1. Untersuchungsausschuss

Bürokratie hat Aufnahme von afghanischen Orts­kräften erschwert

Luftaufnahme von Kabul im Dezember 2017.

Luftaufnahme von Kabul im Dezember 2017. (picture alliance/photothek|Florian Gaertner)

Die Hintergründe der nur schleppend verlaufenen Aufnahme von afghanischen Ortskräften der Bundeswehr haben den 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) auch in seiner Sitzung am Donnerstag, 23. Juni 2023, beschäftigt. Laut Aussage eines Obersts im Generalstab, der im Untersuchungszeitraum bei der Bundeswehr unter anderem für das Ortskräfteverfahren verantwortlich war, hat die Rückführung der Soldatinnen und Soldaten „super geklappt“. Es habe jedoch mehrfacher Bitten bedurft, bis auch das Ortskräfteverfahren beschleunigt werden konnte.

„Wir wussten, dass mehr Gefährdungsanzeigen kommen würden“

Der Bundeswehroffizier, der als Einsatzgruppenleiter im Einsatzführungskommando der Bundeswehr den Abzug des deutschen Kontingentes aus Afghanistan geplant hat, erklärte dem Ausschuss, sein Arbeitsschwerpunkt habe in der Führung des Einsatzes gelegen. Die Beschäftigung mit dem Ortskräfteverfahren habe anfangs nur etwa fünf Prozent seiner Arbeit ausgemacht. Später habe es etwa ein Viertel seiner Arbeitszeit beansprucht.

Mit dem umfangreichen Ortskräfteverfahren habe die Bundeswehr bis zum 22. April 2021 gearbeitet, danach seien Anpassungen vorgenommen worden, führte der Oberst aus. „Wir wussten schon Ende 2019, dass mehr Gefährdungsanzeigen kommen würden“, sagte er. Erfahrungsgemäß steige die Zahl in unsicheren Zeiten. So sei es auch in dieser Situation gewesen. Er berichtete, dass es anfangs nicht genügend Personal gegeben habe, um die steigende Zahl der Anträge zu bewältigen. Dies sei in der Vorbereitung der Rückverlegung und auch danach aber sukzessive immer weiter erhöht worden.  Schwere Fälle hätten das Personal auch psychisch belastet.

Lange Bearbeitungsdauer

Die Anträge hätten streng geprüft werden müssen, weil teilweise die gleichen Bilder von verschiedenen Personen und mehrmals auch zweifelhafte Drohbriefe der Taliban vorgelegt worden seien. Um die Arbeit zu schaffen, habe man schließlich intern neue Verfahren und Kriterien entwickelt, um festzustellen, welche Fälle man bevorzugt behandeln müsse.

Aufgrund der Bearbeitungsdauer habe er ab dem 4. Februar 2020 mehrmals den Vorschlag gemacht, das Verfahren zu verändern und extra für die Ortskräfte eine temporäre Visastelle innerhalb des deutschen Konsulats in Masar-i-Sharif einzurichten, sagte der Oberst. Ihm sei eine Prüfung dieser Idee zugesagt worden, doch eine Antwort habe er nicht erhalten. Die Gründe dafür seien ihm nicht bekannt.

Kreis der Anspruchberechtigten

Der Kreis der Berechtigten sei dreimal erweitert worden. Bei der ersten Erweiterung habe man diejenigen Ortskräfte miteinbezogen, die schon einmal einen Antrag gestellt hatten, aber abgelehnt worden waren. Dieses Vorgehen sei jedoch aus seiner Sicht ungerecht gewesen, denn es habe diejenigen ausgeschlossen, die zunächst keine Gefährdung angezeigt hätten, sagte der Zeuge. Zu diesem Zeitpunkt seien die Taliban dabei gewesen, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen.

Die Annahme, dass lediglich die Ortskräfte bedroht waren, die einen Antrag gestellt hatten, sei vor diesem Hintergrund falsch gewesen, sagte der Bundeswehroberst. Irgendwann sei aber auch dieser Fehler korrigiert und 75 weiteren Ortskräften eine Aufnahme zugesagt worden. Später seien alle Ortskräfte als gefährdet eingestuft worden, erinnerte sich der Zeuge.

Zeuge: 26 Ortskräfte starben

Während des gesamten Afghanistan-Einsatzes seien insgesamt 26 Ortskräfte der Bundeswehr ums Leben gekommen, berichtete er weiter. Bei allen habe die Todesursache aber nicht im Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung bei der Bundeswehr gestanden.

Eine Ortskraft sei „in den letzten Wirren der Kämpfen in Kundus“ gestorben; eine andere an einem Taliban-Checkpoint getötet worden, wobei es unklar gewesen sei, ob es sich dabei um Taliban gehandelt habe. Das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) habe dennoch beschlossen, deren Familien aufzunehmen.

