Zusammenarbeit ziviler und militärischer Kräfte in Afghanistan
Zeit:
Montag, 27. Februar 2023,
13
bis 15 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.900
Um das kriegszerstörte und vielfach fragmentierte Afghanistan nach 2001 sicherheitspolitisch zu stabilisieren, staatliche Strukturen aufzubauen und eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung anzuschieben, waren die dezentralen Wiederaufbauteams („Provincial Reconstruction Teams“, PRTs) der internationalen Allianz genau der passende Ansatz, sagten die zur öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands am Montag, 27. Februar 2023,geladenen Sachverständigen. Das Gremium beleuchtete einmal mehr die meist als Stabilisierungsphase bezeichneten Jahre 2002 bis 2008 der ISAF-Mission (International Security Assistance Force) und fragte insbesondere nach der Zusammenarbeit ziviler und militärischer Kräfte, von Ressorts und internationalen Partnern, sowie nach der Wirkung des Engagements und den Lehren für künftige Einsätze.
Staatsaufbau auf Ebene der Provinzregierungen
Auch wenn der Afghanistaneinsatz insgesamt am Ende gescheitert sei, hätten die internationalen Kräfte, gerade über die PRTs, in all den Jahren an vielen Orten beträchtliche lokale Erfolge vorweisen können, gab Botschafter Hermann Nicolai, ziviler Leiter des Provincial Reconstruction Teams in Kundus 2009 und 2010/11 sowie Director for Governance Support im ISAF-Hauptquartier 2009/2010, zu bedenken: beim Straßenbau, Schulbau, belegbar an steigenden Schülerzahlen oder in der Gesundheitsversorgung. Nicht zuletzt aus diesen sich verbessernden Indikatoren in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens, sichtbaren Fortschritten, hätten die Soldaten die Motivation für ihren Einsatz gezogen.
Das Bewusstsein der Menschen für die Bedeutung des Staates, die Erfahrung eines zunehmend funktionierenden Staates, habe die Leute zunächst resistenter gegen Verlockungen der Taliban gemacht. „Das alles geschah mit Hilfe der PRTs. Für Afghanistan war es das passende Format“, resümierte Nicolai. Zu deren Erfolgsbedingungen habe gehört, dass sie sich an ihren Grundauftrag hielten, die Provinzregierungen beim Staatsaufbau („nation building“) zu unterstützen, um durch einen spürbaren Zugewinn an Sicherheit und Entwicklung das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat zu stärken, und, dass sie angemessen ausgestattet worden seien, um diese Zielsetzung zu erfüllen. Keinesfalls sei es Aufgabe der PRTs gewesen, selbst als entwicklungspolitische Akteure aufzutreten oder humanitäre Hilfe zu leisten, ja überhaupt Ansprechpartner für die lokale Bevölkerung zu sein.
Mangelnde politische Führung
„Das ist unterschiedlich gelungen. Die von Deutschland geführten PRTs waren gut ausgestattet.“ Andere wiederum hätten kaum über Ressourcen verfügt. Geschwächt worden sei das PRT-Konzept durch die mangelnde politische Führung der Zentralregierung sowie auch der Provinzregierungen. Das habe die PRTs orientierungslos gemacht. Außerdem hätten die ausländischen Helfer lokale Dynamiken nicht verstanden, die immer wieder die Taliban auf den Plan gerufen hatten. Habe den lokalen, um ihren Machterhalt besorgten und gewaltbereiten Eliten ein politischer Hoffnungsträger, der seine Sache im Sinne des rechtsstaatlichen und demokratischen Wiederaufbaus gut machte und an Beliebtheit gewann, nicht in dem Kram gepasst, hätten diese kurzerhand ein kleines Mädchen mit Blumenstrauß und Sprengstoffgürtel zur nächsten Veranstaltung mit dem Politiker geschickt und den Mann beseitigt.
