1. Untersuchungsausschuss

Sachverständiger fordert Ortskräfte-Konzept für Deutschland

Soldaten der Bundeswehr laufen über einen Markt in der Stadt Kundus im afghanischen Kundus Patrouille (Foto vom 23.11.2004)

Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. (© picture-alliance/ dpa/dpaweb | Peter Endig)

Der Vorsitzende des Patenschaftswerks Afghanische Ortskräfte, Markus Grotian, hat sich am Donnerstag, 26. Januar 2023, im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages für ein Ortskräfte-Konzept ausgesprochen, um chaotische Zustände wie in Kabul im Jahr 2021 bei zukünftigen Evakuierungen zu vermeiden. Für „jeden, der für uns arbeitet“, müsse eine Gefährdungsanalyse gemacht werden, sagte Grotian, der bereits bei zahlreichen öffentlichen Auftritten auf die Probleme der Ortskräfte aus Afghanistan hingewiesen hat. Die Gefährdungsanalyse müsse regelmäßig aktualisiert werden. Nur so könne den Menschen geholfen werden, die sich in ihren Ländern für Deutschland exponierten, mahnte der Berufssoldat. 

Für deutsche Staatsbürger existiere ein Evakuierungsregularium, für Ortskräfte jedoch nicht, betonte der Zeuge. Die Zahl der gegebenenfalls zu rettenden Menschen müsse jedoch im Vorfeld bekannt sein. Außerdem dürften Mitarbeiter von Subunternehmern in Zukunft nicht aus dem Ortskräfteverfahren ausgeschlossen werden.

Schwierigkeiten bei der Familienzusammenführung

Grotian beschrieb chaotische Zustände bei den deutschen Behörden vor und während der Evakuierung in Afghanistan im Jahr 2021. Wer zu den Ortskräften und deren Kernfamilie zählte, sei lange umstritten gewesen. Selbst nachdem die Definition der aufnahmeberechtigten Personengruppe geändert und dieser Kreis erweitert worden sei, hätten die Behörden mangels entsprechender Weisungen Schwierigkeiten gehabt, diese Änderungen umzusetzen. Die Änderung der Definition während der Evakuierung habe die Operation erschwert, sagte der Zeuge.

Als einen wichtigen Punkt bei der Evakuierung und Integration der Ortskräfte nannte Grotian die Familienzusammenführung. Die afghanischen Ortskräfte, die bis 2015 aus dem Land geholt wurden, seien später frustriert gewesen, weil der Familiennachzug zu lange gedauert oder nicht funktioniert habe. Im August 2021 habe er im Bundesinnenministerium eine Weisung gesehen, der zufolge die Ortskräfte bei der Antragstellung begründen mussten, warum ihre volljährigen Kinder nicht in Afghanistan bleiben dürften. Die Anträge seien bereits im April 2021 gestellt worden.

Zeuge: Tricks bei Vertragsabschlüssen mit Ortskräften

Ortskräfte seien bei internationalen Einsätzen wertvoll und wichtig, sagte Grotian. Sie würden die Bundeswehrlager putzen oder bewachen und gesellschaftliche und sprachliche Lücken überbrücken. Sie würden umso wertvoller, je länger der Einsatz dauere. Seiner Beobachtung zufolge würden die Arbeitsverträge mit den Ortskräften in einer rechtlichen Grauzone abgeschlossen. Die Verträge seien nur auf Deutsch gültig, aber die Ortskräfte sprächen selten Deutsch. Widersprechen könnten sie innerhalb von drei Monaten in Bonn, was für Menschen in Afghanistan kaum möglich sei. Außerdem riskierten sie eine sofortige Entlassung, wenn sie Widerspruch meldeten, was oft vorgekommen sei. Er habe den Eindruck, mit solchen „bürokratischen Tricks“ sei versucht worden, die Ortskräfte an einer Einreise nach Deutschland zu hindern. 

In den Jahren 2014 bis 2015 hätten etwa 40 Prozent der Ortskräfte eine Zusage bekommen. Nach der großen Flüchtlingswelle im Jahr 2015 sei diese Zahl auf ein bis zwei Prozent gesunken. Vor diesem Datum habe das Prinzip „im Zweifel für die Afghanen“ gegolten, danach „im Zweifel gegen die Afghanen“, urteilte Grotian. 

Brief an Kanzlerin Merkel

Er habe versucht, die Probleme darzustellen und mit mehreren Briefen und E-Mails vor allem die Politiker zu erreichen, die für die entsprechenden Regelungen verantwortlich seien. So habe er unter anderem auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angeschrieben. In der Regel habe er keine Antwort bekommen. Nachdem der Untersuchungsausschuss die Ministerien nach Unterlagen gefragt habe, hätten ihn diese um Erlaubnis für die Weitergabe gebeten. Da habe er verstanden, dass die Mails bei den Adressaten angekommen seien.

Der Zeuge informierte den Ausschuss auch über die Arbeit seines Vereins. Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte e.V. sei nicht nur für die Ortskräfte der Bundeswehr, sondern für alle Ortskräfte zuständig, die für deutsche Ministerien gearbeitet hätten. Der Verein begleite die ehemaligen Ortskräfte in drei wichtigen Säulen ihrer Integration. Grotian definierte diese als „Sprache lernen, einen Job und eine eigene Wohnung haben“. Das seien die Voraussetzungen, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, was das Ziel sei. Die Sitzung des Untersuchungsausschusses wurde in der nicht-öffentlichen Anhörung eines Mitarbeiters des Bundesnachrichtendienstes (BND) fortgesetzt.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/ste/20.01.2023)