Kritik an bürokratischen Hürden

Kritik äußerte der Zeuge vor allem an bürokratischen Hürden: Das Auswärtige Amt habe beispielsweise Anträge aufgrund fehlender Daten zurückgeschickt, obwohl diese durchaus hätten bearbeitet werden können. „Mit solchem bürokratischen Kleinkram sind die Menschen hin und her geschickt worden. Alles Dinge, die nicht helfen, wenn man schnell sein will“, so der Oberst.

Der Einsatz in Afghanistan sei inzwischen in mehreren Erfahrungsberichten analysiert worden, sagte er. Seine Kameraden in Mali hätten davon bereits profitiert. Für die operative Ebene habe er zwei Lehren aus seinen Erfahrungen gezogen: Man müsse wissen, wo es in der Endphase zu einem Angriff kommen könne. Und: Was in Deutschland funktioniere, müsse nicht unbedingt in anderen Gesellschaftsstrukturen funktionieren.

Zeugenaussagen zu Afghanistan-Abschiebungen 2021

Nach dem Einsatzgruppenleiter der Bundeswehr befragte der Untersuchungsausschuss zwei Beamte des Bundesinnenministeriums (BMI). Sie informierten den Ausschuss über die Rolle der Bundespolizei während der militärischen Evakuierungsoperation aus dem Flughafen Kabul im August 2021 und die Abschiebepraxis der Bundesregierung. 

Zunächst beschrieb der Leiter des Referats Führungs- und Einsatzangelegenheiten der Bundespolizei die Bedingungen, unter denen die Bundespolizei in den Tagen der Evakuierung arbeitete und welche Aufgaben sie zu lösen hatte. Ihm zufolge hat es im August 2021 keine deutschen Strukturen vor Ort in Afghanistan gegeben, die ein ordentliches Visaverfahren hätten organisieren können. Die Visa-Ausstellung bei Ankunft in Deutschland („Visa on Arrival“) sei deshalb die einzige Alternative gewesen.

„Ordentliches Verfahren“ statt „Visa on Arrival“ 

Um unter diesen Bedingungen ihre Aufgabe machen zu können, habe die Bundespolizei sich bemüht, frühzeitig zu erfahren, welche Personen nach Deutschland kommen. Zu diesem Zweck seien Bundespolizisten im usbekischen Taschkent damit beauftragt worden, Listen der Personen vorzubereiten, die dort von militärischen in zivile Flugzeuge umgestiegen seien. Man habe auch mit den Gedanken gespielt, Chartermaschinen direkt nach Kabul zu schicken. Da die Lage vor Ort aber unübersichtlich und Landeslots knapp gewesen seien, sei sie verworfen worden.

An Charterflüge, um die afghanischen Ortskräfte nach Deutschland zu holen, sei auch schon früher gedacht worden, berichtete der Zeuge. In diesem Zusammenhang sei aber von einem „Saigon-Szenario“ die Rede gewesen. Befürchtet wurde, dass die Bilder einer Evakuierung mit Charterflügen viele andere Menschen dazu bewegen könnten, auf diesem Weg nach Deutschland zu kommen. Aus diesem Grund sei dieser Gedanke nicht weiterverfolgt worden. Sein Ministerium bevorzuge bei Einreisen ein ordentliches Verfahren statt „Visa on Arrival“, erklärte der BMI-Beamte. Dabei geht es darum, „Ausnahmen nicht zur Regel zu machen“.

Rolle der Bundespolizei bei Rückführungen

Der BMI-Mitarbeiter klärte die Abgeordneten auch darüber auf, welche Rolle die Bundespolizei bei Rückführungen in die Heimatländer spielt. Demnach sei sie zuständig für die Planung und Umsetzung der Abschiebungen. Sie habe zudem das Recht, einen Flug zu stoppen, sollte sie Informationen über eine ungeeignete Sicherheitslage besitzen.

Dabei stehe vor allem die Sicherheit des eigenen Personals im Mittelpunkt, das die Abschiebungen begleitete. „Abschiebeflüge sind immer auch eine Belastung für das begleitende Personal.“ Über die Abschiebungen würde in der Regel von Landesbehörden entschieden, fügte er hinzu.

„Afghanistan war in vielerlei Hinsicht besonders“

Das bestätigte auch der nächste Zeuge. Der 52-jährige Ministerialrat ist im BMI nach eigenen Angaben für die „Umsetzung des Aufenthaltsgesetzes“ zuständig und hat während des Untersuchungszeitraums das Referat Rückübernahme Europa und Asien geleitet. Aufgabe sei es gewesen, konkrete Absprachen mit den jeweiligen Ländern zu treffen, Papiere für ausreisepflichtige Personen zu beschaffen und die operative Umsetzung zu unterstützen.

„Afghanistan war in vielerlei Hinsicht besonders“, betonte der Zeuge. 2016 habe Deutschland mit Afghanistan ein Abkommen zur Rückführung afghanischer Staatsbürger unterschrieben. Auf dieser Grundlage fänden die Abschiebungen statt. Nach der Unterzeichnung des Abkommens sei ein Flug pro Monat angestrebt worden. Zwei Mal im Jahr habe man sich mit den afghanischen Behörden in „Umsetzungsausschüssen“ getroffen.

