1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Evakuierungs­entscheidung war gut vorbereitet

Aufnahme von einem Bundeswehreinsatz in Nawabad, Afghanistan. In Mama Khel spricht ein Offizier mit dem Direktor der örtlichen Schule.

Der Untersuchungsausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. (picture alliance / JOKER | Timo Vog/est&ost)

Der 1. Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan hat am Donnerstag, 16. März 2023, den Referatsleiter SE I 5 im Bundesverteidigungsministerium (BMVg), zuständig für Spezialkräfte der Bundeswehr und Nationales Risiko- und Krisenmanagement, als Zeugen befragt. Der Zeuge war nach eigener Aussage zuständig für die Entsendung von Krisenunterstützungsteams und die Entwicklung von Einsatzkonzepten.

„Wir wollten vorbereitet sein“

Der Ministeriumsvertreter erläuterte vor den Abgeordneten, dass es seit dem 22. April 2021 eine Eventualplanung für Evakuierungen aus Afghanistan gegeben habe. Grund dafür sei der absehbare Abzug der Nato-Truppen aus dem Land gewesen. Für die Phase nach dem Abzug wollte man gut aufgestellt sein, so der Referatsleiter im BMVg. „Wir wollten vorbereitet sein“, sagte er.

Hinsichtlich einer möglichen Evakuierung sei man vor allem von deutschen Staatsangehörigen ausgegangen, für den Fall, dass angesichts einer eventuellen Lageverschärfung „normale Ausreisen“ aus Afghanistan nicht mehr möglich seien. Im Laufe der Zeit sei diese Eventualplanung um weitere Möglichkeiten ergänzt worden. Anpassungen hinsichtlich einer Geiselbefreiung habe es aber nicht gegeben, sagte der Zeuge. Auf Nachfrage machte er deutlich, dass die Schließung von Stützpunkten der Bundeswehr in Afghanistan nicht zu einer Änderung der Planung geführt hätten. Vielmehr sei ein solches Szenario die Grundlage der Planungen gewesen.

Eventualplanung für Evakuierungen

Bei der Eventualplanung habe sich das BMVg eng mit dem Auswärtigen Amt (AA) abgestimmt, sagte er weiter. Beim AA habe ohnehin die Gesamtverantwortung gelegen. Das BMVg habe nur einen Teilbeitrag geleistet. Der Zeuge machte weiterhin deutlich, dass anfangs von einer Zahl zu evakuierender Personen von unter 300 ausgegangen worden sei. Planungsgrundlage seien 260 deutsche Staatsbürger und etwa 60 Ortskräfte gewesen. Das sei noch der Stand während einer Krisensitzung am 13. August 2021 gewesen. Die Zahl habe sich innerhalb von zwei Tagen dynamisch entwickelt.

An frühzeitige Berechnungen aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), dass bis zu 11.400 Personen zu evakuieren seien, habe er keine konkreten Erinnerungen, sagte er. Damals seien viele Zahlen in den Raum geworfen worden. Neben dem ständigen Aufwuchs bei den Ortskräften seien auch andere potenziell gefährdete Personen, wie etwa Frauenrechtlerinnen, zu dem Kreis dazu gekommen.

Zeuge: Entscheidung war gut vorbereitet

Als schließlich die USA und Großbritannien mit eigenen militärischen Kräften den Flughafen in Kabul gesichert hätten, sei man überein gekommen, dieses Zeitfenster zu nutzen, um eigene Kräfte nach Afghanistan zu bringen, um eine eventuelle Evakuierung durchführen zu können, sagte der Ministeriumsvertreter. Schließlich habe Deutschland zu dem Zeitpunkt keine eigenen Truppen mehr in dem Land gehabt. 

Der Beschluss zur Evakuierung sei schließlich am 15. August 2021 gefallen – etwa zeitgleich mit den Evakuierungsbeschlüssen der USA und Großbritanniens, sagte der Zeuge. Ein eventueller Streit zwischen BMVg und AA über die Frage der Notwendigkeit einer erneuten Mandatierung angesichts der Entsendung von 300 Bundeswehrsoldaten sei ihm nicht erinnerlich, so der Ministeriumsvertreter.