Die widrigen topografischen, klimatischen Rahmenbedingungen und das Ausmaß an nicht vorhandener Staatlichkeit und Entwicklung im Norden des Landes, in Kundus, machte Bernd Schütt, Generalleutnant beim Einsatzführungskommando der Bundeswehr, anschaulich, der auf Einsätze als Kommandeur in Afghanistan in den Jahren 2006, 2011 und 2014 zurückblickte. Wie gut passten damals afghanische Realität und politischer Auftrag zusammen, wollte die Enquete-Kommission wissen.
„Punktuelle Schwerpunktsetzungen“
Da der „umfassende Auftrag“ zur Leitung eines PRTs - Unterstützung der lokalen Regierung beim Wiederaufbau, Aufbau einer Polizei, Schaffung eines sicheren Umfeldes, Entwaffnung illegal bewaffneter Gruppen - „keine Zielstellung enthalten“ habe, „mussten wir diese selbst definieren“. Außerdem habe die Größe des Verantwortungsbereichs, die ungefähr der Fläche Dänemarks entsprochen habe, „punktuelle Schwerpunktsetzungen“ seitens des anfangs lediglich „360 bis 400 Personen“ umfassenden, multinationalen Stabes nötig gemacht. „Die Kräfte reichten bei weitem nicht, um Sicherheit und Gewaltmonopol des Staates herzustellen.“
Dennoch habe man es über die Jahre erricht, eine halbwegs stabile Sicherheitslage als Grundlage für eine zivil-militärische Zusammenarbeit und die Entwicklung der „bettelarmen Region“ herzustellen. Das deutsche Engagement, gemeinsam mit internationalen Partnern, sei getragen gewesen von dem Geist, den Aufbau des Landes langfristig zu begleiten und dabei auf eine möglichst starke afghanische ownership zu setzen. Das PRT sei von einer Doppelspitze, aus dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium der Verteidigung, geleitet worden und habe zivile und militärische Kräfte im Verhältnis von 1 zu 30 umfasst.
Zeuge: Taktische Erfolge trotz fehlender Strategie
Trotz eigener Gefährdung habe die Truppe, zivile Kräfte wie Soldaten, „den Auftrag gelebt“, sagte Schütt. Die Zusammenarbeit mit der Provinzregierung in wöchentlichen Meetings bezeichnete er als „aufgeschlossen und zielorientiert“. Die Bilanz des Einsatzes in dem PRT, das von 2003 bus 2013 bestand, sei akzeptabel gewesen, aber, auf Afghanistan bezogen, eben regional begrenzt. Durch die fehlende strategische Zielsetzung habe das PRT seinen Auftrag nur begrenzt erfüllen können. Eine fehlende Strategie verhindere aber nicht taktische Erfolge, resümierte der General.
Als Lehre für kommende Einsätze empfahl er, die Gegebenheiten vor Ort besser in den Blick zu nehmen, die Ziele nicht zu hoch zu stecken, sich Zwischenziele zu setzen, Ziele und Methoden regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen, nötigenfalls auch nach unten. Außerdem müsse das eigene Durchhaltevermögen von Beginn an mitgedacht werden. „Ziele und Fähigkeiten, nicht Obergrenzen, sollten das Mandat bestimmten.“ Und schließlich müsse ein Mandat der Truppe immer genug Spielraum für den Fall von Eskalationen lassen, gab er den Parlamentariern mit.
„Ein Militäreinsatz kann nur temporär helfen“
Der PRP-Ansatz sei ein gangbarer Weg, im Krisenfall hätten alle vor Ort immer gut zusammenarbeitet. „Man kennt sich, man spricht miteinander. Davon zehren wir noch heute.“ Allerdings: Ein Militäreinsatz könne immer nur temporär helfen, die Bedingungen für einen Wiederaufbau zu schaffen. Die eigentlichen Konfliktursachen müssten seitens der Politik und Gesellschaft des betroffenen Landes beseitigt werden.
Die Anfangsjahre der Wiederaufbaubemühungen in dem von über zwei Jahrzehnten Krieg zertrümmerten Land beschrieb die Frauenrechtlerin und Ärztin Dr. Sima Samar, 2001-2002 afghanische Ministerin für Frauenangelegenheiten und 2002-2005 Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan. In der ersten Interimsregierung unter dem von den USA eingesetzten Präsidenten Hamid Karsai habe man damit begonnen, Afghanistan in ein demokratisches Land zu verwandeln. Außer ein paar zerstörten Gebäuden hätten die Taliban nichts zurückgelassen. Es habe keinerlei staatliche Strukturen oder irgendein Recht gegeben.
