1. Untersuchungsausschuss

Zeuge im U-Ausschuss: Sorge vor unkontrollierter Ein­wanderung

Stellung Polizei HQ ASB (Task Force Kunduz) mit MG3 in Afghanistan, am 24.10.2010

Der Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. (Bundeswehr/von Söhnen)

Ein Referatsleiter beim Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat am Donnerstag, 25. Mai 2023, vor dem 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) zur Evakuierung der Ortskräfte ausgesagt. Ihm zufolge sei es schwer machbar gewesen, sie schneller nach Deutschland zu bringen, weil es sich um einen bis dahin beispiellosen Fall gehandelt habe, sagte er während der öffentlichen Beweisaufnahme. Der Zeuge, der beim BMI das Referat Visum- und Einreisepolitik leitet, erklärte auch, warum sein Referat Bedenken gegen die Überlegung des Auswärtigen Amtes geäußert habe, die sogenannte Visa-on-Arrival-Prozedur anzuwenden. Eine Evakuierung fremder Staatsbürger sei gesetzlich nicht vorgesehen, betonte er. Als der Vorschlag kam, habe das BMI befürchtet, dies könne zu einer Kettenreaktion und einem unkontrollierten Zuzug aus Afghanistan führen. „Es gibt 40 Millionen Menschen in Afghanistan“, fügte er hinzu.

Interessen der Betroffenen, Sicherheits- und Migrationspolitik

Außerdem müsse vor einer Einreise, vor allem aus Ländern wie Afghanistan, jeder Antragsteller einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden. Das sei bei einer großen Masse schwer machbar. Eine unbekannte Zahl von Menschen hätte in einem solchen Fall vor den deutschen Grenzen stehen können, darauf seien die deutschen Flughäfen nicht vorbereitet. Sie mit ihren Familien und Kindern acht Stunden lang vor der Grenze warten lassen, sei ebenfalls nicht praktikabel gewesen. Viele hätten die Grenze ohne Sicherheitsprüfung passiert, berichtete der BMI-Vertreter. Wäre nachträglich festgestellt worden, dass jemand eine Gefährdung darstelle, hätte man die Person nicht nach Afghanistan zurückschicken können. 

Das BMI habe versucht, die Interessen der Betroffenen und die sicherheits- und migrationspolitischen Interessen Deutschlands miteinander zu vereinbaren. Rückblickend, sagte er, würde es jetzt einiges anders machen. Das Ortskräfteverfahren sei sehr verwaltungsbezogen. Man müsse das Problem aber im zeitlichen Kontext betrachten. Als über diese Frage diskutiert wurde, habe die Lagebewertung ergeben, dass noch ausreichend Zeit sei. Der Zeuge wies auch darauf hin, es hätten „erstaunlicherweise“ bis zum Anfang der Evakuierungsmission nicht viele Gefährdungsanzeigen vorgelegen. Diese würden den ersten Schritt im Ortskräfteverfahren darstellen.

BMI schlug IOM für Visabearbeitung vor

Statt Visa-on-Arrival habe das BMI vorgeschlagen, die International Organisation of Migration (IOM) als externen Dienstleister unter Vertrag zu nehmen. Da die deutschen Auslandsvertretungen in Afghanistan aus Sicherheits- und Personalgründen keine Visastellen betrieben hätten, hätte die Organisation aus Sicht des BMI die Visabearbeitung übernehmen können. Dass es nicht rechtzeitig dazu kam, sei der rasanten Entwicklung vor Ort geschuldet. „Für diese Lösung sind Verhandlungen und Verträge notwendig“, erklärte der Zeuge.

Zur zeitlichen Begrenzung der Aufnahmeberechtigungen sagte der BMI-Vertreter, im Rahmen des Ortskräfteverfahrens seien am Anfang nur Mitarbeiter deutscher Institutionen zur Aufnahme berechtigt gewesen, die in den letzten zwei Jahren unter Vertrag gestanden hätten. „Das sind hochgerechnet 6.000 Menschen. Wenn diese Grenze fällt, sind es 20.000. Das ist eher eine migrationspolitische Frage. Deshalb wurde diese Frage am Ende in der Staatssekretärsrunde entschieden.“

Interne Revision des BND

Als letzten Zeugen rief der Untersuchungsausschuss am Abend den Sachgebietsverwalter Interne Revision des Bundesnachrichtendienstes (BND) auf. Er hat einen internen Bericht zu den Prognosen des BND im Untersuchungszeitraum verfasst. Gleich in den chaotischen Tagen nach dem Fall Kabuls sei er vom Präsidenten des BND beauftragt worden zu ermitteln, ob es Mängel bei Lageanalysen und Prognosen des Dienstes gegeben habe, erklärte der Zeuge. „Der Auftrag war prioritär“ betonte er, „das Interesse war nicht nur innerhalb des Hauses groß.“ Da die „Darstellung der Dinge“ in den Medien nicht korrekt gewesen sei, sei es wichtig gewesen, sie wahrheitsgemäß darzustellen. „Wir haben das Konzept hinterfragt, und ob wir nicht etwas übersehen haben“, sagte der BND-Mitarbeiter. Während seiner Arbeit habe das Bundeskanzleramt „gelegentlich“ nach dem Stand gefragt.

