Geschichte

Vor 70 Jahren im Bundestag: Ringen um ein neues Wahlrecht

Konstituierende Sitzung des versammelten 2. Deutschen Bundestages im Plenarsaal des Bundeshauses am 20.Oktober 1953

Für eine Wahlrechtsreform im Jahr 1953 blieb wenig Zeit, denn bereits der 2. Deutsche Bundestag (hier bei der konstituierenden Sitzung am 20. Oktober 1953) sollte auf Grundlage eines neuen Wahlgesetzes gewählt werden. (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung/Brodde)

Die Wahlrechtskommission, die der Bundestag am 16. März 2022 eingesetzt hat (20/1023), wird in der zweiten Aprilhälfte noch einmal zusammentreten, um ihren Abschlussbericht zu beschließen. Im Mittelpunkt der Kommissionsarbeit stand die inzwischen vom Bundestag beschlossene Verkleinerung des Bundestages (20/5370). Darüber hinaus ging es unter anderem um eine Senkung des aktiven Wahlalters bei Bundestagswahlen und um einen höheren Frauenanteil im Parlament.

Wahlgesetz zum 2. Deutschen Bundestag

Vor 70 Jahren spielten Wahlrechtsfragen schon einmal eine entscheidende Rolle im Bundestag. Am 5. März 1953 beschäftigten sich die damals 401 Abgeordneten, darunter 19 Abgeordnete aus West-Berlin, mit drei Vorlagen: dem Entwurf der Bundesregierung für ein Bundeswahlgesetz (1/4090), dem Entwurf eines Wahlgesetzes zum Bundestag der Bundesrepublik Deutschland, eingebracht von 32 Unions- und zwei fraktionslosen Abgeordneten (1/3636), und dem Antrag der SPD-Fraktion für ein Bundeswahlgesetz (1/4062).

Die Zeit drängte: Am 6. September desselben Jahres sollte der 2. Deutsche Bundestag nach dem noch zu beschließenden Recht gewählt werden.

Wahlgesetz zum 1. Deutschen Bundestag

Der 1. Deutsche Bundestag war am 14. August 1949 auf der Grundlage eines „Wahlgesetzes zum ersten Bundestag und zur Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland“ gewählt worden, das der Parlamentarische Rat am 10. Mai 1949 mit 36 gegen 29 Stimmen und gegen das Votum der Unionsfraktion beschlossen hatte.

Der Gesetzestext war allerdings am 15. Juni 1949 von der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder unter Verweis auf Vorgaben der alliierten Militärgouverneure noch modifiziert worden. Zum einen wurde auf Länderebene eine Fünf-Prozent-Sperrklausel eingeführt, die allerdings bei einem gewonnenen Direktmandat nicht zum Zuge kam, zum anderen wurde das hälftige Verhältnis zwischen Direkt- und Listenmandaten zugunsten von 60 Prozent Direkt- und 40 Prozent Listenmandaten abgeändert.

Wahlrechtsausschuss der ersten Wahlperiode

Weil das vom Parlamentarischen Rat beschlossene Wahlgesetz nur die Bundestagswahl 1949 regelte, standen die Abgeordneten im Frühjahr 1953 vor der Aufgabe, ein Gesetz für die Wahl zum 2. Deutschen Bundestag zu beschließen. Dazu setzten sie einen 27-köpfigen Wahlrechtsausschuss ein, der sich am 26. März 1953 konstituierte und 13 Mal tagte. Vorsitzender wurde der badische SPD-Abgeordnete Friedrich Maier (1894-1960), sein Stellvertreter der Hamburger Christdemokrat Hugo Scharnberg (1893-1979).

Der Regierungsentwurf, den CDU-Innenminister Dr. Dr. h. c. Robert Lehr (1883-1956) eingebracht hatte, überzeugte niemanden so richtig. Lehr präsentierte die Vorlage als Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl, nicht ohne hinzuzufügen, dass er persönlich die absolute Mehrheitswahl für eine glückliche Lösung halten würde.

