Bürgerschaftliches Engagement

Experten beurteilen Situation des Ehrenamtes im ländlichen Raum

Es stiftet Zusammenhalt und trägt zur Stärkung der Demokratie bei, es hat aber auch mit Nachwuchssorgen und infrastrukturellen Einschränkungen zu kämpfen: das Ehrenamt im ländlichen Raum. Fast 57 Prozent der Menschen in Deutschland leben im ländlichen Raum. Die besonderen Bedingungen, unter denen ehrenamtliches Engagement dort stattfindet, waren Thema des öffentlichen Fachgesprächs des Unterausschusses Bürgerschaftliches Engagement am Mittwoch, 5. Juli 2023.

Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt

Das Ehrenamt im ländlichen Raum trägt dazu bei, dass Menschen gerne dort leben, sagte die Parlamentarische Staatssekretärin Claudia Müller vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Das freiwillige Engagement sei sogar auf dem Land leicht höher als in den Städten. Das Ehrenamt und ein lebendiges Vereinsleben stifte Gemeinschaftsgefühl und Zusammenhalt und sei ein wichtiger Beitrag zur Stärkung der Demokratie und für die Stabilität unseres Landes. Ehrenamt biete Orte sozialer Integration, es werde gerade dort gebraucht, wo es wenige Freizeitangebote gebe. Ehrenamtliches Engagement leiste zudem einen wichtigen Beitrag zur örtlichen Daseinsvorsorge ebenso wie zur Jugendarbeit.

Das Ministerium betrachte es als seine Aufgabe, die Rahmenbedingungen für das ehrenamtliche Engagement zu stärken und krisenfest zu machen. Ein Ort werde nur lebendig, wenn sich dort Menschen engagierten. Aber das freiwillige Engagement habe zunehmend Nachwuchsprobleme. Viele Ältere würden ihre Aufgabe gerne weiterreichen, fänden aber niemanden, der sie übernehmen wolle. Es müsse möglich gemacht werden, dass Menschen neben Beruf und Familie einem Ehrenamt nachgehen könnten, so Müller.

Ohne einen ehrenamtlichen Vorstand komme Vereinsarbeit zum Erliegen. Alte und junge Leute müssten zusammenwirken. Nicht nur alle Altersgruppen, sondern auch gleichermaßen Männer und Frauen sowie alle Bildungsschichten gelte es einzubeziehen. Ehrenamtliche Arbeit gelte es zudem von dem bürokratischen und rechtlichen Drumherum zu entlasten. Ebenso sei eine funktionierende digitale Infrastruktur Voraussetzung für bürgerschaftliches Engagement auf dem Land.

„Es gibt nicht den einen ländlichen Raum“

Sebastian Dückers, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes der Deutschen Landjugend e.V., wies auf die langen Schul-, Arbeits- und Versorgungswege sowie auf Defizite der Infrastruktur auf dem Land als Herausforderungen für das dortige Ehrenamt hin. Nachteilige Strukturen auf dem Land bedrohten die „demokratische Integration“. Man könne allerdings nicht pauschal von dem einen ländlichen Raum sprechen, sondern die Entwicklung stelle sich in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich dar.

Mobilität und gut ausgebaute Infrastruktur seien Grundvoraussetzungen von Beteiligung und Engagement auf dem Land. Außerdem müsse die Politik ein besonderes Augenmerk auf die Beteiligung junger Menschen richten. Fördermittel müssten dynamisch erhöht werden. Erst auf dieser Grundlage könne Zivilgesellschaft vor Ort wirken.

Orte der Begegnung in Dörfern als „Andockstation“

Durch demographische Faktoren wie eine geringe Bevölkerungsdichte oder die Alterung gerate bürgerschaftliches Engagement auf dem Land ebenso unter Druck wie durch fehlende oder mangelhafte Infrastrukturen, sagte Prof. Dr. Claudia Neu vom Lehrstuhl für die Soziologie ländlicher Räume an der Universität Göttingen, Vorsitzende des BMEL-Sachverständigenrates für Ländliche Entwicklung. Auch im ländlichen Raum gebe es neben dem gebundenen, institutionalisierten Engagement neue, freiere Formen des Engagements. Wichtig sei, soziale Orte der Begegnung in Dörfern als „Andockstation“ für Engagierte zu erhalten und zu schaffen.

Dass das klassische organisationsbezogene Engagement älterer Menschen nach der Pandemie im ländlichen Raum zurückgegangen ist, darauf wies Dr. Julia Simonson, stellv. Institutsleiterin und Leiterin Forschung am Deutschen Zentrum für Altersfragen, hin. Das deute möglicherweise auf Probleme bei der Erreichbarkeit von Personen mit Einschränkungen hin. Zu den Herausforderungen für das Engagement im ländlichen Raum gehöre auch, dass soziale Ungleichheiten dort tendenziell stärker ausgeprägt seien als in der Stadt, und das Internet seltener genutzt werde.

Dabei sei das vereinsförmig organisierte Engagement im ländlichen Raum traditionell gut aufgestellt. Neue, informelle Formen des Engagements könnten darüber hinaus Möglichkeiten bieten, um neue Personengruppen für ein freiwilliges Engagement zu gewinnen und Ungleichheiten abzubauen. Letztere Engagementtypen müssten stärker als bisher gefördert werden. Auf dem Land müsse die Politik zudem am Abbau sozialer Ungleichheiten und am Ausbau der Infrastrukturen wie Internetabdeckung und ÖPNV arbeiten.

Förderpolitik: nachhaltiger, planbarer und einfacher

Matthias Wohltmann vom Deutschen Landkreistag stellte das Projekt „Hauptamt stärkt Ehrenamt“ vor. Dessen Leitfrage sei: Was kann ein Kreis tun, um ehrenamtliches Engagement zu unterstützen? Wie lassen sich nachhaltige hauptamtliche Strukturen zur Ehrenamtsföderung aufbauen? Man habe unterschiedliche Ansätze der Ehrenamtsförderung diskutiert und eine Handreichung erarbeitet mit Lösungsansätzen nach dem Baukastenprinzip. Denn die eine beste Lösung gebe es nicht. Auch nach Abschluss des Projekts würden die einzelnen Maßnahmen in allen 18 beteiligten Kreisen weitergeführt.

Die Brauchtumspflege stehe im ländlichen Raum stärker im Vordergrund als in der Stadt. Zudem liege vieles, das in der Stadt hauptamtlich geleistet werde, auf dem Land in den Händen Freiwilliger. Zwischen Ost und West gebe noch Unterschiede. Die Ehrenamtlichen wollten sich auf ihr Thema konzentrieren und sich nicht zu lange mit Vorgaben beschäftigen. Wichtig sei, dass die Förderpolitik nachhaltiger, planbarer und einfacher verständlich werde, sowie offener, in dem Sinne dass die Förderung nicht nur von Projekterfahrenen verstanden werde. (ll/06.07.2023)

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