Seiner Auffassung nach war die Evakuierungsentscheidung gut vorbereitet, auch wenn noch am 13. August 2021 diese nicht festgestanden habe. Damals habe man nicht mit einem so schnellen Fall Kabuls gerechnet, sagte er.

Identifikation nicht-deutscher Staatsbürger

Die Identifikation der zu evakuierenden nicht-deutschen Staatsbürger sei anhand von Listen erfolgt, die das AA zur Verfügung gestellt habe, so der Zeuge, der nach eigener Aussage selber bei der Evakuierung nicht vor Ort war. Das Einsatzführungskommando habe die Aufgabe gehabt, die Kräfte vor Ort zu orchestrieren – immer in Abstimmung mit dem AA, wo die Feinheiten geklärt worden seien.

Auf Nachfrage bestätigte der Zeuge, dass erstmals am 13. August 2021 über die Ortskräfte geredet worden sei. Folge des Ortskräfteaufwuchses sei der Einsatz von mehr Transportmaschinen gewesen. Auch habe sich die Dauer der Evakuierung verlängert und sich die Belastung für das Personal erhöht. Die konkreten Entscheidungen seien im Einsatzführungskommando getroffen worden. Ministerielles Nachsteuern, so der Zeuge, sei nicht nötig gewesen „und wäre auch zu spät gekommen“.

„Wollten Bilder der Flucht unbedingt vermeiden“

Im weiteren Verlauf der Befragung am Donnerstag hat der als Zeuge vor den 1. Untersuchungsausschuss geladene Referatsleiter SE III 4 im Bundesverteidigungsministerium (BMVg) die Rückverlegung des Materials der Bundeswehr nach Beendigung des Einsatzes als „hervorragend gelungen“ bezeichnet. Es sei eine der größten, komplexesten und zeitkritischsten logistischen Operationen gewesen, die die Bundeswehr je durchgeführt habe, sagte der für die Rückverlegung zuständige Ministeriumsmitarbeiter im Rang eines Obersts.

Ziel sei eine „geordnete Rückverlegung“ gewesen, sagte der Zeuge. „Wir wollten Bilder der Flucht unbedingt vermeiden“, machte er vor den Abgeordneten deutlich. Es sei schlussendlich gelungen, all das mitzunehmen, „was wir auch mitnehmen wollten“. Auf Nachfrage machte er deutlich, dabei auch die nötige Rückendeckung aus dem Verteidigungsministerium bekommen zu haben. Zurückgelassen worden seien beispielsweise nicht-militärische Fahrzeuge aus dem Fuhrpark der Bundeswehr, deren Restwert unter den Kosten für den Rücktransport gelegen hätte. Militärische Fahrzeuge hingegen seien nicht zurückgelassen worden. Ebenso wenig wie Munition, sagte der Zeuge, räumte schlussendlich aber ein, dass geringe Mengen von Leuchtmunition am Flughafen von Kabul verblieben seien.

Charterflüge für Ortskräfte aus Masar-i-Scharif

Die Lufttransporte, so erläuterte er, seien vielfach mit zivilen Maschinen und zivilen Vertragspartnern durchgeführt, aber durch ihn koordiniert worden. Das sei auch vor dem Hintergrund der Unabhängigkeit von Hilfen durch die Streitkräfte der USA geschehen. „Wir haben uns relativ autark von den Amerikanern gemacht“, sagte der Ministeriumsvertreter.

Intensive Nachfragen der Abgeordneten gab es zu geplanten, aber schlussendlich nicht durchgeführten Charterflügen, um Ortskräfte aus Masar-i-Scharif auszufliegen. Als Logistiker habe er am 17. Juni 2021 den Auftrag bekommen, für etwa 300 Personen einen Lufttransport sicherzustellen, sagte der Zeuge. Seinerzeit hätten nur geschützte Flugzeuge der Bundeswehr Masar-i-Scharif anfliegen dürfen, die aber ausgelastet gewesen seien. Zivile Flugzeuge seien jedoch zu dem Zeitpunkt Masar-i-Scharif noch angeflogen. Daher habe er über den Rahmenvertragspartner der Bundeswehr, Kühne und Nagel, zwei Flugzeuge gechartert. Diese habe er am 22. Juni 2021 auf Weisung seiner Abteilungsführung wieder stornieren müssen.