Der Entwurf sah eine strikte Trennung zwischen Direkt- und Listenmandaten vor und enthielt damit „Grabensystem“-Elemente, wie sie in der aktuellen Wahlrechtskommission auch von Unionsseite angedacht wurden. Eine Zweitstimme war nicht vorgesehen, mit der Stimmabgabe für einen Kandidaten wählte man zugleich dessen Partei.

„Hilfsstimme“ und Wahlalter

Haupteinwand war allerdings das Konstrukt einer „Hilfsstimme“ neben der „Hauptstimme“ mit dem Ziel, absolute Mehrheiten bei den Direktmandaten zu schaffen, ohne in einem zweiten Wahlgang einen Stichentscheid vornehmen zu müssen. Hier finden sich Anklänge an die „Ersatzstimme“, die die heutige Ampelkoalition in der Wahlrechtskommission zunächst vorgeschlagen, dann aber wieder fallengelassen hatte. Sie sollte gewährleisten, dass ein Wahlkreis in jedem Fall einen Direktkandidaten ins Parlament entsendet, auch wenn der Erststimmensieger wegen fehlender „Zweitstimmendeckung“ leer ausgeht.

Das Plenum befasste sich in zweiter Beratung am 17. Juni 1953, als auf Ost-Berliner Straßen die Panzer rollten, mit zahlreichen Änderungsanträgen der Fraktionen. Beispielsweise wurde ein Antrag der kommunistischen Abgeordneten Grete Thiele (1913-1993), das aktive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre und das passive Wahlalter von 25 auf 21 Jahre zu senken, gegen die Stimmen der KPD abgelehnt. In der aktuellen Wahlrechtskommission ist eine Senkung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre bei Bundestagswahlen strittig.

Knappes Votum für die Zweitstimme

Berichterstatter des Wahlrechtsausschusses (1/4450) war der 39-jährige Berliner SPD-Abgeordnete Willy Brandt (1913-1992). Der Ausschuss führte die drei Vorlagen zu einem Gesetzentwurf zusammen, der vom Plenum mit „Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung“ überschrieben wurde. Entscheidende Neuerung war die von Hugo Scharnberg beantragte Einführung einer Zweitstimme für die Wahl einer Partei, die der Ausschuss mit 14 gegen 13 Stimmen beschloss.

Mit 15 gegen 12 Stimmen folgte der Ausschuss dann jedoch Vorschlägen der FDP, mit der Zweitstimme nicht wie von Scharnberg vorgesehen die Bundesliste einer Partei zu wählen, sondern die jeweilige Landesliste.

Von 400 auf 484 Mandate

Scharnberg war es auch, der die im Regierungsentwurf vorgesehene Anhebung der Regelgröße des Bundestages von 400 auf 484 Mandate unterstützte. Zu den Gegnern zählte der CSU-Abgeordnete Dr. Richard Jaeger (1913-1998), der die „Aufblähung des Parlaments“ als „Symptom einer modernen parlamentarischen Krankheit“ bezeichnete.

Die Mehrheit votierte jedoch für 484 Mandate. Die ebenfalls beschlossene Rückkehr zur hälftigen Verteilung von Direkt- und Listenmandaten tadelte Jaeger in der abschließenden dritten Lesung am 25. Juni 1953 als „Verschlechterung für das Mehrheitswahlrecht“.

Ausnahme für Listen nationaler Minderheiten

Nachdem der Ausschuss beschlossen hatte, die Fünf-Prozent-Sperrklausel auf drei Prozent auf Landesebene abzusenken, stellten CDU/CSU, FDP und Deutsche Partei (DP) in der dritten Lesung den Antrag, fünf Prozent auf Bundesebene zu verlangen, was bei zahlreichen Enthaltungen angenommen wurde.

