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Redebeitrag zu Karl Gorath am 27. Januar 2023 gesprochen von Jannik Schümann

Lieber Karl Gorath,
eigentlich solltest Du hier stehen und berichten. Du bist alt geworden, 90 Jahre alt. Aber es hat nicht gereicht. 2003, im Jahr Deines Todes, wollten nur wenige Menschen Geschichten wie Deine hören. Darum stehe nun ich hier und versuche, Dir eine Stimme zu geben.
Du bist 22 Jahre jung, als Du zum ersten Mal nach § 175 verhaftet wirst. Angezeigt von einem Schulleiter - für eine Tat, die da schon einige Jahre zurückliegt. Zwei Jungen eben … Du hast Pech, wirst mit mehr als einem Jahr Gefängnis bestraft. Bist also jetzt vorbestraft. Ein Krimineller.
Geboren bist Du 1912 in Bad Zwischenahn, ziehst später nach Bremerhaven und machst eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Dann, 1934, die erste Verurteilung nach § 175 mit 22 Jahren.
Ein Jahr später - 1935 - verschärft die Hitler-Regierung den seit 1872 im Deutschen Reich bestehenden § 175 nicht nur mit höheren Haftstrafen. Ab jetzt kann nach „gesundem Volksempfinden“ verurteilt werden. Und wird verurteilt, oft auch ohne eindeutige Beweise.
Du bist jung, Karl. Noch immer. Du triffst Dich weiter mit anderen Männern. Heimlich. Klar. Wie sonst?
1938, mit 26, wirst Du erneut angezeigt und 1939 und 1940 nach § 175 zu einer Gesamtzuchthausstrafe von drei Jahren verurteilt. Im November 1942 - Du hast Deine Strafe, einschließlich der Untersuchungshaft, fast abgebüßt - wird „polizeiliche Vorbeugungshaft“ angeordnet. Als „gefährlichen Wiederholungstäter“ deportieren sie Dich im Januar 1943 in das Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Hier trägst Du erstmals auf Deiner Sträflingskleidung den Rosa Winkel für Häftlinge, die nach § 175 verurteilt worden sind.
Später hast Du berichtet, dass Dir zwei Begebenheiten zunächst beim Überleben all der Schrecken des Alltags im KZ geholfen haben: Da ich eine Ausbildung als Krankenpfleger absolviert hatte, sagtest Du, wurde ich der Krankenabteilung zugewiesen ... Ich brauchte nicht zu den täglichen Arbeitseinsätzen ausrücken. Und: Mir war es dank der Hilfe von Kameraden später möglich, meinen Rosa Winkel gegen einen Roten auszutauschen.
Doch schon wenig später machst Du Dich eines anderen KZ-Vergehens schuldig. In Deinen Worten: Die Lagerleitung hat die russischen Kriegsgefangenen aushungern lassen ... Wir haben dann versucht, Essenrationen in das Russenlager zu schmuggeln. Als das aufflog, hieß es: „Straftransport nach Auschwitz“ ... Mit vier weiteren Kameraden wurde ich dann am 1. Juni 1943 nach Auschwitz deportiert.
Hier sehen wir Dich als Häftling in Auschwitz im Jahr 1943.
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Zu diesem Zeitpunkt bist Du 31 Jahre alt. Immerhin trägst Du ab hier den Roten Winkel der politischen Häftlinge. Ein deutlicher Vorteil. Denn es ist ja kein Geheimnis, dass die Häftlinge mit den Rosa Winkeln sowohl beim Wachpersonal als auch bei Mitgefangenen ganz unten in der Hierarchie stehen. Der ehemalige Lagerkommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, notiert kurz vor seiner Hinrichtung 1947 in sein Tagebuch über die Häftlinge mit dem Rosa Winkel: Bei diesen half keine noch so schwere Arbeit, keine noch so strenge Aufsicht. Da sie von ihrem Laster nicht lassen konnten oder nicht wollten, wussten sie, dass sie nicht mehr frei würden. Dieser stärkst wirksame psychische Druck bei diesen meist zartbesaiteten Naturen beschleunigte den physischen Verfall. Kam dazu noch etwa der Verlust des „Freundes“ durch Krankheit oder gar durch Tod, konnte man den Exitus voraussehen. Der „Freund“ bedeutete diesen Naturen in dieser Lage alles. Es kam auch mehrere Male vor, dass zwei Freunde gemeinsam in den Tod gingen.
Dir gelingt es, wieder als Pfleger im Krankenrevier zu arbeiten. Du steigst sogar zum Blockältesten auf. Zwei junge polnische Häftlinge werden Dir zugeordnet - ihre Namen wirst Du niemals mehr vergessen -: Tadeusz und Zbigniew, 21 und 15 Jahre alt. Du liebtest sie, sagst Du später. Und versuchtest alles, um sie zu schützen. Irgendwann werdet Ihr auseinandergerissen, die Spuren verlieren sich. Ob sie überlebt haben? Diese Frage beschäftigt Dich bis an Dein Lebensende.
