Was mache ich beim ersten Shitstorm? Es gelte zielgerichtet Expertise aufzubauen, Mitarbeiter zu qualifizieren und die Infrastruktur nachhaltig zu pflegen. Und schließlich brauche es eine bundesweite Vernetzung, um Vorreiter zu identifizieren, bewährte Praktiken zu teilen, institutionelles Lernen für Nachzügler sicherzustellen. Nur so könne die Digitalisierung in Vereinen gelingen. Nur wenn die Digitalisierung  nicht länger als separates Problem gesehen werde, sondern als umfassendes Querschnittsthema, könne sie in den Vereinen gelingen. (ll/14.12.2022)


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