1. Untersuchungsausschuss

Brigadegeneral Ansgar Meyer: Abzug von langer Hand geplant

Das verlassene Camp Marmal in Mazar-e Sharif/Afghanistan während der Rückverlegung und Ende der Mission Resolute Support (RSM), am 24.06.2021.

Das verlassene Camp Marmal in Mazar-e Sharif/Afghanistan während der Rückverlegung und Ende der Mission Resolute Support (RSM), am 24.06.2021. (Bundeswehr/Torsten Kraatz)

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Bundestages, der den Abzug aus Afghanistan untersucht, hat in seiner Sitzung am Donnerstag, 9. Februar 2023, den letzten Kontingentführer des deutschen Einsatzkontingents in Masar-e Scharif, Brigadegeneral Ansgar Meyer, befragt. Meyer, der den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan organisiert und geleitet hat, informierte den Ausschuss ausführlich über Vorbereitungen und Durchführung. Er habe von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel den Auftrag bekommen, einen geordneten Abzug zu organisieren, erklärte er. Diesen Auftrag habe er erfüllt.

Meyer: Endgültiger Abzugsbefehl kam erst im April 2021

Bei seinem Dienstantritt in Afghanistan habe es im Norden des Landes mit Masar-e Scharif, Kunduz und Camp Scharif drei Bundeswehr-Standorte gegeben. Dort seien Informationen gesammelt worden, um sich ein Bild über die Sicherheitslage machen zu können. Dafür habe es regelmäßige Gespräche, sei es in Präsenz, sei es über Telefon, mit leitenden afghanischen Beamten gegeben. Da diese Quellen jedoch nicht immer sicher waren, habe die Bundeswehr aus alten Mitarbeitern ein Netzwerk gebildet. Außerdem habe die klassische nachrichtendienstliche Aufklärung Informationen geliefert.

Der Abzug sei von langer Hand geplant gewesen, betonte Meyer. Die Pläne seien aber immer wieder an die aktuelle Lage angepasst worden. Dabei sei man bemüht gewesen, dass deutsche Kontingent „schmal und agil zu halten“, ohne die Eigensicherung zu gefährden. Die Bundeswehr habe frühzeitig, noch Ende 2020 angefangen, Material und Personal aus Afghanistan abzuziehen. Der endgültige Abzugsbefehl sei jedoch erst im April 2021 gekommen. Bis dahin sei nicht klar gewesen, wie die Mission weitergehen würde, ob die Bundeswehr vollkommen abziehen oder in eine Nachfolgemission eingegliedert werden würde.

Zeuge: Wenige afghanische Überläufer nach Abzug

Als im April 2021 der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) nach Afghanistan gekommen sei, habe er ihn im Rahmen eines Lagevortrages über die kritische Sicherheitslage aufgeklärt, sagte der Zeuge. Damals hätten die Taliban enormen Druck auf die in den letzten Monaten sehr geschwächten afghanischen Sicherheitskräfte ausgeübt. Im Hauptquartier in Kabul sei man davon ausgegangen, dass die afghanischen Kräfte nach einem Abzug ohne logistische Unterstützung höchstens sechs Monate Widerstand leisten könnten. Diesen Punkt verdeutlichte der Brigadegeneral am Beispiel der afghanischen Luftwaffe. Diese sei sehr professionell, aber jede Nacht im Einsatz gewesen, und habe dementsprechend Munition eingesetzt.

Nach Abzug der internationalen Truppen habe es in der afghanischen Armee wenige Überläufer gegeben. Vielmehr hätten die Soldaten ihre Waffen niedergelegt und seien nach Hause gegangen. Die erfolgreiche Propaganda der Taliban einerseits und ihre Terrormethoden andererseits seien der Grund dafür gewesen.

Stellungnahme gegen Evakuierung von Ortskräften

Meyer betonte, dass bei langfristiger Planung und wenn zivile Maschinen zur Verfügung gestellt worden wären, auch die Ortskräfte mit der Bundeswehr hätten ausgeflogen werden können. Aber ohne diese zusätzlichen Möglichkeiten sei es nicht möglich gewesen. Er habe sich aber in einer Stellungnahme gegen die Evakuierung von 300 Ortskräften und ihrer Familien ausgesprochen. Denn zu diesem Zeitpunkt hätte eine solche Evakuierung, seiner Ansicht nach, die Eigensicherung gefährdet.

