Kinderkommission

Verursacherbezogene Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch

ymbolfoto Spielplatz, Schaukel auf einem Spielplatz

Das Projekt „Kein Täter werden“ beschäftigte die Kinderkommission. (picture alliance / Andreas Franke | Andreas Franke)

Jedes zehnte Kind in Deutschland wird Opfer sexuell übergriffigen Verhaltens. Die meisten Taten werden nicht angezeigt, bleiben unaufgeklärt, juristisch ungesühnt. Manche Täter müssen sich strafrechtlich verantworten und werden verurteilt. Viel besser für den Kinderschutz ist es, durch Präventionsarbeit möglichst viele davon abzubringen, sich überhaupt erst an Minderjährigen zu vergehen, waren sich die Sachverständigen und Mitglieder der Kinderkommission (Kiko) im Fachgespräch am Mittwochnachmittag, 29. März 2023, zum Thema „Kein Täter werden“ einig.

Expertin verweist auf hohes Dunkelfeld 

Präventionsarbeit leisten die geladenen Sachverständigen Dr. Dipl.-Psych. Laura F. Kuhle und Dr. med. Till Amelung vom Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité Berlin. Gerade während der Covid-Pandemie, in der es zu einer gesteigerten Internet-Nutzung zu Hause gekommen sei, bei einer gleichzeitig geringen Nachverfolgung von Straftaten und schlechten Versorgung von Opfern und Tätern, seien die Zahlen von Kindesmissbrauch vermutlich gestiegen, sagte Kuhle und gab Einblick in das Präventionsprojekt Dunkelfeld an ihrem Institut.

Mehr als 90 Prozent der minderjährigen Opfer erstatteten keine Anzeige, das Dunkelfeld der Straftaten, die nicht justiziell verfolgt oder aufgedeckt würden, liege um das 30-fache über der Zahl der in der Kriminalstatistik ausgewiesenen Fälle. Leider gebe es viel zu wenige therapeutische Versorgungsmöglichkeiten für potenzielle Täter, um diese von einer Tat abzubringen, viele Kliniken fühlen sich in dem Bereich nicht kompetent. Dabei verursache ein Missbrauch bei den Opfern schwerste lebenslängliche gesundheitliche Schäden und belaste das Gesundheitssystem mit hohen Kosten.

Verursacherbezogene Prävention

Im Projekt an der Charité, das auf die verursacherbezogene Prävention ziele, arbeite man mit Patienten, die eine sexuelle Präferenz für Kinder empfänden. Die Präferenz mache sie nicht automatisch zu Tätern. Ein Teil der Kindesmissbrauchsfälle seien auf Täter mit einer pädophilen Störung zurückzuführen, die aufgrund ihrer Veranlagung zur Tat schritten. Ein Großteil der Missbrauchsfälle geschehe jedoch aus anderen Motiven.

Bei der Täterschaft habe man es mit einer Bandbreite von Tatmotiven zu tun, die von jugendlichen sexuellen Ersterfahrungen bis hin zu besonderen familiären Konstellationen reichten, ebenso wie die Taten von Voyeurismus über eine ganze Palette von Vergehen bis hin zu schwersten sexuellen Vergehen reichten.

„Überschlag von Phantasie zur Tat verhindern“

Betroffene mit Tatendrang oder Täter könnten anonym, ohne Strafverfolgungsdruck, eine Erstberatung im Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité, der ältesten derartigen Beratungsstelle in Deutschland, aufsuchen. Nur so erreiche man Menschen, vor allem Männer, mit einer sexuellen Präferenzstörung und könne sie mit einer Therapie von einer Straftat abbringen. In je jüngerem Lebensalter dabei die Ansprache erfolge, desto wirkungsvoller erweise sich die Therapie, berichtete Kuhle. 

„Ich schaue mir die sexuellen Phantasien der Klienten an.“ Man bespreche mit den Betroffenen die für sie risikoreichen Situationen, erarbeite ein „Störungsmodell“ und versuche dann „mit verhaltenstherapeutischen Interventionen“, teils medikamentös unterstützt, deren „sexuelle Impulse zu dämpfen“. „Es geht darum, mit Verhaltenskontrolle den Überschlag von den Phantasien zur Tat zu verhindern.“

Beratung als Beitrag zur Kriminalitätsprävention

Warum etwa 4,1 Prozent der männlichen Bevölkerung derartige sexuelle Präferenzen hegten, dafür gebe es noch keine hinreichende Erklärung, so die Wissenschaftlerin. Die Patienten seien häufig psychisch stark belastet, isoliert und hätten Angst vor sozialer Ausgrenzung. Es sei eigentlich allen gemein, dass sie sagten: Ich habe ein Problem, das möchte ich überwinden. Der Gang zur Beratung sei ein erster westlicher Schritt, neue Fälle von Kindesmissbrauch zu vermeiden, und somit auch ein Beitrag zur Kriminalitätsprävention. Mit dem Behandlungsangebot im Dunkelfeld fülle man in Deutschland eine Versorgungslücke. 3.700 Patienten habe man seit 2005 in Berlin beraten, mehr als 2.500 Therapien durchgeführt.

Forschungsergebnisse des NEMUP-Projekts mit 300 Teilnehmenden (Abkürzung für: Neural Mechanisms Underlying Pedophilia and Child Sexual Offending) präsentierte Till Amelung. Pädophilie lasse sich demnach mit frühen Entwicklungsstörungen und einer frühen Sexualisierung der Betroffenen assoziieren. Zu einer Täterschaft kämen dann aber noch eine Reihe „biologischer, sozialer und psychologischer Marker“ hinzu, wie ein „veränderter Testosteronsignalweg, hirnstrukturelle Veränderungen, Impulskontrollstörungen“ sowie ein geringerer Bildungserfolg.

„Es braucht Sensibilisierung und Aufklärung“

Die Mitglieder der KiKo betonten, dass man mehr in die Forschung und in die Prävention investieren müsse. Schließlich seien zehn Prozent der Kinder betroffen. Und dass insbesondere das vom Grundgesetz geschützte familiäre Umfeld betrachtet werden müsse, hätten doch Kinder Angst sich mitzuteilen, vor allem wenn Täter dem familiären Kontext entstammten, wie es häufig der Fall sei.

„Es braucht Sensibilisierung und Aufklärung überall“, um die sexuelle Integrität von Kindern zu gewährleisten, sagte Kuhle und mahnte, die Auswirkungen des Lebensbereichs Internet nicht zu vergessen. Eine Auswertung des Charité-Projekts werde man in drei Jahren Jahren vorlegen können. (ll/29.03.2023)

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