Zeuge: Die meisten Abschiebungen in Bayern

Der Ministerialrat berichtete, bei Flügen nach Afghanistan sei immer auch der Minister unterrichtet worden. Nur wegen der Corona-Pandemie seien Abschiebungen vorübergehend ausgesetzt gewesen. Weil die Bundesländer sechs Wochen vor dem Flug gefragt werden müssten, wieviel Platz sie in der Maschine benötigen, sei eine langfristige Planung notwendig. Drei Wochen vor dem Abflug seien die afghanischen Behörden unterrichtet worden. Bei den Rückführungen gebe es eine Obergrenze, führte er weiter aus. So dürften maximal 50 Personen mit jedem Flug nach Afghanistan abgeschoben werden. In der Regel seien es aber durchschnittlich 30 Personen gewesen.

Der Zeuge informierte den Ausschuss auch darüber, welche Länder insbesondere nach Afghanistan abgeschoben haben. Demnach bildete Bayern die Spitze, aber auch Länder wie Baden-Württemberg, Hessen oder Sachsen seien stark vertreten gewesen. Das einzige Bundesland, das „keinen Einzigen“ überführt habe, sei Bremen gewesen.

Asyllagebericht des Auswärtigen Amts

Ob grundsätzlich in ein Land abgeschoben werden könne oder nicht, werde auf Grundlage des Asyllageberichts des Auswärtigen Amts (AA) entschieden. Zu Afghanistan habe das AA am 15. Juli 2021 einen neuen Bericht vorgelegt, demzufolge Rückführungen „grundsätzlich möglich“ gewesen seien, auch dann noch, als die Sicherheitslage in Afghanistan sich verschlechtert habe.
Sein Ministerium habe die Einzelabschiebungen nicht überprüft, sagte der Zeuge. Es liege in der Verantwortung der Länder, die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung zu prüfen. Meistens habe es sich um Personen gehandelt, die schwere Straftaten begangen hätten und dafür verurteilt worden waren. Es sei aber nicht so, dass nur Straftäter abgeschoben werden könnten. Man habe nur priorisiert, wenn beispielsweise die afghanische Regierung Bedingungen gestellt habe.

Der Zeuge hob hervor, es wäre die Verpflichtung seines Referats gewesen, dem Minister die Aussetzung eines Fluges vorzuschlagen, sobald es festgestellt hätte, dass eine Abschiebung die Menschenrechte verletzen würde. Aber aus ihrer Sicht sei es nicht so gewesen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sei die Zahl der in Afghanistan getöteten Zivilisten im ersten Quartal 2021 zwar höher als im Vergleichszeitraum 2020 gewesen, aber noch deutlich niedriger als in den entsprechenden Vergleichszeiträumen 2015-2019, sagte er. In dieser Zeit seien nur zwei Flüge storniert worden, berichtete der Zeuge. Der zweite, der am 3. August, also nur 12 Tage vor dem Fall Kabuls stattfinden sollte, sei nur deshalb vom BMI gestoppt worden, weil an dem Tag Informationen aus Kabul Berlin erreichten, dass in der Stadt Explosionen zu hören und bewaffnete Gruppen auf Straßen zu sehen seien.

Aussetzung der Rückführungen

Nicht nur das BMI, sondern auch das AA sei gewillt gewesen, diesen Flug später durchzuführen. Denn die Entscheidung, ihn am 3. August zu stoppen, sei nicht auf eine grundlegende Verschlechterung der Sicherheitslage zurückgegangen. Zu diesem Zeitpunkt sei der Hausleitung bekannt gewesen, dass die Abschiebungen in den diplomatischen Kreisen in Kabul „kritisch angesehen wurden“. So sei am 10. August ein Schreiben von EU-Botschaftern aus Kabul gekommen, in dem empfohlen wurde, zu überlegen, Abschiebungen vorübergehend auszusetzen. Das sei insofern überraschend gewesen, weil die Entscheidungen darüber mit diesen Staaten gemeinsam getroffen würden.
Am nächsten Tag, führte der Zeuge aus, habe der Minister entschieden, die Unterstützung des Bundes für Rückführungen nach Afghanistan auszusetzen. Die Hintergründe dieser Entscheidung kenne er nicht, sagte der BMI-Beamte, aber sein Referat sei überrascht gewesen, weil es nicht in die Entscheidung einbezogen worden sei.
Es habe keine Linie des Hauses in Form von einer Weisung gegeben, aber „eine Vorgabe in Form von Besprechungen“, die Zahl der Ausreisepflichtigen in der Bundesrepublik im Rahmen des Möglichen zu senken, erklärte der Referatsleiter des BMI. „Wir hatten den Auftrag zumindest zu versuchen, den Vollzug des geltenden Rechts durchzusetzen.“ (crs/28.06.2023)

Marginalspalte