Dem Zeugen zufolge habe es zu keinem Zeitpunkt Pläne zur Evakuierung der Ortskräfte gegeben. Vielmehr sei geplant gewesen, den Ausreisewilligen die Möglichkeit anzubieten, auszureisen. Er habe die Vorgaben aus Deutschland umgesetzt. Während der ersten Registrierung habe es ohnehin auch von Seiten der Ortskräfte keinen Druck gegeben. Dieser sei erst später, in den letzten zwei Wochen, entstanden.

„Phase des Abzugs macht Truppen verwundbar“

Meyer, der den Abzug der deutschen Truppen aus Afghanistan organisiert und durchgeführt hat, betonte, die Truppen seien in der Phase des Abzugs im Prinzip sehr verwundbar, daher müsse die Zeit sehr kurz gehalten werden. Dennoch sei die Sicherheit des deutschen Kontingents in Afghanistan sichergestellt gewesen - unter anderem auch durch die enge Kooperation mit niederländischen Truppen. Auch habe die Führung des deutschen Kontingents die Lage sehr früh und sehr offen kommuniziert.

Zu diesem Zeitpunkt habe man täglich 120 bis 140 Zwischenfälle im ganzen Land registriert. Auch im Norden, wo die Bundeswehr unter den internationalen Truppen die Führungsrolle inne hatte, sei die Sicherheitslage angespannt gewesen. Die Taliban hätten zwar keine große Flächen kontrolliert, seien jedoch in der Lage gewesen zu entscheiden, wo sie zuschlagen: „Das hat sie unberechenbar gemacht.“

Rückverlegung des deutschen Kontingents

Als er den damaligen Außenminister Heiko Maas in Afghanistan getroffen habe, sei davon ausgegangen worden, dass die afghanische Armee nach dem Abzug internationaler Truppen mittelfristig nicht dagegen halten könne. „Mittelfristig“ sei ein Jahr, erklärte der Brigadegeneral auf Nachfrage der Abgeordneten. Meyer beschrieb die Rückverlegung des deutschen Kontingents als „sehr emotionale Angelegenheit“. Viele der Soldatinnen und Soldaten seien mehrmals in Afghanistan im Einsatz gewesen und hätten gewusst, dass sie das Land wahrscheinlich zum letzten Mal verließen.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ihm persönlich den Auftrag gegeben, einen geordneten Rückzug zu organisieren und durchzuführen. Zumindest den militärischen Teil dieses Auftrages hätten sie erfüllt. Wenige Wochen später habe er jedoch im Fernsehen „Saigon gesehen“, wie Meyer es ausdrückte. Das sei für ihn ein Schock gewesen. Es sei ihm keineswegs gleichgültig gewesen, die für Ende Juni geplanten Charterflüge für die Ortskräfte der Bundeswehr letztendlich zu stornieren. Er sei damals zuversichtlich gewesen, dass es noch möglich sein würde, die Ortskräfte, sobald alles geregelt sei, mit kommerziellen Flügen außer Landes zu bringen. Es sei damals noch nicht klar gewesen, wie man mit den Ortskräften umgehen sollte. „Das war noch in der Mache“, sagte Meyer. Man habe keine falschen Erwartungen wecken wollen.

Planung und Durchführung von Evakuierungsoperationen

Anschließend trat ein Oberstleutnant der Bundeswehr als Zeuge vor dem Ausschuss auf, der die Evakuierungsoperation in Afghanistan geplant hat. Er informierte die Abgeordneten über die Modalitäten bei der Planung und Durchführung von Evakuierungsoperationen. Als Beauftragter für Krisen- und Risikomanagement sei es seine Aufgabe, die Grundlagen zu legen für die Evakuierung deutscher Staatsbürger aus Krisengebieten, aber auch von Europäern und Staatsangehörigen anderer Staaten, mit denen es diesbezügliche Abkommen gebe. Außerdem sei er verantwortlich für die Vorbereitung dieser Operationen, für die Aufstellung dazu notwendiger Kräfte und für Eventualfallplanungen.

