Geschichte

Vor 40 Jahren: Deutscher Bundestag hält am Nato-Doppelbeschluss fest

Im Plenarsaal halten fünf Personen mit Blick zu Bundeskanzler Kohl große Bilder aus dem Vietnamkrieg hoch.
Viele Protestierende auf einer Straße werden von Polizeikräften mit Wasserwerfern zurückgedrängt.
Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt steht an einem Rednerpult mit der Aufschrift Pershing II, Cruise Missiles NEIN.
Mehrere Menschen demonstrieren auf der Straße mit Transparenten. Auf dem vordersten Transparent steht geschrieben: Der Atomtod bedroht uns alle. Keine Atomraketen in Europa.
Handschlag zwischen Helmut Kohl und Helmut Schmidt, nachdem Kohl zum neuen Bundeskanzler gewählt wurde.
Ein beladener Laster wird von mehreren bewaffneten Personen bewacht.
Der Bundestagsabgeordnete Gert Bastian von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wird von drei uniformierten Männer weggetragen.
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) sitzt an einem Tisch und hält einen Papierflieger in der rechten Hand. Ein Mann neben ihm schaut in seine Richtung.

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21.11.1983: Abgeordnete der Fraktion Die Grünen halten aus Protest gegen den Nato-Doppelbeschluss während der Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl (rechts) Großfotos aus dem Vietnamkrieg hoch. (picture-alliance/ dpa | Egon Steiner)

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Polizeikräfte mit Wasserwerfern drängen am 21. November 1983 mehrere tausend Demonstranten aus der Bannmeile des Bundestages. (picture alliance / Heinz Wieseler | Heinz Wieseler)

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22.10.1983: Willy Brandt, SPD-Vorsitzender, spricht auf der „Volksversammlung für den Frieden“ im Bonner Hofgarten. (picture alliance / SvenSimon | SVEN SIMON)

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Anlässlich einer Kommandeurstagung der Bundeswehr am 16.10.1982 demonstrieren rund 7000 Anhänger der Friedensbewegung gegen neue Atomraketen und den Nato-Doppelbeschluss. (picture alliance / Klaus Rose | Klaus Rose)

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Der gestürzte Bundeskanzler Helmut Schmidt (rechts) beglückwünscht am 01.10.1982 seinen Nachfolger Helmut Kohl (CDU) zu dessen Wahl. (picture-alliance / dpa | Jörg Schmitt)

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11.03.1983: Unter militärischer Bewachung werden weiterhin Pershing-II Raketen in das US-Raketen-Depot in Mutlangen gebracht. Bei einer Rangelei einige Tage zuvor zwischen amerikanischen Soldaten und Mitgliedern der Friedensbewegung vor dem US-Stützpunkt wurden vier Personen verletzt. Eine Gruppe der Friedensbewegung hatte einen US-Konvoi blockiert. (picture-alliance / dpa | DB)

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04.02.1983: Der Bundestagsabgeordnete und ehemalige Bundeswehrgeneral Gert Bastian (Die Grünen) wird auf der Blockade der Wiley-Kaserne in Neu Ulm weggetragen. Die Teilnehmer der Blockade demonstrierten gegen die in der Kaserne stationierten amerikanischen Pershing-II Raketen.
(picture-alliance / dpa | dpa Information für Friedenspolitik GmbH)

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Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bastelt während der Rede des SPD-Vorsitzenden Willy Brandt im Deutschen Bundestag am 22.11.1983 einen Papierflieger mit dem - wahrscheinlichen - Schriftzug „Pershing II“. (picture-alliance/ dpa | dpa)

Vor 40 Jahren, am 22. November 1983, traf der Deutsche Bundestag eine weitreichende Entscheidung: Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP sprach sich das Parlament für den umstrittenen Nato-Doppelbeschluss von 1979 aus. Dieser sah die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik Deutschland vor, falls die geplanten Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion (UdSSR) innerhalb der nächsten vier Jahren scheitern sollten.

Der Abstimmung im Parlament war eine zweitägige Aussprache über drei Anträge vorausgegangen: Während die Koalitionsfraktionen die Durchführung des Nato-Doppelbeschlusses forderten (10/620), lehnten SPD und Die Grünen die Stationierung von neuen Raketensystemen in Deutschland ab (10/621, 10/617). Eingeleitet worden war die Diskussion im Plenum mit einer Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl (CDU), der betonte, die Debatte entscheide über die Grundsatzfrage, „wie in unserem Land, wie in Westeuropa Frieden und Freiheit gesichert werden können“.

Der Bundestagsbeschluss vom 22. November 1983 hat eine lange Vorgeschichte: Deutschland sowie die weiteren Nato-Staaten befanden sich im Kalten Krieg mit der UdSSR. Zwei Blöcke, zwei Wirtschaftssysteme, zwei Militärbündnisse. Und keinerlei Einlenken auf beiden Seiten. Trotz Bemühungen um Rüstungsbeschränkung und Versuche der Aussöhnung ging das atomare Wettrüsten in Ost und West weiter. Als die UdSSR Mitte der 1970er-Jahre begann, ihre auf Westeuropa ausgerichteten atomaren Mittelstreckenraketen zu modernisieren, befürchtete der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) ein strategisches Ungleichgewicht.

