Geschichte

Parlament in Krisenzeiten: Wie Politiker das Vertrauen der Gesellschaft gewinnen können

Die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Ansichten und Sorgen ernst nehmen und ihnen die Arbeitsweise des höchsten Verfassungsorgans erklären: So müssen die parlamentarische Demokratie und ihre Politiker besonders in Krisenzeiten das Vertrauen der Menschen gewinnen. Sie müssen zeigen, dass im Parlament im Interesse der Wählerinnen und Wähler um die besten Lösungen gerungen wird und in meist sehr kurzer Zeit Ergebnisse in Gesetzesform vorliegen, die den komplexen Anforderungen der modernen Welt gerecht werden. 

Das empfahlen die geladenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Recht und Zeitgeschichte in der jüngsten Ausgabe der Veranstaltungsreihe „Forum W“ am Dienstag, 17. Oktober 2023, im Deutschen Bundestag zum Thema „Parlamentarismus in Krisenzeiten“. 

Ein Blick 100 Jahre zurück

Einen Blick 100 Jahre zurück, auf das Krisenjahr 1923 und das Handeln des damaligen Reichstages, warf der Historiker Prof. Dr. Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin in der von Dr. Silke Albin moderierten Diskussion. In der fundamentalen Krise jenes Jahres war eine politische Problembewältigung nur durch ein sogenanntes Ermächtigungsgesetz zugunsten der Exekutive gelungen, nachdem Reichstag und Regierung aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen „in eine Spirale der Delegitimierung geraten“ seien. 

Damit habe der Reichspräsident Friedrich Ebert das System der parlamentarischen Demokratie stabilisieren wollen – eine Absicht, die der spätere Präsident Paul von Hindenburg nicht mehr verfolgt und stattdessen mit den antidemokratischen Kräften zusammengearbeitet habe. Nachdem der Regierung von Kanzler Gustav Stresemann die Stabilisierung der Währung gelungen war, seien die Gemeinsamkeiten der großen Koalition auch schon erschöpft gewesen und die SPD trat aufgrund von unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit den extremen politischen Kräften aus dem Bündnis aus.

Beispiel Frankreich oder Florida

1933 hätten sich die führenden konservativen Politiker eine gravierende Fehlkalkulation in der Einschätzung der Extremisten geleistet. Bereits die erste Beteiligung der NSDAP an einer Landesregierung, in Thüringen ab 1930, habe gezeigt, wohin es führe, wenn man Extremisten die Möglichkeit gebe, exekutive Macht auszuüben. Das könne man heute genauso in einigen Kommunen in Frankreich oder in den USA im Bundesstaat Florida beobachten: Es gebe Verbote etwa im kulturellen Bereich, hinzu komme eine Atmosphäre der Einschüchterung und des Opportunismus. 

Während er das heutige Grundgesetz nicht gefährdet sehe, habe er Sorge vor solchen „schleichenden Prozessen“, die durch eine Regierungsbeteiligung der Rechtsextremen losgetreten werden könnten, sagte Wirsching. „Keinen Zipfel exekutiver Macht“ dürfe man einer solchen Partei anvertrauen. 

„Deutsche Demokratie hat die Komfortzone verlassen“

Sorge bereite ihm auch die Verschiebung des politischen Diskurses, vor allem seit der 20. Wahlperiode. Während die Eliten der Bundesrepublik im Unterschied zur Weimarer Zeit vollständig auf dem Boden der Verfassung stünden und man heute auf eine 70-jährige demokratisch-republikanische Tradition zurückblicken könne, hätten sich in Teilen der Gesellschaft durch neue Akteure des politischen Radikalismus die „Grenzen des Sagbaren verschoben“. 

Der Wandel des Parteiensystems hin zu mehr Parteien habe die politische Willensbildung zudem erschwert. Spätestens ab 1990 habe die deutsche Demokratie die „Komfortzone verlassen“, als sich das bisher erprobte Dreiersystem mit zwei großen Volksparteien und den Liberalen um neue politische Kräfte erweiterte, die in den Bundestag einzogen. Damit seien die Dinge komplizierter geworden. Das Ringen um politische Lösungen sei aufwändiger, ziehe sich bis in die aktuelle Dreier-Koalition und werde medial ausgeschlachtet. Der Streit um den richtigen Weg gehöre aber zu den „inhärenten Zumutungen der Demokratie“ und höre nicht mit Ende des Wahlkampfs auf. „Das müssen wir aushalten.“ 

Man dürfe nicht nachlassen, den Bürgern durch eine breite Berichterstattung alle Facetten des „Arbeitsparlaments“ zu erklären, von dem schwierigen Weg und den „starken positiven Anstrengungen“ in zahlreichen Gremiensitzungen, über die Plenardebatten mit ihren Inszenierungen für die Öffentlichkeit hinaus, zu Lösungen zu kommen, Antworten auf die Fragen und Probleme der Menschen zu geben und „gute Gesetze zu machen“. Von dieser Komplexität des parlamentarischen Betriebs, seinem reibungslosen Funktionieren und dem guten Willen der demokratischen Akteure habe leider nur eine Minderheit eine Vorstellung. „Alle sind gefragt, diese Lücke zu schleißen.“ 

Das Parlament: Zentralorgan der Demokratie

Aus der Praxis der verschiedenen Ermächtigungsgesetze in Kaiserreich und Weimarer Republik, und vor allem aus dem Ermächtigungsgesetz von 1933, mit dem die Regierung zum Gesetzgeber wurde, habe die Bundesrepublik im Grundgesetz die richtigen Lehren gezogen, erläuterte Prof. Dr. Philipp Austermann, Professor für Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Derartige „verfassungsvernichtende Gesetze“, die die Gewaltenteilung aushebeln, seien heute nicht mehr möglich. „Das Parlament ist das unanfechtbare Zentralorgan unserer Demokratie.“

