1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Merkel wollte Ortskräfte früher evakuieren lassen

Soldaten der Einsatzunterstützungskompanie führen in Kabul geschützte Personentransporte durch, am 07.04.2010.

Soldaten der Einsatzunterstützungskompanie führen am 07. April 2010 in Kabul geschützte Personentransporte durch. (Bundeswehr/Andrea Bienert)

In seiner 32. Sitzung hat der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) des Bundestages am Donnerstag, 20. April 2023, versucht herauszufinden, welche Rolle das Bundeskanzleramt in den Krisenmonaten in Afghanistan im Sommer des Jahres 2021 gespielt hatte. Dazu wurde ein Referatsleiter im Bundeskanzleramt befragt, der für bilaterale Beziehungen mit den Ländern des sogenannten „globalen Südens“ verantwortlich ist.

Kanzleramt muss „koordinieren und zusammenführen“

Zunächst erklärte der Zeuge dem Ausschuss, wie die Arbeit in seinem Bereich im Bundeskanzleramt strukturiert ist. Als er dann gefragt wurde, ob sein Amt eine zu passive Rolle spielt, betonte er, dass das Bundeskanzleramt, in der Regel, vermitteln muss. „Um eine kohärente Politik zu haben, müssen wir einen Konsens zwischen allen beteiligten Ministerien finden“, sagte der Berufsdiplomat und da spiele das Bundeskanzleramt eine sehr große Rolle. Denn jedes Ressort bringe seine eigene Sichtweise mit. Man müsse „koordinieren und zusammenführen“.

Im Bundeskanzleramt hätten sie versucht mit einem Referenten an den Entwicklungen in Afghanistan dranzubleiben. Dabei seien die Hauptinformationsquellen das Auswärtige Amt (AA) und vor allem die deutschen Botschaften in Kabul, Brüssel und Washington gewesen.

Staatssekretärsrunden im Kanzleramt

Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ressorts bezeichnete der Zeuge als „sehr gut“. Es habe eine Staatssekretärsrunde gegeben, die sich regelmäßig im Bundeskanzleramt getroffen habe. Mit dem AA hätten sich die Referenten im Bundeskanzleramt täglich ausgetauscht, berichtete der Zeuge. Er habe an diesen Treffen teilgenommen, habe aber keine Anweisungen erhalten - weder von der Bundeskanzlerin noch vom damaligen Kanzleramtsminister. „Im Endeffekt ging es darum dort präsent zu sein“ meinte er. Er habe zuhören und erfahren müssen, was von anderen beigetragen wird. Falls es notwendig gewesen wäre etwas beizutragen, hätte er das auch gemacht, trug der Beamte vor, das sei aber nie der Fall gewesen.

In seinem Referat sei das Thema Afghanistan immer sehr präsent gewesen. Nach der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban sei das Thema noch brisanter geworden. Sie hätten routinemäßig Berichte und Dokumente erhalten, unter anderem vom Bundesnachrichtendienst (BND). Nachdem sie das Material ausgewertet hätten, hätten sie entschieden, was wichtig war und „nach oben“ gegeben werden musste.

Doha-Abkommen als Kehrtwende

Das Doha-Abkommen beschrieb der Zeuge als eine Kehrtwende von der bis dahin geübten Praxis, nach der die Politik immer auf Fortschritte in Afghanistan orientiert gewesen sei. Elemente von dieser Idee seien, laut dem Beamten des Bundeskanzleramtes, im Doha-Abkommen enthalten, aber „im Grunde musste die andere Vertragspartei nur warten“. Damit meinte der Zeuge die Taliban.

Nach dem Machtwechsel in Washington habe die damalige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) mit dem neuen Präsidenten Joe Biden telefoniert, um ihn zu Korrekturen zu bewegen. Er wisse nicht was dort besprochen worden sei, sagte der Zeuge. Man hätte jedoch auch realistisch bleiben müssen. Denn die Beendigung des Krieges sei für die USA sehr wichtig gewesen. Bei der Regierung in Kabul habe Deutschland einen guten Ruf gehabt, erinnerte sich der Zeuge. „Aber bei den Taliban war das nicht so“, ergänzte er. Die „Verhandlungsdynamik“ sei begrenzt und etwas Positives herauszuholen sehr schwer gewesen. Obwohl alle Kontakte genutzt worden seien, habe es kein Durchbruch gegeben.

Friedensverhandlungen in Deutschland

Deutschland sei durch die USA vor allem durch und über die Nato über den Verlauf der Gespräche mit den Taliban regelmäßig informiert worden. Später, als die afghanische Regierung angefragt habe, ob die innerafghanischen Friedensverhandlungen in Deutschland abgehalten werden könnten, habe die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel die Idee unterstützt. Daraufhin habe das Kanzleramt den Vorschlag an das AA herangetragen. „Die Idee kam jedoch nicht zum Tragen“, sagte der Referatsleiter. „Vielleicht waren die Amerikaner skeptisch, vielleicht die Taliban“.

Konfrontiert mit einer Vorlage aus dem AA, in der die Idee eher negativ bewertet wird, zeigte sich der Zeuge überrascht: „Uns wurde herangetragen, dass wir positiv mit diesem Vorschlag umgehen können.“

Ortskräfteverfahren zur Evakuierung der Mitarbeiter

Das Ortskräfteverfahren zur Evakuierung der Mitarbeiter deutscher Institutionen habe es seit 2013 gegeben, betonte der Zeuge. Das Thema sei jedoch nach dem Doha-Abkommen, und vor allem nach dem klar wurde, dass die internationalen Truppen das Land verlassen würden, viel brisanter geworden. Die „prominenteste Diskussion“ sei um die Charterflüge aus Masar-e Scharif geführt worden. Mit einer Notiz auf einer Vorlage habe die Bundeskanzlerin die Charterflüge als Alternative prüfen lassen, sagte der Referatsleiter aus dem Bundeskanzleramt. Aus Sicht seines Referates hätte den Ortskräften und ihren Familien eine Möglichkeit angeboten werden können, Afghanistan zu verlassen.

Das Gegenargument sei gewesen, man dürfe die Ortskräfte dazu nicht ermuntern. Der Zeuge erklärte, dass vor allem das AA und das Bundesministerium für Zusammenarbeit (BMZ) gegen diese Maßnahme gewesen seien, weil diese weiterhin in Afghanistan bleiben wollten. Beide Ministerien hätten gefürchtet, falsche Signale auszusenden. Erst im August habe sich das AA der Idee genähert. Die afghanische Administration unter dem Präsidenten Aschraf Ghani habe diese Überlegungen ebenfalls kritisiert und gebeten, die Ortskräfte nicht zu evakuieren.

Diese Diskussion sei nicht abschließend geklärt worden. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel habe jedoch mehrmals gebeten, dass diese Option erhalten bleibt. Es sei aber nie davon die Rede gewesen, von der Richtlinienkompetenz Gebrauch zu machen. „Das Kanzleramt ist natürlich ein Akteur und wird gehört“ sagte der Zeuge, fügte aber hinzu, dass auch auf die Koalitionspartner Acht gegeben werden müsse. Im Anschluss an die Aussagen des Zeugen aus dem Bundeskanzleramt befragte der Untersuchungsausschuss, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zwei BND-Mitarbeiter. (crs/20.04.2023)

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