Der 57-jährige Berufssoldat, der seit 2011 diesen Job macht, erklärte, er sei an der Vorbereitung des Abzugs und der Evakuierungsoperation in Afghanistan beteiligt gewesen, habe aber seinen Standort in Deutschland nicht verlassen. Vor einem Abzug müssten Vorbereitungen und Absprachen mit anderen Staaten getroffen werden, da man grundsätzlich ein Gastland brauche, in das die Truppen zunächst ausgeflogen würden. Der Abzug sei im Frühjahr 2021 geplant worden. Bei der Planung von Evakuierungsoperationen wisse er nie, ob es sich um militärisches Personal oder Zivilisten handele, berichtete der Zeuge. Diese Operationen seien immer ressortübergreifend. Zur Planung werde ihm eine Personenzahl genannt. Wer genau auf der Liste stehe, wisse er nicht, die Einsatzkräfte müssten die Liste jedoch haben, um die Identitäten der Evakuierenden zu überprüfen. Diese Vorgaben kämen vom Auswärtigen Amt.

Drei Operationsoptionen

Es gebe drei Operationsoptionen: Die schnelle Luftabholung, die der Zeuge auch diplomatische Abholung nannte, weil diese in der Verantwortung des Auswärtigen Amtes liege. Die zweite Option sei die schnelle Luftevakuierung, die anders als die erste Option militärisch sei. Die dritte Option, die robuste Evakuierung, sei bei der Operation in Kabul angewandt worden. Dafür sei „eine gewisse Durchsetzungsfähigkeit notwendig“ - also mehr Personal und mehr Transportmittel.

In Kabul habe man gedacht, die Botschaft könne angeflogen oder angefahren werden. Beides sei letztendlich nicht möglich gewesen. Ja nach Lage müssten die Planungen immer angepasst werden. Das gelte auch, was die Personenzahl angeht. Ihre Zahl könne sich verringern, aber auch, wie es in Afghanistan der Fall gewesen sei, erheblich erhöhen. Letztendlich habe die geplante Evakuierung in Afghanistan in leicht abgewandelter Form stattgefunden.

Fragen der Abgeordneten zur Einsatzbereitschaft

Als die Ausschussmitglieder fragten, warum es vier Tage in Anspruch nahm, die Flugzeuge nach Afghanistan zu schicken, obwohl die Luftwaffe signalisiert habe, die Maschinen seien flugbereit, erklärte der Zeuge, die für die Operation notwendige Kräfte hätten zum Teil aus dem Urlaub zurückgeholt werden müssen.

„Die Zusage, dass die Maschinen fliegen können, ist eine Sache“, sagte der Oberstleutnant, „aber die Kräfte müssen auch am Flughafen sein.“ Am dritten Tag seien die Kräfte in die Bereitschaftsräume gebracht worden, während weitere Vorbereitungen getroffen wurden. Schließlich seien die Maschinen am vierten Tag, wie vorgegeben, abgeflogen. Dass es so lange gedauert habe, könne auch an der Luftraumfreigabe gelegen haben, meinte der Zeuge. Unter Berücksichtigung der dynamischen Lage in Afghanistan und der Urlaubsphase seien vier Tage Vorlauf für die Evakuierungsoperation nicht lang gewesen.

Evakuierung erfolgte nach Vorgaben 

Die Einsatzkräfte hätten die Vorgabe gehabt, nur diejenigen zu evakuieren, die auf der Liste standen und ihre Identität nachweisen konnten. „Der Soldat vor Ort entscheidet nicht“ sagte er. Die Vorgaben würden an anderer Stelle gemacht und vor Ort umgesetzt. Persönlich könne er sich jedoch vorstellen, dass man von den Vorgaben abweichen könne, weil man menschlich sagen könne, das gehe so nicht.

Der Zeuge berichtete außerdem, die Operation in Kabul sei bereits evaluiert worden, weil Handlungsbedarf gesehen wurde. Der Untersuchungsausschuss hat in den späten Abendstunden einen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes in einer geheim eingestuften Sitzung angehört, der einige Wochen zuvor bereits in einer nicht-öffentlichen Sitzung ausgesagt hatte.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (csr/10.02.2023)

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