1. Untersuchungsausschuss

Zeugin sagt zur Rolle der Entwicklungs­zusammen­arbeit in Afghanistan aus

Blick auf Kabul im Dezember 2021

Blick auf die afghanische Hauptstadt Kabul im Dezember 2021. (picture alliance / EPA | Maxim Shipenkov)

In der letzten Sitzung des 1. Untersuchungsausschusses (Afghanistan) vor der Sommerpause hat eine Referentin aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ausgesagt. Die Zeugin hat dort nach eigenen Angaben zwischen Oktober 2020 und April 2022 als politische Referentin zu Afghanistan gearbeitet und in dieser Zeit auch verschiedene Entwicklungsszenarien mitentwickelt. Dafür habe sie, ohne einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu erheben, mehrere Gespräche mit aktuellen und früheren Kollegen vor Ort geführt sowie mit Personen aus dem Sicherheitsbereich und aus Nichtregierungsorganisationen. 

In einem Szenario habe man angenommen, dass die Taliban auf irgendeine Weise an der Regierung beteiligt werden könnten, sagte sie am Donnerstag, 6. Juli 2023. Sie hätten darüber diskutiert, was dieser Fall für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ) bedeuten würde. Zu diesem Zeitpunkt seien in Afghanistan nur robuste Projekte weitergeführt worden, die sich auch schnell einstellen ließen. Langfristige Projekte hätten sie nicht mehr empfohlen. Unter diesen Bedingungen habe man sich vorstellen können, die EZ fortzusetzen. Dafür hätte es aber einer politischen Entscheidung bedurft.

Gefährdung afghanischer Ortskräfte

Man sei sich bewusst gewesen, dass die Fortführung der EZ unter Taliban-Führung eine Gefährdung afghanischer Ortskräfte bedeutet hätte. Man habe aber abwägen müssen zwischen dieser Gefahr und der Gefahr für die afghanische Bevölkerung, würde die Entwicklungszusammenarbeit eingestellt.

Die Zeugin wies darauf hin, dass es selbst unter Taliban-Herrschaft Möglichkeiten gebe, die EZ fortzuführen, über multinationale Organisationen wie die Vereinten Nationen. In ihren Überlegungen sei jedoch immer klar gewesen, dass es keine direkte Zusammenarbeit mit den Taliban geben würde. Partner staatlicher deutscher Entwicklungszusammenarbeit könne nur eine demokratisch legitimierte Regierung sein, die auch die Menschenrechte achte, betonte sie.

Projekte zur Rechtsstaatlichkeit

Auf Nachfrage eines Abgeordneten führte die Zeugin aus, sie könne sich gut vorstellen, dass die Taliban versucht haben könnten, EZ-Projekte zu besteuern. Ihr sei jedoch kein einziges Projekt bekannt, wo ein Schutzgeld an die Taliban bezahlt worden wäre. „Wir haben darüber gesprochen“, sagte sie. „Das war unsere klare rote Linie.“

Auch auf Korruption hätten sie immer Acht gegeben, erklärte die Beamtin weiter. Ihre Projekte zur Rechtsstaatlichkeit hätten ohnehin immer auf Korruptionsbekämpfung gezielt. Auch sei die Finanzierung immer an Bedingungen geknüpft gewesen. Regelmäßig hätten sie geprüft, ob die vereinbarten Maßnahmen tatsächlich von den afghanischen Partnern umgesetzt werden. Bei Nichterfüllung sei die Zusammenarbeit eingestellt worden.

Frage nach Bleibeprämien

In der letzten Phase hätten sie beobachtet, dass die Zahl der Gefährdungsanzeigen durch die Ortskräfte stetig stieg. Schon vor August 2021 habe ihr Referat darauf hingewiesen, dass das Ortskräfteverfahren (OKV) für die Ortskräfte des BMZ vereinfacht werden müsste. Im Ernstfall sei es nicht mehr zu bewältigen gewesen. Sie hätten sich auf Arbeitsebene gewünscht, dass schnellere Visaverfahren eingeführt worden wären, aber die politische Entscheidung sei anders ausgefallen.

Die BMZ-Referentin wurde auch nach Briefen an die Ortskräfte angesprochen, in denen ihnen sogenannte Bleibeprämien angeboten wurden. Im Gegenzug sollten die Mitarbeiter auf das Ortskräfteverfahren verzichten. Sie erklärte daraufhin, der Begriff „Bleibeprämie“ sei ungünstig und unangemessen gewesen. Ziel der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), die im Auftrag des BMZ Entwicklungsprojekte durchführt, sei gewesen, den Ortskräften alle Optionen anzubieten. Niemandem sei gesagt worden, dass keine Gefährdungsanzeige gestellt werden solle. Nach ihrem Kenntnisstand habe niemand eine Bleibeprämie angenommen. 

Bei den Staatssekretärsrunden im Bundeskanzleramt hätten die Beteiligten nach ihrer Beobachtung stets auf Lösungen hingearbeitet. Wobei das Bundesinnenministerium und das Bundesverteidigungsministerium eine andere Perspektive gehabt hätten als das BMZ. Das Bundeskanzleramt habe eher zugehört.