Sorge um atomares Gleichgewicht

Auf dem Höhepunkt der machtpolitischen Rivalität zwischen den USA und der UdSSR schlug Bundeskanzler Schmidt den Bündnispartnern auf einer Sitzung des Nato-Rats 1979 daher eine strategische Vereinbarung vor: „Nachrüstung so weit wie nötig zur Herstellung des ungefährlichen Gleichgewichts, aber so weit wie möglich gegenseitig vereinbarte Rüstungsbegrenzung.“ 

Mit seiner Forderung nach Rüstungskontrolle stieß Schmidt im Westen auf breite Zustimmung. Folglich unterzeichneten die Nato-Staaten am 12. Dezember 1979 ein entsprechendes Abrüstungsabkommen – begleitet von einer großen Protestbewegung in ganz Europa. Aus Sorge vor einem Atomkrieg schlossen sich auch in Deutschland Hunderttausende der Friedensbewegung an. Getragen wurde der Protest vor allem von den Grünen sowie kirchlichen und gewerkschaftlichen Gruppen. Aber auch Teile der SPD unterstützten die Forderung der Demonstranten, den Nato-Doppelbeschluss zurückzunehmen und Mitteleuropa zu einer „atomwaffenfreien Zone“ zu machen.

Schmidt stürzt, Kohl wird Kanzler

Die Kritik an der Politik des Kanzlers wuchs in den kommenden Wochen und Monaten immer weiter an und endete in einem von der CDU/CSU-Fraktion sowie der FDP-Fraktion durchgeführten Misstrauensvotum. In der Plenarsitzung am 1. Oktober 1982 appellierte Schmidt noch einmal an die „Glaubwürdigkeit der Institutionen und der handelnden Personen“ – doch ohne Erfolg. Mit einer absoluten Mehrheit sprach der Deutsche Bundestag sein Misstrauen gegenüber Bundeskanzler Helmut Schmidt aus und wählte als seinen Nachfolger den Abgeordneten Helmut Kohl (CDU/CSU). Damit war zum ersten Mal ein Regierungschef durch ein konstruktives Misstrauensvotum an die Macht gekommen.

Doch auch unter dem neuen Bundeskanzler war der Nato-Doppelbeschluss weiterhin eine Konfliktlinie. Zwar stand der neue Kanzler Kohl hinter dem Nato-Doppelbeschluss. Doch die kritischen Stimmen in der sich nun in der Opposition befindenden SPD mehrten sich – nicht zuletzt, weil die im November 1981 in Genf begonnen Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion bis dato erfolglos blieben.

Beschluss bleibt „Zankapfel“

In der Plenarsitzung am 22. November 1983 kritisierte der SPD-Abgeordnete Erwin Horn die Regierung für ihre „Verhandlungen und Behandlungen des Doppelbeschlusses“. Horn: „Der Doppelbeschluss ist inzwischen zum Zankapfel in unserem Bündnis geworden und belastet die Innenpolitik der Stationierungsländer.“ Ursprünglich habe die SPD den Beschluss als „eine Chance“ angesehen, um die „Großmächte an den Verhandlungstisch zu bringen, um Ergebnisse zur Abrüstung zu erreichen“. Doch die bloße Stationierung von Mittelstreckensystemen in Europa ändere „weder qualitativ noch quantitativ überhaupt etwas am globalstrategischen Gleichgewicht“. Vielmehr erscheine ihm die Stationierung als „Kennzeichen einer inneren Schwäche“.

Eine ähnlich ablehnende Haltung hatte auch Christa Nickels (Die Grünen), die dem Bundeskanzler vorwarf, sein Versprechen, Frieden „mit immer weniger Waffen“ zu schaffen, zu brechen. Wichtig sei es, dass die Politik auf die Wissenschaftler und Ärzte höre, die davor warnen, dass ein Atomkrieg „zum Untergang der Welt“ führe. Auch Willy Brandt (SPD) befürchtete einen Realitätsverlust: „Ich finde, dass die Bundesregierung verniedlicht, wo mehr Realismus geboten wäre“, kritisierte Brandt. „Aus meiner Sicht der Dinge ist leider abzusehen, dass der Einschnitt, der jetzt im Ost-West-Verhältnis bevorsteht, tiefer gehen wird, als es sich die meisten heute vorstellen.“

Koalitionsfraktionen halten am Beschluss fest

Der FDP-Abgeordnete Helmut Schäfer kritisierte die Friedensbewegung hingegen als eine „irrationale Strömung“. Eine „tiefsitzende romantische Neigung“ führe fälschlicherweise dazu zu glauben, „man könne sich aus der Verantwortung stehlen, man könne sich zwischen den Weltmächten eine Insel schaffen“. Die „Vorstellung eines deutschen Neutralismus“ sei „schlicht und einfach grotesk“. Bereits am Tag zuvor, dem ersten Tag der Debatte am 21. November, hatte der von der FDP gestellte Bundesminister für Auswärtiges, Hans-Dietrich Genscher, vor einem „Vakuum der Kräfte“ gewarnt. Außerhalb der Nato wäre Deutschland geschwächt und würde zum „Gegenstand der Rivalität werden“. Dies dürfe nicht geschehen.

Auch Bundesverteidigungsmister Dr. Manfred Wörner (CDU) verteidigte den Beschluss und warnte vor den Folgen einer Abkehr des Vertrags: „Ein Ausstieg aus dem Doppelbeschluss hätte verheerende Folgen für die Atlantische Allianz. Wer, ob Freund oder Feind, könnte sich dann auf unsere Entscheidungen noch verlassen?“

Bundestag stimmt Nachrüstung zu

Trotz einer intensiven Debatte blieben die Anträge der Oppositionsfraktionen SPD und Die Grünen mit der Forderung, die Aufrüstung zu stoppen, erfolglos. Stattdessen stimmte der von CDU/CSU und FDP geführte Bundestag am 22. November 1983 mit einer knappen Mehrheit von 285 Stimmen für die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik.

Einen Tag später brach die UdSSR die Abrüstungsgespräche mit den USA ab. Noch an selbem Tag wurden die ersten Pershing-II-Raketen in Deutschland stationiert. (mtt/17.11.2023)

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