1. Untersuchungsausschuss

Experte: Friedensprozess in Afghanistan war nie Ziel der USA

Blick auf Kabul im November 2021.

Der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan wirft viele Fragen auf. (picture alliance/dpa/MAXPPP | Antonin Burat / Le Pictorium)

Im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat am Donnerstag, 16. November 2023, ein Mitglied des internationalen Beraterteams der afghanischen Verhandlungsteams ausgesagt. Der Experte aus Kolumbien kritisierte den Ansatz der internationalen Mission in Afghanistan, und sprach von verpassten Chancen, die früher zu einem Frieden in Afghanistan hätten führen können.

Der Zeuge, der heute als Senior Advisor des in Brüssel ansässigen European Institute of Peace (EIP) arbeitet, erläuterte, seine Aufgabe bei den innerafghanischen Friedensverhandlungen in Doha sei es gewesen, beteiligte Parteien aufgrund eigener Erfahrungen dahingehend zu beraten, eine Struktur für die Verhandlungen zu finden. Dabei hätten sein Team und er in ständigem Kontakt mit den Sonderberatern verschiedener Länder, unter anderem auch mit dem Sonderbeauftragten der Bundesregierung Markus Potzel, gestanden. Der Zeuge urteilte, die Rolle des Gastgebers Katar sei nicht sehr hilfreich gewesen.

„Man kann nicht den Krieg eines anderen führen“

Als Hauptfehler in Afghanistan bezeichnete er die gesamte Strategie des Westens. „Man kann nicht den Krieg eines anderen führen“, sagte er. Nicht nur das militärische Vorgehen, sondern alles, was die internationale Gemeinschaft gemacht habe, sei falsch gewesen. „Die Afghanen hätten es selber machen müssen, man hätte ihnen sagen müssen, ihr müsst es selber tun.“

Wenn man einem so armen Land wie Afghanistan so viel Geld gebe, müsse man sehr vorsichtig sein, führte der Experte aus. Amerikaner und Europäer würden immer denken, die Afghanen seien korrupt, aber das sei „normal“, wenn so viel Geld in ein armes Land gepumpt werde. 

Experte: Friede hätte erreicht werden können

Außerdem habe es in Afghanistan mehrfach Zeiten gegeben, in denen die Taliban militärisch am schwächsten gewesen seien und ein Frieden zu erreichen war. Die erste solche Chance habe er zu Beginn des Einsatzes, im Jahr 2001, gesehen. Damals habe der damalige afghanische Präsident Hamid Karzai vorgeschlagen, die Taliban in den Staat einzubinden, was die USA abgelehnt hätten. Eine weitere Möglichkeit sei unter US-Präsident Barack Obama verpasst worden.

Selbst 2021 sei es noch möglich gewesen, eine verhandelte Lösung zu finden, sagte der Zeuge. Doch das Ziel der US-Administration unter dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump, die US-Truppen um jeden Preis aus Afghanistan abzuziehen, habe die Verhandlungen zu Scheinverhandlungen werden lassen. Die Taliban hätten nur den Abzug abwarten müssen. 

Zeuge: Doha war ein schlechtes Abkommen

Schon vor dem Doha-Abkommen, mit dem die USA und die Taliban den Abzug internationaler Truppen vereinbarten, habe die US-Administration falsche Signale gesendet, urteilte der Experte, der in Kolumbien das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla ausgehandelt hat. Trump habe schon kurz nach Beginn der Verhandlungen eine starke Truppenreduzierung angekündigt, anstatt durchblicken zu lassen, dass der Abzug ohne Abkommen nicht stattfinden würde. 

Der Zeuge nannte das Doha-Abkommen das wahrscheinlich schlechteste Abkommen, das die Amerikaner verhandelt hätten. Das sei auch das Hauptproblem gewesen, denn das Ziel der Amerikaner sei nie ein Friedensabkommen, sondern immer nur der Abzug der Truppen gewesen.

Die Beschleunigung des militärischen Zerfalls

Der damalige afghanische Präsident Ashraf Ghani und sein enges Umfeld hätten andererseits auch nicht viel früher mit einer Stimme gesprochen. Irgendwann sei Ghanis politischer Konkurrent Abdullah Abdullah nach Doha gekommen, aber da sei es schon zu spät gewesen.

Bei den Verhandlungen selbst habe die Delegation der afghanischen Republik, entgegen dem allgemeinen Eindruck, gut gearbeitet und durchaus kleine Erfolge erzielt. Die Taliban hingegen hätten bis kurz vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung im Juli 2021 nicht einen einzigen Vorschlag gemacht. Dann seinen sie plötzlich bereit gewesen, über eine Verfassung zu diskutieren, wohlwissend, dass sie das Problem bereits militärisch gelöst hatten.

Die Beschleunigung des militärischen Zerfalls sei wahrnehmbar gewesen, sagte der Zeuge weiter. Das habe er sowohl den Erzählungen der Mitglieder der afghanischen Delegation entnommen als auch den Berichten der Experten. „Es gab viele, die eine sehr gute Arbeit gemacht haben“, betonte er.

