Parlament

Rückblick auf ein Parlamentsjahr 2022 im Dauerkrisenmodus

Blick in den vollbesetzten Plenarsaal. Auf den Leinwänden über Regierungsbank und Bundesrat ist Wolodymyr Selenskyj zu sehen. Er trägt ein olivegrünes Hemd, neben ihm die ukrainische Flagge.

Drei Wochen nach Kriegsbeginn wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj per Video an die Abgeordneten des Bundestages. (DBT/photothek/Thomas Trutschel)

Den meisten wird 2022 wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Es war ein Jahr der Umbrüche und tiefgreifenden Veränderungen: Krieg in Europa, Klimakrise, Corona-Pandemie. Dazu explodierende Energiekosten und steigende Lebensmittelpreise. Zwölf Monate, die das Land in Atem hielten – und natürlich auch seine Volksvertretung.

Nicht selten saßen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bis spät in die Nacht im Plenarsaal zusammen. Sie debattierten über AKW-Laufzeiten und die Strompreisbremse, überwiesen zahlreiche Anträge und Gesetzesinitiativen in die Ausschüsse und trafen richtungsweisende Entscheidungen, von der Abschaffung des Paragrafen 219a bis zum Bürgergeld.

Schlagabtausch zwischen Koalition und Opposition

Im Plenum lieferten sich Koalition und Opposition regelmäßig einen Schlagabtausch, nicht nur während der Haushaltswochen, in denen das Parlament die Ausgaben der Bundesregierung berät und deren Generalaussprache die Opposition traditionell nutzt, um mit der Politik der Regierung abzurechnen.

Friedrich Merz am Rednerpult im Plenarsaal.

Die Generalaussprache eröffnet traditionell der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion: Unionschef Friedrich Merz. (DBT/photothek/Joerg Carstensen)

Den Ampelparteien fehle der Kompass und „jede Fähigkeit zum politisch-strategischen Denken“, kritisierte etwa Friedrich Merz, der als Chef der größten Oppositionsfraktion, der CDU/CSU, die Aussprache Anfang September eröffnete. Während der Haushaltswoche Ende November monierte er „handwerklich miserables Regierungshandeln“ und warf der Regierung Versagen in der Ukraine- wie in der Energiepolitik vor. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) konterte: Die Regierung habe bereits fast 100 Gesetze auf den Weg gebracht – darunter „einige der größten Entlastungspakete für Bürgerinnen und Bürger und Unternehmen in der Geschichte unseres Landes“.

Hitzige Debatte im ersten Ampel-Jahr

Auch jenseits der Haushaltswochen ist die Stimmung im Plenum oft aufgeladen. Die Bundestagswahl im vergangenen Herbst hatte das Kräfteverhältnis spürbar durcheinandergewirbelt: SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP schlossen sich zur ersten Ampelkoalition auf Bundesebene zusammen, die Union fand sich nach 16 Jahren mit AfD und Linken in der Opposition wieder.

Und so müssen sich die Fraktionen zu Beginn dieses ersten, vollen Ampel-Jahres erst einmal neu sortieren, nicht nur im übertragenen Sinn – auf Wunsch der Koalition tauschen Union und FDP im Plenarsaal ihre Plätze. In neuer Sitzordnung liefern sich die Abgeordneten zahlreiche Kontroversen.

Corona und die allgemeine Impfpflicht

Ein Thema, das den Bundestag auch 2022 spaltet wie kaum ein zweites, ist die Pandemie. Und so fängt das neue Jahr zunächst an, wie das alte geendet hat: mit der allgemeinen Corona-Impfpflicht. Die ist am 26. Januar Thema einer sogenannten Orientierungsdebatte. Dreieinhalb Stunden lang loten die Abgeordneten das Für und Wider eines solches Vorhabens aus. Die einen wollen eine Impfpflicht für alle Erwachsenen, die anderen einen „Mittelweg“ ab 50 und wieder andere lehnen derartige Pläne generell ab.