Stornierung von Charterflügen

Ihm sei als Grund der Stornierung gesagt worden, dass das noch in Masar-i-Scharif verbliebene Restkontingent an Bundeswehrkräften nicht in der Lage gewesen sei, die mit den Flügen verbundenen Abfertigungen, zu denen seinerzeit auch noch Covid-Testungen gehört hätten, zu leisten. Wie es genau zu der Entscheidung gekommen sei, die Charterflüge zu stornieren, könne er aber nicht sagen. Ebenso wenig wisse er, wie es zu dem - am Ende gescheiterten - Plan kam, die Ortskräfte auszufliegen. Auch eine mögliche Einflussnahme von Seiten des Auswärtigen Amtes sei ihm nicht bekannt.

Ob es aus seiner Sicht möglich gewesen wäre, in der Zeit zwischen dem Doha-Abkommen und dem endgültigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan sämtliche der laut anderen Zeugenbefragungen etwa 11.000 Ortskräfte auszufliegen, wurde er abschließend befragt. Der BMVg-Referatsleiter bejahte dies. Innerhalb von 14 Monaten wäre es aus logistischer Sicht kein Problem gewesen, 11.000 Menschen auszufliegen, antwortete er. 

„Es stand alles auf Abbau“

Die Befragung eines Mitarbeiters im Referent SE II 1, Einsatzplanung, Abzugsplanung, des Bundesministeriums der Verteidigung komplettierte die Zeugenvernehmung des Untersuchungsausschusses. Wie schätzte er die sich verschlechternden Bedingungen und die deutschen Optionen für den Afghanistan-Einsatz ab 2020 ein, was für Handlungsmöglichkeiten sah er für sich, wie gestaltete sich das Zusammenwirken mit Kollegen, Vorgesetzten, anderen Ministerien und internationalen Akteuren, wo wurden Fehler gemacht und was lässt sich daraus lernen? Das waren die Leitfragen an den Berufsoffizier, der in seinem Referat die Zuständigkeit für „Militärpolitik“ hatte, dort Vorlagen für das Design des Einsatzes verfasste und die Verbindung zur Nato und zum Auswärtigen Amt hielt. 

In seinem Eingangsstatement nannte der Offizier das zwischen den USA und den Taliban geschlossene Doha-Abkommen als Wendepunkt und als Anfang vom Ende des von Deutschland als langfristig betrachteten internationalen Afghanistan-Einsatzes. In seiner Schilderung rief er die sich immer mehr verschlechternden Parameter des Einsatzes ebenso auf wie den alles überlagernden sich immer weiter verknappenden Zeithorizont. Seit dem bilateralen Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban habe unter den internationalen Kräften eine allgemeine Rückzugsstimmung geherrscht. „Es stand alles auf Abbau.“ Auf allem habe das sich nähernde und sich immer wieder nach vorne verschiebende Abzugsdatum gelastet. Der Zeuge unterstrich, wie sehr das Doha-Abkommen als zugleich bedrängende und unbekannte Größe, vor allem was den Zeitrahmen und die ausgehandelten Abzugs-Bedingungen betraf, über allem geschwebt habe.

Zeuge: Monatelange Zerreißprobe

Obwohl es dabei vor allem um den Nato-Abzug gegangen sei, seien die Organisation und ihre Mitglieder, außer der amerikanischen Regierung, nicht in die Verhandlungen einbezogen gewesen. Es sei ein Abkommen lediglich zwischen den beiden Parteien USA und Taliban gewesen, das niemand sonst zu Gesicht bekommen habe. Die darin offenbar festgelegten und immer wieder erwähnten Bedingungen? Keiner außer den beiden Vertragsparteien habe den Wortlaut je gekannt, je nachdem, wen man gefragt habe, habe gesagt was ihm gepasst habe. Von dem Doha-Prozess sei man überrumpelt worden.