Kommunikation mit den USA war laut Zeugen unzureichend 

Der ehemalige Leiter des Referats Afghanistan und Pakistan des Auswärtigen Amtes hat am Donnerstagabend zum zweiten Mal vor dem 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan ausgesagt und Gründe für das Scheitern der innerafghanischen Friedensgespräche aus seiner Sicht erläutert. Dem Diplomaten zufolge seien die Taliban 2019, direkt im Anschluss an die von Deutschland und Katar ausgerichtete innerafghanische Dialogkonferenz in Doha, sehr interessiert an Friedensgespräche gewesen. Sie hätten aber versucht, „mehr Zugeständnisse aus den Amerikanern und der afghanischen Regierung herauszupressen“.

Die kurz danach auf Grundlage des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban geführten innerafghanischen Friedensgespräche seien schließlich aus mehreren Gründen gescheitert, erklärte der Diplomat, der die Verhandlungen aktiv begleitet hat. So habe die afghanische Regierung nicht über ausreichend Legitimität verfügt. Die Verhandlungen hätten Jahre zu spät stattgefunden und seien zunehmend bedingungsloser geführt worden. Der damalige afghanische Präsident Aschraf Ghani habe zudem eine Bunkermentalität an den Tag gelegt und bis wenige Tage vor dem Zusammenbruch nicht geglaubt, dass die US-Truppen das Land verlassen würden. Ghani und sein näheres Umfeld hätten den Gesprächen in Doha stets skeptisch gegenüber gestanden.

Keine Bedingungen für Abzug der internationaler Truppen

Doch das Hauptproblem sei es gewesen, sagte der Zeuge aus, dass im Doha-Abkommen keine Bedingungen für den Abzug der internationalen Truppen festgelegt worden seien. Der Zeuge sagte, Deutschland habe bei beiden Parteien, der afghanischen Regierung und den Taliban, einen Vertrauensvorschuss gehabt. „Noch vor Jahren sind wir auf die Taliban zugegangen und haben versucht, Gesprächskanäle zu öffnen“, berichtete er. Dass Deutschland militärisch nicht der Hauptfeind der Taliban gewesen sei, sei ein weiterer Vorteil gewesen. Es habe auch ernsthafte Überlegungen und Vorbereitungen gegeben, die Gespräche in Norwegen oder Deutschland zu führen. Dazu sei es aber nicht gekommen, wozu die damals herrschende Corona-Krise wesentlich beigetragen habe.

Die Möglichkeit, dass die afghanische Republik zerfallen könnte, sei vom Tag Eins an vorhanden gewesen, führte der Diplomat aus. Jedoch hätten alle kollektiv unterschätzt, wie schnell dieser Zerfall vonstattengehen würde. Es sei klar gewesen, dass die militärische Lage sich verschlechtert hatte, aber selbst sechs Tage vor dem der Eroberung Kabuls durch die Taliban hätten weder „unsere Dienste“ noch Amerikaner den endgültigen Zusammenbruch vorausgesehen.

Kommunikationsprobleme mit den USA

Der Zeuge hob während seiner knapp sechsstündigen Befragung mehrmals die Kommunikationsprobleme mit den USA hervor, die, aus seiner Sicht, auch zu Fehlentscheidungen in Deutschland geführt hätten. So schilderte er, wie eigene Diplomaten die Bundesregierung über die Absicht der US-Administration, frühzeitig aus Kabul abzuziehen, informiert hätten. Sie habe diese Berichte sehr ernst genommen und von den US-amerikanischen Verbündeten Evakuierungspläne erwartet - nicht über Umwege, sondern direkt von Hauptstadt zu Hauptstadt. Aus Washington sei jedoch keine direkte Nachricht gekommen. Andernfalls, vermutete der Diplomat, wäre die Entscheidung, die Botschaft in Kabul zu evakuieren, sicherlich zwei bis drei Tage früher gekommen. „Die Bundesregierung hat diese Entscheidung aufgrund äußerst unzufriedenstellender Kommunikation der USA getroffen.“

In Bezug auf die afghanischen Ortskräfte wies der Zeuge Vorwürfe zurück, ihre Evakuierung wäre zu spät eingeleitet worden. Deutschland habe noch vor Amerikanern und Franzosen angefangen, die Ortskräfte nach Deutschland zu bringen. Die Entscheidung, dafür keine Charterflüge zu organisieren, begründete der ehemalige Referatsleiter im Auswärtigen Amt damit, dass dies ein falsches politisches Signal gewesen wäre. Außerdem habe noch am 10. August niemand von den Ortskräften Bedarf angemeldet, obwohl die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GiZ) im ständigen Dialog mit ihnen gestanden habe.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/16.11.2023)

Zeit: Donnerstag, 16. November 2023, 12 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 4.900

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