Aufbauphase mit Startproblemen
Als neue staatliche Stellen seien zunächst diejenigen aufgetreten, die zuerst nach Kabul gekommen seien. „Jeder versuchte eine Position zu ergattern.“ Es habe viele Startprobleme gegeben. Anfangs sei Präsident Hamid Karsai noch daran interessiert gewesen, die Taliban als eine der politischen Kräfte des Landes einzubeziehen. Dann sei die internationale Gemeinschaft gekommen, viele, die helfen wollten, aber ohne eine echte Strategie. „Es war ja ein Notfall. Es gab keine richtige Kooperation. Der Opiumschmuggel ging weiter.“
Während des Beginns dieser noch stark von Hoffnungen und Erwartungen geprägten Aufbauphase in Afghanistan habe dann 2003 US-Präsident George W. Bush entschieden, im Irak zu intervenieren, und damit die Prioritäten der Weltpolitik verschoben, ja von Afghanistan abgelenkt, „noch bevor Afghanistan richtig stabil war. Bush sagte: Der Krieg gegen die Taliban ist gewonnen.“ Sie habe damals die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice bei einem Treffen beschworen: „Geht nicht in den Irak. Baut erst Afghanistan als Beispiel für ein funktionierendes Staatswesen auf.“
Wichtigste Fehler bei Stabilisierungsbemühungen
Samar listete die aus ihrer Sicht wichtigsten Fehler der Stabilisierungsbemühungen um Afghanistan auf. Nach den sechs Monaten Übergangsregierung sei es bei den Wahlen zu gravierenden Unregelmäßigkeiten gekommen. Viel zu viele personalisierte Wahlkarten seien in Umlauf gewesen, ohne Foto, da manche Stammesführer das Fotografieren von Frauen untersagt hatten, auch Minderjährige seien schließlich zur Abstimmung geschickt worden. Das habe zu unzähligen „Geisterstimmen“ geführt. „Damit lehren wir unseren Kindern, dass Demokratie Betrug ist“, habe sie protestiert. Die ganze Politik damals sei ständig nur reaktiv gewesen, unter enormem Zeitdruck, ohne zielführende Strategie.
Präsident Hamid Karsai sei zudem abhängig gewesen von mächtigen Stammesfürsten, internationale Gelder seien zur Beruhigung an Warlords verteilt worden, viel zu viele Kriminelle in Machtpositionen gelangt, Korruption habe grassiert, aber die Kooperation der internationalen Gemeinschaft nicht richtig funktioniert, die Provinzen hätten sich nicht gut entwickelt, die Jugendarbeitslosigkeit sei hoch geblieben, für die Taliban sei es ein leichtes gewesen unter den jungen Leuten neue Kämpfer zu rekrutieren.
Scheitern war „ein Versagen aller Gruppen“
Die Menschen in Afghanistan seien so immer enttäuschter gewesen vom staatlichen Handeln in ihrem Land, hätten den Mangel an Gerechtigkeit und an Rechenschaftspflicht gespürt und den staatlichen Strukturen nicht mehr vertraut. „Die Regierung in Kabul war weit weg, die Taliban aber waren nah.“ Letztlich sei das Scheitern der Stabilisierungs- und Aufbaubemühungen in Afghanistan „ein Versagen aller Gruppen“, resümierte Samar.
Sie sei sehr dankbar, dass die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages einberufen worden sei, mit dem Ziel die Dinge zu verbessern und appellierte an die Kommission, Afghanistan trotz aller Rückschläge nicht zu vergessen. Demokratie brauche ein starkes Fundament: Leute die an Demokratie und Menschenrechte glauben, Verantwortungsträger ohne kriminellen Hintergrund. Und es brauche Bildung als Schlüssel, um eine Mentalität zu ändern. (ll/27.02.2023)