Der Zeuge schilderte eine Rückzugsdynamik, an die man sich ständig neu habe anpassen müssen, auf deren Ablauf man selber jedoch kaum Einfluss gehabt habe. Für alle, die in die Abzugsplanung involviert gewesen seine, sei es es eine monatelange Zerreißprobe gewesen. Von deutscher Seite habe man die Abzugsplanung von hinter her denken wollen. Es sei schwer gewesen, den Abzug auf irgendein anderes Ziel hin zu organisieren.

Rückzug auf Raten

Ziel der Bundesregierung sei auch nach Doha ein aufbauendes, nachhaltiges, in die Zukunft gerichtetes Engagement in Afghanistan gewesen. Deutschland habe dort immer Strukturen schaffen, die Menschen vor Ort ausbilden, ertüchtigen wollen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Man habe sich dann vorgenommen, auf den im Doha-Abkommen vereinbarten innerafghanischen Friedensprozess zu setzen. Sein Referat habe zusammen mit dem Auswärtigen Amt ein Szenarien-Papier erstellt wie sich das Afghanistan-Engagement nach dem Abzug der Nato-Streitkräfte weiter entwickeln könne. Das Auswärtige Amt habe lange Zeit mit der Vorstellung gearbeitet, dass das Engagement weiter gehe. Er selbst habe an ein Folgeengagement unter Uno-Mandat gedacht.

Vonseiten des Amtes sei auch das letzte Wort gekommen, wie es mit der deutschen Abzugsplanung weiterzugehen habe. Den Kollegen dort sei bei allem Warten klar gewesen, dass die Bundeswehr am Ende ausreichend Zeit für einen sicheren und geordneten Abzug brauchte. Die Abstimmung zwischen den Ministerien schilderte der Zeuge als gut und eng. Eindrücklich schilderte er den Rückzug auf Raten. Man habe lange keine sichtbaren Aktionen durchführen dürfen, da noch nichts beschlossen war. Es sei nie zu einer politischen Positionierung gekommen. Man habe aber die Zeit genutzt, um Vorsorge zu treffen und im Hintergrund unbemerkt den Dachboden auszumisten, Dinge containerfertig zu machen, die man eh nicht mehr brauchte, eine möglichst große Zahl an entbehrlichen Soldaten und Material sicher und schnell nach Hause zu bekommen. Um den Taliban nichts in die Hände fallen zu lassen, habe man so wenig wie möglich zurücklassen wollen.

Zeit des Wartens

Der Zeuge beschrieb die letzten Monate des Einsatzes als eine Zeit des Wartens, in der den Kräften vor Ort weitgehend die Hände gebunden gewesen seien. Die USA hätten währenddessen ihre Truppenstärke immer weiter reduziert, bis auf bis dahin nicht für möglich gehaltene niedrige Zahlen. Die Luftunterstützung wurde immer weniger. Die afghanische Armee sei nur noch mit ihrem Selbstschutz befasst gewesen, habe aber, sogar ohne Bezahlung bis zuletzt tapfer gekämpft. „Der afghanische Soldat war nicht die Ursache für das Scheitern.“

Die Zeit sei schließlich immer knapper geworden. Man habe auf den innerafghanischen Versöhnungsprozess gewartet, den die Taliban aber nicht ernsthaft betrieben hatten. Man habe die US-Präsidentschaftswahl abgewartet, und schließlich den vom neuen Präsidenten Biden eingeleiteten Review-Prozess über das amerikanische Engagement. Schließlich habe man das Training der afghanischen Armee einstellen müssen. Aber um für eine Folgemission zu planen sei die Zeit am Ende zu kurz gewesen.

Am Ende sei es nur noch um die Eigensicherung und den eigenen Rückzug gegangen. Der Flughafenbetrieb sei immer instabiler geworden. Als letzter deutscher Soldat des Hauptquartiers in Kabul habe er am 26. Juni 2021 seinen Fuß vom afghanischen Boden in den startenden Helikopter gezogen. Zuvor habe er einen letzten Rundgang durch die Räumlichkeiten des Headquarters gemacht, in einem Treppenhaus noch eine verlassene deutsche Flagge entdeckt und diesen Stoff und eine Reste-Kiste in den Hubschrauber genommen. „Die Zeit war dann zu Ende.“ (hau/ll/17.03.2023)

Marginalspalte