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Grußwort von Bundesratspräsident Dr. Peter Tschentscher anlässlich des 75. Jahrestages der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates am 1. September 2023 in Bonn

[Es gilt das gesprochene Wort.]

Sehr geehrte Frau Präsidentin des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Dörner,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
sehr geehrter Herr Gauck,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Wüst,
sehr geehrter Herr Landtagspräsident Kuper,
sehr geehrte Frau Präsidentin Grotheer,
sehr geehrte Abgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,

hier im Lichthof des Museum König versammelten sich vor 75 Jahren, am 1. September 1948, die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. 61 Männer und 4 Frauen, denen die Aufgabe zukam, die Rechtsgrundlage für ein demokratisches Deutschland auf dem Gebiet der drei westlichen Besatzungszonen zu entwerfen. Auch fünf Vertreter West-Berlins waren anwesend.

Der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Karl Arnold, sagte in seiner Begrüßungsrede: „Wir beginnen mit dieser Arbeit in der Absicht und dem festen Willen, einen Bau zu errichten, der am Ende ein gutes Haus für alle Deutschen werden soll.“

Denn die historische Chance für einen demokratischen Neuanfang wurde davon überschattet, dass den ostdeutschen Ländern genau dieses verwehrt blieb und auch nichts darauf hindeutete, dass diese Teilung in naher Zukunft überwunden werden könnte.

So kam es, dass der Parlamentarische Rat nur eine vorläufige Verfassung für ein Land erarbeitete, das seine Teilung nicht akzeptierte. Es soll der damalige Hamburger Bürgermeister Max Brauer gewesen sein, der hierfür den Begriff Grundgesetz vorschlug.

Dem Auftrag der Siegermächte nach sollte dieser Staat eine föderale Struktur erhalten, mit Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten, und einer, so wörtlich, „angemessenen Zentral-Instanz“.

Auf die Erfüllung des Föderalismus-Gebots mit einer nicht zu mächtigen Stellung der sogenannten Zentral-Instanz legten die West-Alliierten größten Wert.

Und sie griffen sogar direkt die Arbeit des parlamentarischen Rates ein, um die Stellung der Länder im neuen Staatsgefüge zu stärken.

Demokratie, Föderalismus und die unantastbare Würde des Menschen waren die Antwort auf Deutschlands Nazi-Vergangenheit. Sie bildeten nun die Eckpfeiler des Grundgesetzes, mit dem 1949 die Bundesrepublik Deutschland begründet wurde.

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn heute über Föderalismus gesprochen wird, dann häufig mit einem negativen Beiklang. Es ist nicht selten von einem Flickenteppich die Rede, von gegenseitigen Blockaden und Streit zwischen den Ländern und dem Bund.

Doch der Kern des Föderalismus im Sinne des Grundgesetzes ist nicht der Konflikt, sondern die Zusammenarbeit, das Zusammenwirken von Bund und Ländern.

Und, meine sehr geehrten Damen und Herren, Demokratie beginnt nun einmal nicht mit zentralen staatlichen Institutionen an der Spitze. Sie wächst von unten, in den Gemeinden, Städten und Ländern.

In den Ländern entstanden nach dem Ende der Nazi-Diktatur auch die ersten demokratischen Strukturen. Aus freien Wahlen gingen demokratisch legitimierte Landtage hervor. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren Abgeordnete eben dieser Parlamente.

Mit anderen Worten: Der Föderalismus ist das Rückgrat unserer Demokratie, in der Deutschlands Vielfalt zur Geltung kommt, in der die Länder ihre ureigenen Zuständigkeiten haben und mit einer starken Rolle in die nationale Gesetzgebung einbezogen sind.

Die Art und Weise der Einbeziehung regionaler Interessen in die nationale Politik und Gesetzgebung ist ein Grundthema vieler demokratischer Staaten. 

Im Jahr meiner Bundesratspräsidentschaft ist mir in Gesprächen mit ausländischen Kolleginnen und Kollegen häufig die Auffassung begegnet, dass die Lösung dieser grundlegenden Aufgabe aus Sicht anderer Staaten im deutschen Föderalismus gut gelungen ist. 

Der Ruf des deutschen Föderalismus scheint im Ausland besser zu sein als bei uns selbst – das sollte uns zu denken geben.

Sehr geehrte Damen und Herren,

in seiner Eröffnung der konstituierenden Sitzung des Parlamentarischen Rates äußerte Alterspräsident Adolph Schönfelder, der erste gewählte Präsident der Hamburgischen Bürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, sein Bedauern darüber, „dass es uns nicht vergönnt ist, hier in unserem Kreise, frei gewählte Vertreter des ganzen Volkes versammelt zu sehen.“ 

Heute, 75 Jahre später, sind Bürgerinnen und Bürger aus ganz Deutschland hier im Museum König zusammengekommen, um gemeinsam einen historischen Tag in der Geschichte der Bundesrepublik zu feiern. Das Grundgesetz, das als Provisorium gedacht war, wurde durch die Wiedervereinigung Deutschlands vollendet. 16 Länder arbeiten heute gemeinsam mit dem Bund an der Gestaltung unseres Gemeinwesens und der Zukunft Deutschlands. Das Grundgesetz bildet dafür ein starkes Fundament. Es ermöglicht allen Bürgerinnen und Bürgern, sich frei zu entfalten und ihr Land mitzugestalten.

Sehr geehrte Damen und Herren, 

die Entwicklungen in der Welt zeigen, dass Demokratien nicht in Stein gemeißelt sind, dass sie von außen und innen schnell unter Druck geraten und gefährdet werden können.

Die Stärke unserer Demokratie beginnt damit, dass die Bürgerinnen und Bürger, dass wir alle die Werte des Grundgesetzes verinnerlichen, dass wir unser Staatswesen schützen und die Organe der Verfassung respektieren.

Ich danke dem Deutschen Bundestag sehr herzlich für die Ausrichtung dieses besonderen Festakts zur Würdigung der Arbeit des Parlamentarischen Rates und unserer Verfassung.

Vielen Dank.

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