Organisation der Ortskräfte-Evakuierung

Im weiteren Verlauf der Sitzung wurde der Leiter der Abteilung Afghanistan und Pakistan der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) befragt. Der Zeuge berichtete, wie seine Organisation die Evakuierung der Ortskräfte aus Afghanistan organisiert hat, und vertrat die Meinung, dass Afghanistan mit den Taliban an der Macht ein sichererer Ort sei als bei einem zuvor befürchteten Szenario eines Bürgerkriegs. 

Der Zeuge, der erst im Juni 2021, also kurz vor dem Fall Kabuls die Leitung der Abteilung übernommen hatte, berichtete, die GIZ habe erfolglos versucht, das Ortskräfteverfahren (OKV) zu vereinfachen. Ende Juni 2021 sei Bewegung in die Diskussion gekommen, weil dann die Bundeswehr das Verfahren vereinfachen konnte. Erst am 15.August sei das OKV jedoch vereinfacht worden. Dann sei es jedoch nicht mehr einfach gewesen, die Menschen außer Landes zu bringen.

„Vollkommen an der Realität vorbei“

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Auswärtige Amt (AA) hätten einer Ausweitung des Berechtigtenkreises des OKV kritisch gegenübergestanden, erinnerte sich der Zeuge. Umso überraschender sei für ihn die Entscheidung gewesen, die Kriterien für eine Berechtigung aufzuweichen. „Diese Entscheidung hat unser Leben nicht einfacher gemacht“, unterstrich der Abteilungsleiter der GIZ. Bereits im Juli seien mehr Anträge der Ortskräfte eingegangen, nach dem 15. August, dem Fall von Kabul, habe es einen „Run“ gegeben.

Von den Abgeordneten nach einem Brief an die Mitarbeiter gefragt, in dem ihnen ein Bleibegeld angeboten worden sei, erklärte der Zeuge, es sei dabei nicht darum gegangen, Personen davon abzuhalten, aus dem Land auszureisen. „Wir wollten die Personen unterstützen, die aus vielerlei Gründen in Afghanistan bleiben wollten“, gab er zu Protokoll. Diejenigen, die von diesem Angebot Gebrauch gemacht hätten, hätten auch nicht grundsätzlich ihr Recht auf das OKV verloren. Sie wären nur nicht mehr im vereinfachten Listenverfahren berücksichtigt worden und hätten ihren Antrag im Rahmen des regulären Ortskräfteverfahrens mit individueller Gefährdungsprüfung stellen müssen. Ohnehin habe keine einzige Person das Angebot angenommen, sondern alle hätten sich für die Ausreise entschieden. Deshalb führe „der Hype in der Presse vollkommen an der Realität vorbei“, so der Zeuge.

Zeuge: GIZ hat Tausende Helfer herausgeholt

Zu Überlegungen gegeben, die ausreisenden Ortskräfte „heimatnah“ unterzubringen, sagte er, Tadschikistan und Usbekistan sowie Pakistan seien im Gespräch gewesen. Aber keine einzige Regierung habe diese Personen aufnehmen wollen. Ihm sei es „egal“ gewesen, „ob sie jetzt nach Deutschland kommen oder in Usbekistan bleiben“. Die GIZ habe mehr als 28.000 Menschen aus Afghanistan herausgeholt, führte der Zeuge aus. Diese Evakuierung sei gut geplant und durchgeführt worden. „Wir haben zu jedem Zeitpunkt gewusst, wer auf welchem Weg ausreisen könnte.“ Für jeden Ausreisenden habe es ein Sicherheitskonzept gegeben, um jede Ortskraft habe man sich persönlich gekümmert. „Es war Rundum-Paket komplett bis Islamabad.“

Von den Taliban sei keine Gefahr ausgegangen. „Weil die Taliban sich an das halten, was sie sagen“, sagte der Zeuge. Sie hätten gesagt, sie würden niemanden verfolgen und jeden ausreisen lassen, der ausreisen wolle. Dieses Versprechen hätten sie gehalten. Der Zeuge wies darauf hin, dass die Taliban jederzeit die Busse mit Ausreisenden hätten anhalten können, wenn sie die gewollt hätten. Vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban sei das Hauptszenario für die GIZ ein blutiger Bürgerkrieg gewesen, erklärte er. Gegenüber diesem Szenario sei Afghanistan unter Taliban sicherer geworden sei, „weil der Hauptaggressor an der Macht ist“.

Informationspolitik der GIZ nach Afghanistan-Abzug

Der Abteilungsleiter der GIZ sagte, er sehe bei einer Tätigkeit für die GIZ keinen Unterschied in der Gefahrenlage zwischen Land und Stadt, durchaus aber zwischen den jeweiligen Provinzen. „Risikofeld ist für uns immer dann, wenn es innerhalb der Taliban Konflikte gibt“ sagte er. Diese Konflikte seien erst nach der Machtübernahme ausgebrochen.

Der Zeuge berichtete auch über die Informationspolitik seiner Organisation während der Tage der Krise. Die GIZ habe unzählige Anfragen erhalten und bei der Beantwortung Prioritäten gesetzt, erzählte er. Demnach sei die oberste Priorität gewesen, die Politik zu informieren, dann die Presse. Die Mitarbeiter außerhalb Afghanistans hätten an letzter Stelle gestanden.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/07.07.2023)

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