Kurz vor der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee - heute, am 27. Januar vor 78 Jahren - wirst Du auf einen Transport Richtung Westen geschickt, den Du nur knapp überlebst. In Deinen Worten: Am 8. Mai 1945 ... war ich an Ruhr erkrankt und fast schon tot. Ein französischer Arzt hat mich aus einem Berg von Leichen gezogen und wieder hochgepäppelt.
Nach dem Krieg lebst Du wieder in Bremerhaven. Doch schon im März 1946 wirst Du erneut verhaftet und im September wegen „schwerer Unzucht unter Männern“ nach § 175 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Zu Deinem Entsetzen empfängt Dich im Gerichtssaal derselbe Richter, der Dich schon einmal verurteilt hat, mit den Worten: „Sie sind ja schon wieder hier!“ Einen Antrag Deines Verteidigers, die Zuchthausstrafe um die Zeit der KZ-Haft zu verkürzen, lehnt er ab. Du musst die fünf Jahre Zuchthaus voll verbüßen.
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945 wurden in Deutschland circa 50 000 Männer nach § 175 verurteilt. Etwa 10 000 von ihnen kamen nach Abbüßung der Strafe in verschiedene KZs.
Etwa ebenso viele wurden von 1945 bis 1969 in der Bundesrepublik Deutschland verurteilt - nach der seit 1935 noch immer gleichen Fassung des Paragrafen.
Später berichtete Karl Gorath: Ich habe dann zehn Jahre keine Arbeit mehr bekommen, denn ich war ja richtig vorbestraft. Später hat man mir die Haftzeit auch noch von meinem Rentenanspruch abgezogen ... Meine Rente lag unter Sozialsatz.
Noch aus der Haft heraus hatte Karl Gorath ab 1950 mehrmals Anträge auf Wiedergutmachung für in der NS-Zeit erlittenes Unrecht gestellt. Sie wurden allesamt abgelehnt. 1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht, dass die nationalsozialistische Fassung des § 175 kein NS-Unrecht sei, sondern „geltender Rechtsauffassung“ entspreche.
Nach seiner Haftentlassung und mehr als zehn Jahren der Arbeitslosigkeit fand Karl Gorath bis zur Rente eine Anstellung bei der Seemannsmission in Bremerhaven. Mehrfach beantragte er, die Jahre der KZ-Haft auf seine Rente anzurechnen. Auch diese Anträge wurden wiederholt abgelehnt, zuletzt 1980 vom Bremer Sozialgericht, weil, wie es hieß, „der Kläger [kein] Verfolgter ist, sondern [bestraft worden war], wegen der von ihm begangenen Sittlichkeitsdelikte“.
Erst als sich junge Leute beim Bremer Rat&Tat-Zentrum, allen voran der Soziologe Jörg Hutter, für ihn einsetzten, gelang es endlich, dass seine monatliche Rente über den Bremer Härtefonds um bescheidene 500 DM aufgestockt wurde. Im selben Jahr 1989 schloss Karl Gorath sich einer Studienfahrt junger homosexueller Männer aus Norddeutschland an, die als erste offen schwule Gruppe nach Auschwitz reisten, um als Gruppe Freiwilliger von Aktion Sühnezeichen bei Instandsetzungsarbeiten in der Gedenkstätte mitzuhelfen. Und um im Archiv nach Zeugnissen von §-175-Häftlingen zu suchen. Hier sehen wir Karl Gorath bei seinem Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz.
(Fotos auf der Medienwand im Plenarsaal)
Ihm war bei dieser Reise nur eines wichtig: herauszufinden, was aus seinen damals jungen polnischen Freunden Tadeusz und Zbigniew geworden war. Hatten sie, wie er, überlebt? Im Archiv wurden ihm Dokumente gezeigt, nach denen die Namen beider junger Polen auf einer Todesliste notiert sind. Der inzwischen 77-Jährige war darüber so erschüttert, dass er die Reise abbrach und allein zurück nach Bremerhaven fuhr.
Karl Gorath starb im März 2003 mit 90 Jahren - ohne die Wahrheit über die beiden jungen Polen zu erfahren. Die kam erst vor Kurzem - 2020 - ans Tageslicht. Im Rahmen des polnisch-deutschen Forschungsprojektes „Erinnern in Auschwitz - auch an sexuelle Minderheiten“ fand die polnische Historikerin Dr. Joanna Ostrowska nicht nur heraus, dass beide Männer überlebt hatten. Einer von ihnen, Zbigniew K., begleitete 1989 - als Karl Gorath dort nach Unterlagen über sein Schicksal suchte - noch als Zeitzeuge Führungen in der Gedenkstätte Auschwitz. Zbigniew starb erst 2012.
Vielleicht kannst Du etwas mehr Frieden finden in dem Wissen, dass Deine jungen polnischen Freunde überlebten. Vielleicht kannst Du uns heute zuhören, lieber Karl.

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