Der Antrag dieser Fraktionen, von nationalen Minderheiten eingereichte Listen nicht von dieser Sperrklausel auszunehmen, wurde allerdings abgelehnt. Vor allem Willy Brandt und der Abgeordnete Hermann Clausen (1885-1962) vom Südschleswigschen Wählerverband, der Vertretung der dänischen und friesischen Minderheit, setzten sich für die Ausnahmeregelung ein. Mit überwiegender Mehrheit bei wenigen Enthaltungen nahm der Bundestag das Gesetz an.

Der Wahlrechtsausschuss der zweiten Wahlperiode

Das Wahlrecht beschäftigte den Bundestag auch in der zweiten Wahlperiode. Am 6. Juli 1955 lagen dem Parlament in erster Lesung Anträge der SPD (2/1272), der FDP (2/1444) und von 72 Unionsabgeordneten (2/1494) für ein Bundeswahlgesetz vor. Der Bundestag beschloss die Einsetzung eines 23-köpfigen 1. Sonderauschusseses Wahlrechtsausschuss, der am 29. September 1955 seine Arbeit aufnahm, Hugo Scharnberg zu seinem Vorsitzenden und den Berliner SPD-Abgeordneten Kurt Mattick (1908-1986) zu dessen Stellvertreter wählte.

Scharnberg erstattete dem Bundestag nach zwölf Ausschusssitzungen Bericht (2/2206, zu 2/2206). Der Entwurf der Unionsabgeordneten fand im Ausschuss keine Mehrheit. Die SPD- und die FDP-Vorlage wollten beide ein personifiziertes Verhältniswahlrecht. Maßgebend für die den Parteien zustehenden Mandate sollten ausschließlich die in den Ländern für sie abgegebenen Stimmen sein.

Zweitstimme nur für die Partei

Der Unterschied bestand darin, dass die SPD dem Wähler nur eine Stimme zubilligen wollte, mit der er sowohl den Wahlkreiskandidaten als auch die Landesliste der jeweiligen Partei wählte, während die FDP eine zweite Stimme nur für die Partei vorsah. Diese zweite Stimme sollte für die verhältnismäßige Verrechnung der Stimmen allein maßgeblich sein.

CDU/CSU und DP beantragten daraufhin zunächst eine strikte Trennung beider Stimmen ohne jede Anrechnung. In der Ausschusssitzung am 24. Februar 1956 stellten sie diesen Antrag nicht mehr, sodass der FDP-Vorschlag zum Zuge kam. Dazu gab der Remscheider Unionsabgeordnete Peter Wilhelm Brand (1900-1978) die Erklärung ab, man sei nach wie vor Anhänger eines Mehrheitswahlrechts, werde sich bei der Abstimmung über den einschlägigen Paragrafen 6 aber enthalten, um „ein Wahlgesetz auf möglichst breiter Basis zustande zu bringen“.

Von 484 auf 506 Mandate

Geregelt wurde darin im Wesentlichen, dass sämtliche Listenmandate auf die Landeslisten aller Parteien in allen Ländern nach dem d’Hondtschen Höchstzahlverfahren verteilt werden. Eine starre Regelung wie im Wahlgesetz von 1953, das für jedes Land eine bestimmte Zahl von Mandaten festschrieb, entfiel damit. Während allerdings der FDP-Entwurf noch 418 Abgeordnete vorgesehen hatte, empfahl der Ausschuss eine Regelgröße von 506 Abgeordneten einschließlich der 22 West-Berliner Abgeordneten.

Darüber hinaus mussten die Parteien nun bei weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen mindestens drei Direktmandate statt nur eines gewinnen, um bei der Sitzverteilung berücksichtigt zu werden. Das in dritter Lesung am 15. März 1956 bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen angenommene Bundeswahlgesetz hat im Wesentlichen die Wahlen zum Deutschen Bundestag bis heute geprägt. (vom/05.04.2023)

Marginalspalte