Ziel sei es, Argumente, Bedenken und Einwände auszutauschen, sagt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Schließlich werfe eine Impfpflicht „fachlich schwierige und rechtlich wie ethisch kontroverse“ Fragen auf. Zur Abstimmung über die konkurrierenden Konzepte entfällt denn auch der sonst übliche Fraktionszwang. Die Parlamentarier sollen in dieser sensiblen Frage allein ihrem Gewissen folgen. In einer scharfen Schlussdebatte am 7. April werben zahlreiche Abgeordnete noch einmal für die Anträge und Gesetzentwürfe ihrer Gruppen – ohne Erfolg. Am Ende fallen alle fünf Vorschläge durch und die allgemeine Impfpflicht ist vom Tisch.

Bundesversammlung an ungewöhnlichem Ort

Und während das dritte Corona-Jahr anbricht, laufen in der Bundestagsverwaltung die Vorbereitungen für die größte parlamentarische Versammlung Deutschlands: die 17. Bundesversammlung. Die besteht aus allen Mitgliedern des Bundestages – also 736 Abgeordneten – und genauso vielen Wahlleuten aus den Bundesländern. 

Blick von oben über die Galerien des Paul-Löbe-Hauses mit vielen sitzenden Menschen während der Sitzung.

Bundesversammlung an ungewöhnlichem Ort: Am 13. Februar wählen rund 1.500 Stimmberechtigten im Paul-Löbe-Haus das Staatsoberhaupt. (DBT/photothek)

Weil es jedoch für diese rund 1500 Stimmberechtigten im Plenarsaal zu eng geworden wäre, zumal während einer Pandemie, wird die Wahl in diesem Jahr nach nebenan verlegt. Im Paul-Löbe-Haus, wo sonst die Ausschüsse tagen, entscheidet sich am 13. Februar, wer für die nächsten fünf Jahre das höchste deutsche Staatsamt übernimmt. 

Mit deutlicher Mehrheit entscheidet Amtsinhaber Dr. Frank-Walter Steinmeier die Abstimmung bereits im ersten Wahlgang für sich: Er erhält 1.045 von 1.437 abgegebenen Stimmen und landet damit klar vor seinen Mitbewerbern, dem Mediziner und Sozialarbeiter Dr. Gerhard Trabert (96 Stimmen), dem Ökonom Prof. Dr. Max Otte (140 Stimmen) und der Astrophysikerin Dr. Stefanie Gebauer (58 Stimmen).

Scholz verkündet Zeitenwende

Schon wenige Wochen nach dem Jahreswechsel rückt neben die Pandemie zunehmend ein anderes Thema in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung: der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze. In einer Vereinbarten Debatte am 27. Januar diskutieren die Abgeordneten über den Umgang mit Russland, über Deeskalation und mögliche Hilfen für die Ukraine. 

Vier Wochen später, in den frühen Morgenstunden des 24. Februar, greift das russische Militär an. In Berlin ruft Olaf Scholz drei Tage nach Beginn der Invasion die „Zeitenwende“ aus. Ein Begriff, den die Gesellschaft für deutsche Sprache später zum Wort des Jahres küren wird. „Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, sagt der Kanzler in einer kurzfristig einberufenen Sondersitzung des Bundestages und kündigt ein 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen für die Bundeswehr an. „Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt.“ 

Eine Frau sitzt hinter einem Mikrofon und spricht

Parlamentspräsidentin Bärbel Bas sichert der Ukraine die Solidarität des Bundestages zu. (DBT/Xander Heinl/photothek)

Die Reihen im Plenarsaal sind an diesem Sonntag voll wie selten. Das sei auch ein wichtiges Signal der Solidarität, betont Parlamentspräsidentin Bas und bekräftigt: „Der Deutsche Bundestag und die Menschen in unserem Land stehen fest an der Seite der freien und demokratischen Ukraine.“

Selenskyj per Video im Bundestag

In den folgenden Monaten wird der Krieg in der ehemaligen Sowjetrepublik zu dem dominierenden Thema. Sanktionen gegen Russland, (schwere) Waffen für die Ukraine, ein Sondervermögen für die Bundeswehr, Hilfe für Geflüchtete. Kaum eine Sitzungswoche geht zu Ende ohne Debatte zur Lage in der Ukraine.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, steht am Rednerpult in seinem Büro.