Als ein Ausschussmitglied auf eine frühere Aussage eines Referatsleiters beim Bundeskanzleramt hinwies, wonach dieser in einem Telefongespräch sowohl zum Auftrag als auch zum Ergebnis Vorschläge gemacht habe, sagte der Zeuge, er habe dies nicht als Einmischung in seine Arbeit empfunden. Die Überlegung, was das Ergebnis sein könnte, sei nur eine „Arbeitshypothese“ gewesen und als solche auch in den Diskussionsprozess eingebracht worden.

Prognose zur zeitlichen Entwicklung

Dem Zeugen zufolge sei am Ende der internen Revision festgestellt worden, dass der BND in der Sache richtig berichtet und die Entwicklungen in Afghanistan richtig vorausgesehen habe. Lediglich die Prognose zur zeitlichen Entwicklung sei falsch gewesen.

Die Vermutung einer Abgeordneten, dass der BND die Analyse des deutschen Botschafters nicht berücksichtigt habe und ihn dies „auf die falsche Fährte geführt haben könnte“, verneinte der Beamte. „Der Internen Revision lagen Dokumente vor, aus denen die Sichtweise des deutschen Botschafters hervorging, und wir haben festgestellt, dass die Sichtweise nicht uneingeschränkt übereingestimmt hat“, sagte er. Er betonte zugleich, die Lageanalysen der Diplomaten würden bei den eigenen Analysen immer berücksichtigt.

Zeuge: Deutschland war von USA abhängig

In der öffentlichen Zeugenvernehmung hatte zuvor der Leiter des Referats Militärpolitik und Einsatz Region Asien, Ozeanien und Amerika des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg) ausgesagt. Der Berufssoldat, der nach eigenen Angaben auf eine 20-jährige Afghanistan-Erfahrung zurückblickt, hob hervor, die Alliierten, und damit auch Deutschland, seien von den militärischen Fähigkeiten der USA als Haupttruppensteller abhängig gewesen.

Es habe auch Unterschiede in den Führungskulturen und den Ansätzen gegeben. Deutschland habe versucht, Afghanistan nachhaltig zu unterstützen, damit die Menschen langfristig selbstständig agieren könnten. Die USA hätten beispielsweise Flugzeuge repariert, was aber langfristig nichts gebracht habe. Der Zeuge betonte jedoch, strategische Entscheidungen seien stets politisch und im Rahmen der Nato getroffen worden.

Auswirkungen des Doha-Abkommens 

Das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban über einen Truppenabzug habe ihn überrascht. Sie seien darüber von den Amerikanern informiert worden, sagte der BMVg-Vertreter, aber bis heute kenne sein Referat den gesamten Inhalt des Abkommens nicht. Bei neuen Entwicklungen hätten sie Kontakt zu den Amerikanern aufgenommen, um zu verstehen, was diese in Afghanistan vorhatten.

Bis Anfang 2021 habe es auch die Erwartung gegeben, die Präsidentschaftswahl in den USA könne eine neue Entwicklung ergeben. Die sei aber am Ende nicht eingetreten. In dieser Phase hätten die USA ihre Unterstützung für die afghanischen Kräfte eingeschränkt, vor allem die Luftunterstützung. In der Folge hätten die afghanischen Truppen strategische Verluste erlitten. Die Taliban hingegen hätten strategische Gewinne erzielt, die Städte eingekreist und damit den „Fluss von Waren und Menschen“ unter ihre Kontrolle gebracht. Die innenpolitischen Konflikte in Afghanistan erschwerten nach Aussagen des BMVg-Beamten die Lage zusätzlich, denn es habe kein Gegengewicht mehr zu den Taliban gegeben.

Dass der Versuch gescheitert sei, die afghanische Armee aufzubauen, wollte der Berufssoldat nicht bestätigen. „Weil ich das Land seit 20 Jahren kenne und weiß, wo wir angefangen haben“, sagte er. „Ich glaube, es war kein Nonsens, es war zweckmäßig und es hat gewirkt.“

Zusammenarbeit verschiedener Ressorts

Zur Zusammenarbeit verschiedener Ressorts in Deutschland erklärte der Zeuge, diese sei extrem gut gewesen. Jedes Ministerium habe jedoch seine eigenen Sachzwänge. Beim Bundesinnenministerium (BMI) hätten sich beispielsweise zwei Referate mit Afghanistan beschäftigt. Das Referat, das sich mit den Ortskräften der Polizeiausbildungsmission befasste, habe eine andere Haltung vertreten als das Referat, das für Migrationspolitik zuständig war. Letzteres habe „aufgrund rechtlicher Vorgaben nicht aus seiner Position ausbrechen können“. Man habe gegenseitig Druck aufgebaut, bis alle Ressorts zum Ergebnis gekommen seien, eine politische Entscheidung treffen zu müssen.

Dem Referatsleiter zufolge ist das Bundeskanzleramt bei der Staatssekretärsrunde immer dabei gewesen. Er könne sich aber an kein Eingreifen des Vertreters erinnern. Auf die Frage, ob er sich persönlich ein Machtwort des Bundeskanzleramtes gewünscht hätte, antwortete der Zeuge: „Was ich mir wünsche, ist irrelevant.“

In Bezug auf die Rückführung der Truppen und das Ortskräfteverfahren, sagte er, er habe in diesem Prozess gelernt, dass die militärische und zivile Perzeption einer Planung unterschiedlich sei. Militärs neigten dazu, sich frühzeitig auf verschiedene Optionen vorzubereiten. Das sei jedoch im Untersuchungszeitraum ein Problem gewesen, weil sich die Planungszeitfenster immer wieder verschoben hätten. Die Entscheidungen seien immer zu spät gekommen. (crs/25.05.2023)

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