Während das Weimarer Parteiensystem durch die starken Gegensätzlichkeiten seiner Milieuparteien gekennzeichnet gewesen sei, die auf ihren Positionen beharrten, zeichne es die parlamentarische Kultur der Bundesrepublik aus, dass die demokratischen Parteien miteinander reden und koalitionsfähig seien, um eine stabile Regierungsmehrheit zu bilden und die Probleme des Landes zu lösen. Problematisch werde es, „wenn man Parteien ins Parlament bekomme, die zu diesem Konsens nicht mehr fähig sind“ oder wenn „Brandmauern“ errichtet würden. Die demokratischen Akteure müssten immer die Balance halten zwischen ihren Grundüberzeugungen und der Zusammenarbeit mit allen anderen, die die demokratischen Werte teilten. 

„Grundgesetz hat Einfallstore für Extremismus geschlossen“

Auch Austermann unterstrich die „Resilienz unserer Verfassung“. Sorge bereite ihm aber, wie sehr sich der politische Umgangston nicht nur in den Medien, sondern auch im Parlament in der 20. Wahlperiode verschlechtert habe. Seine Analyse der bisherigen Ordnungsrufe durch die Präsidentin und die Vizepräsidenten fördere eine bisher nicht dagewesene Palette an persönlichen Beleidigungen zutage. „Damit wird der Weg verlassen, auf dem man miteinander redet.“

Die Weimarer Verfassung habe dem Extremismus Einfallstore geboten, die das Grundgesetz verschlossen habe, erläuterte der Staatsrechtler. Aber eine Verfassung lebe davon, wie die Gesellschaft mit ihr umgehe. Wenn die Mehrheit nicht mehr hinter der Verfassung stehe, sei sie verloren. Der Großteil der Bevölkerung lasse sich Demokratie und Parlamentarismus jedoch heute nicht mehr nehmen, zeigte sich Austermann überzeugt. Dazu müssten aber alle verstehen, dass der politische Streit zur Demokratie gehöre, man aber über die Spielregeln, die Verfahrensfragen, einen Konsens brauche und untereinander anschlussfähig bleiben müsse. 

„Das Parlament nicht mit Erwartungen überfrachten“

Auf die Gegenwart parlamentarischer Krisenbewältigung blickte Prof. Dr. Sophie Schönberger, Professorin für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu der schwierigen Rolle von Parlamenten in Krisenzeiten gehöre, dass die meisten zentralen politischen Entscheidungen nur formal von der Mehrheit im Parlament getroffen würden, tatsächlich jedoch durch die von dieser Mehrheit getragenen Regierung.

Da mache sich dann öffentliches Unbehagen breit über die nicht wahrgenommene Rolle des Parlaments als Kontrolleur der Regierung. Würden in Krisenzeiten weitere Befugnisse auf die Regierung verlagert, die in dem vom Gesetzgeber gezogenen Rahmen dann Verordnungen erlassen dürfe, verstärke sich dieses Unbehagen, die „soziale Magie“ des Parlaments, die Machtausübung der Regierung zu legitimieren und einzuhegen, schwinde. 

In den jüngsten Krisen hätten sich Parlamente, insbesondere der Deutsche Bundestag, als sehr reaktionsfähig erwiesen. Dabei wohne dem Parlamentarismus eigentlich eine systemisch bedingte Langsamkeit inne, da dort erst zwischen unterschiedlichen Auffassungen vermittelt werden müsse und die Dinge bis auf den Grund durchdacht würden. Das Problem sei, dass man das Parlament heute mit Erwartungen überfrachte: Man erwarte einerseits diese Gründlichkeit, die Dinge gut zu machen, und andererseits solle alles ganz schnell gehen. 

„Positive Geschichten aus dem Parlament bringen“

Immer wieder neu, Sitzungswoche für Sitzungswoche, vollziehe der Bundestag diesen Balanceakt. Über die Jahrzehnte sei so bei den Menschen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des deutschen Parlaments gewachsen. Der Bundestag habe sich auch während der Corona-Pandemie gut geschlagen, während im Ausland deutlich mehr Entscheidungen auf die Exekutive verlagert worden seien. Eine Gruppe von Menschen, die durch Corona einen großen persönlichen Bruch erlebt und den Glauben an unsere Institutionen verloren hätten, „muss man wieder einfangen“. 

Jede Verfassung kann nur so gut sein wie die Menschen, für die sie gemacht sei und die sie tragen müssten, sagte Schönberger. Neben den Gefahren für die Demokratie auf rechtlicher Ebene, die man gebannt glaube, gelte es daher im Auge zu behalten, wie sich die Gesellschaft verändere. Wertüberzeugungen würden sich verschieben, der Umgangston, die Art, wie wir diskutieren, das alles verändere die politische und letztlich die parlamentarische Kultur. „Was passiert mit der sozialen Magie, wenn viele Abgeordnete nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes stehen?“

In der schrillen „Aufmerksamkeitsökonomie“ der Medien müsse auch das Parlament sichtbarer werden – mit positiven Geschichten. „Narrationen sind ein zentraler Punkt.“ Während es in der Wissenschaft eine positive Erzählung des politischen Systems gebe, fehle das in den Medien fast völlig. Politiker und alles Politische würden fast immer ganz düster und als suspekt dargestellt. Das konsumierten die Leute. „Wo soll denn das positive Erleben und eine positive Grundeinstellung herkommen?“ Sie plädiere keinesfalls für Propaganda. Aber das Parlament brauche mehr Aufmerksamkeit, als der Ort, wo die zentralen Fragen des Landes verhandelt würden. (ll/18.10.2023)

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