Standing Ovations für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Deutschen Bundestag. (DBT/photothek/Thomas Trutschel)

Am 17. März, drei Wochen nach Kriegsbeginn, wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj direkt an die deutschen Parlamentarier, zugeschaltet aus der umkämpften Hauptstadt Kiew. Als um 9.05 Uhr auf der Leinwand sein Bild erscheint – Selenskyj trägt ein olivegrünes Hemd, neben ihm die ukrainische Flagge – erhebt sich das Plenum. Er nickt und winkt, das Haus applaudiert. „Helfen Sie uns, diesen Krieg zu stoppen“, appelliert er an Bundeskanzler Scholz und ruft die Abgeordneten zu mehr Unterstützung auf. 

Lieferung schwerer Waffen

Wie genau solche Hilfen aussehen können, ist Gegenstand zahlreicher, mitunter durchaus hitziger, Plenardebatten. Etwa am 28. April, als der Bundestag mit großer Mehrheit (586 Ja-Stimmen, 100 Nein-Stimmen) die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine billigt. Der gemeinsame Antrag von Koalition und Union richte das klare Signal an Kreml-Chef Wladimir Putin und die Menschen in der Ukraine, „dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte als Deutscher Bundestag stehen“, sagt SPD-Chef Lars Klingbeil.

Während AfD und Linke vor weiteren Waffenlieferungen warnen, macht Grünen-Fraktionsvorsitzende Britta Haßelmann deutlich, die Entscheidungen seien vom Grundsatz geleitet, „dass die Ukraine nach der Charta der Vereinten Nationen ein uneingeschränktes Recht auf Selbstverteidigung“ habe.

Alte Abhängigkeiten und neue Partner

Der Krieg in Europa fordert nicht nur Tausende Todesopfer und treibt Millionen in die Flucht, er verändert auch die  internationale Sicherheitsordnung. Er stellt die deutsche Außenpolitik vor neue Herausforderungen – auch sie ist eines der zentralen Themen dieses Jahres im Bundestag.

Die Abgeordneten beschäftigen sich mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten, beraten über strategische Partnerschaften, etwa die Beziehungen zu „Systemrivale“ China, diskutieren über Gaslieferungen und heimische Rohstoffgewinnung.

Abwehrschirm mit „Doppelwumms“

Und, der Krieg befeuert die Energiekrise in Deutschland. Die Kosten für Strom und Gas steigen 2022 rasant, was wiederum die Inflation in die Höhe treibt. Im Oktober überschreitet sie die Marke von zehn Prozent und klettert damit auf den höchsten Stand seit siebzig Jahren. Ein „Abwehrschirm“ in Höhe von 200 Milliarden Euro soll die Folgen der verschärften Energielage abfedern – beschließt das Parlament am 21. Oktober mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen.

Ein „Doppelwumms“, wie Bundeskanzler Scholz das kreditfinanzierte Hilfsprogramm nennt, zu dessen Maßnahmen etwa die sogenannte Gaspreisbremse gehört. Die soll für Haushalte, kleine und mittelständische Unternehmen eine Basisversorgung zu verbilligten Preisen gewährleisten. Mitte Dezember, in der letzten Sitzungswoche des Jahres, billigt der Bundestag die Initiative gemeinsam mit der Strompreisbremse.

Paragraf 219a, Osterpaket und Kita-Betreuung

Auch jenseits der aktuellen Krisen fasst der Bundestag 2022 eine Vielzahl von Beschlüssen: Im Juni beschließt er die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro sowie die Abschaffung des sogenannten Werbeverbots für Schwangerschaftsabbrüche. Paragraf 219a Strafgesetzbuch wird ersatzlos gestrichen. Damit können Ärzte künftig über Möglichkeiten zum Abbruch einer Schwangerschaft ausführlich informieren, ohne mit einer strafrechtlichen Verfolgung rechnen zu müssen.

Zwei Wochen später verabschieden die Abgeordneten das sogenannte Osterpaket, mit dem der Anteil der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 80 Prozent steigen soll und allein in der ersten Dezemberwoche passieren gleich mehrere viel beachtete Initiativen das Parlament: vom Krankenhauspflege-Entlastungsgesetz mit seinem neuen Instrument zur Personalbemessung über das sogenannte Kita-Qualitätsgesetz und den auf 2030 vorgezogenen Braunkohleausstieg im Rheinischen Revier bis hin zum Chancen-Aufenthaltsgesetz, mit dem langjährig geduldete Ausländer künftig mehr Chancen zum Erhalt eines Bleiberechts in Deutschland erhalten sollen.

Kompromiss-Suche im Vermittlungsausschuss

Zu den zentralen Beschlüssen in diesem Jahr zählt wohl auch die Einführung des Bürgergeldes, mit dem die Ampel-Regierung nach eigenem Bekunden Hartz IV hinter sich lassen will – und die die erste Anrufung des Vermittlungsausschusses in der laufenden Wahlperiode zur Folge hat. Zwar hatte das Parlament die Sozialreform am 10. November gebilligt, allerdings muss ihr auch der Bundesrat zustimmen, was dieser in seiner Sitzung wenige Tage später verweigert.  

Ein Vermittlungsausschuss soll nun einen Konsens finden. Am 23. November einigt sich das Gremium aus 16 Mitgliedern der Länderkammer und ebenso vielen des Bundestages auf eine Reihe von Änderungen: etwa eine kürzere Karenzzeit und geringere Schonvermögen. Zwei Tage später stimmen Bundestag und Bundesrat dem Einigungsvorschlag zu, das Bürgergeld kann kommen.

Hinter verschlossener Tür

Auch in den 25 ständigen Ausschüssen ist in diesem Jahr einiges los: Sie beraten hunderte Vorlagen und erarbeiten Beschlussempfehlungen, auf deren Grundlage das Plenum seine Entscheidungen trifft. Dazu kommen zahlreiche Sitzungen der vielen Unterausschüsse, des Untersuchungsausschusses und der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz sowie weiterer Gremien, etwa des Parlamentarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung.

Die Beratungen sind dabei bislang grundsätzlich nichtöffentlich, wobei die Ausschüsse beschließen können, für einen bestimmten Verhandlungsgegenstand oder Teile desselben die Öffentlichkeit zuzulassen. Das soll sich ändern, beschließt das Parlament Ende des Jahres: Die Arbeit in den Ausschüssen soll transparenter werden – und zwar unter anderem durch regelmäßige öffentliche Sitzungen.

Kleiner und moderner

Mit einer weiteren Änderung der Parlamentsarbeit beschäftigt sich in diesem Jahr ein eigens dafür eingesetztes Gremium: die Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit. Beschlossen mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen nimmt die Kommission Anfang April ihre Arbeit auf.

Blick in einen Ausschusssaal: An einem runden Tisch sitzen Frauen und Männer vor Mikrofonen.

Am 7. April konstituierte sich die Wahlrechtskommission. Sie setzt sich aus 13 Bundestagsabgeordneten und 13 Sachverständigen zusammen. (DBT/photothek/Thomas Trutschel)

Ihre Mitglieder sollen zum Beispiel Vorschläge erarbeiten, wie der Bundestag (mit 736 Abgeordneten so groß wie noch nie) in Zukunft wieder kleiner werden kann sowie sich mit digitalen Möglichkeiten für die Arbeit des Parlaments beschäftigen. Im nächsten Jahr soll die Kommission dem Bundestag ihre Empfehlungen in einem Abschlussbericht präsentieren. Der 20. Bundestag könnte also der letzte in Rekordgröße sein. (irs/19.12.2022)

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