Parlament zieht gemischte Halbzeitbilanz der Agenda 2030
Im Jahr 2015 hatte die UN-Vollversammlung die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung beschlossen. Für 17 Ziele wurden Zielmarken aufgestellt, von Armutsbekämpfung über Umweltschutz bis zu Frieden und Gerechtigkeit. Jetzt zur Halbzeit hat die Bundesregierung eine Zwischenbilanz mit dem Titel „Mit Mut gemeinsam Zukunft gestalten – weiter Fahrt aufnehmen“ vorgelegt (20/8719). Der Bundestag hat am Freitag, 19. Januar 2024, darüber debattiert. Dabei war man sich einig, dass viele Ziele noch in weiter Ferne liegen, höchst uneinig allerdings, wie dies im Einzelnen zu bewerten ist. Im Anschluss an die Debatte überwiesen die Abgeordneten die Unterrichtung an die Ausschüsse. Bei den weiteren Beratungen übernimmt der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz die Federführung.
Stärkung des Beirats für nachhaltige Entwicklung
Zudem nahm das Plenum eine Unterrichtung des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung (20/10100), in dem es um dessen Weiterentwicklung geht, zur Kenntnis. Der 2004 vom Bundestag eingesetzte Beirat soll nach dem Vorschlag seiner Mitglieder den Namenszusatz „und Zukunftsfragen“ erhalten. Seine Rolle als „wichtige Schnittstelle zwischen Parlament und Gesellschaft“ soll ausgebaut werden. Unter anderem soll der Beirat künftig „prüfen können, wie und ob die eingesetzten Haushaltsmittel im jeweiligen Politikfeld nachhaltig ausgegeben werden“.
Tessa Ganserer (Bündnis 90/Die Grünen) nannte es wichtig, dass der Parlamentarische Beirat Controlling-Funktionen erhält und Gesetzentwürfe nicht nur nur formell, sondern auch materiell prüfen kann. Felix Schreiner (CDU/CSU) bedauerte, dass seine Fraktion eine Aufwertung des Beirats zum Ausschuss nicht durchsetzen konnte. Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) schlug zudem vor, nach dem Vorbild der Haushaltswochen regelmäßige Nachhaltigkeitswochen im Bundestag einzuführen, auf denen über die Zielerreichung in allen Politikfeldern debattiert wird.
Bundesregierung: Wir sind vorangekommen
Die Staatsministerin beim Bundeskanzler Sarah Ryglewski (SPD) nahm für Regierung in Anspruch, in dieser Legislaturperiode bei der Nachhaltigkeit vorangekommen zu sein. So werde mittlerweile mehr als die Hälfte des Strombedarfs aus regenerativen Quellen erzeugt. Auch das Bürgergeld nannte sie als ein Beispiel für „Nachhaltigkeit im besten Sinne“. Denn es räume einen Vorrang für die Vermittlung in den Arbeitsmarkt ein, so dass Menschen aus dem „unsäglichen Drehtüreffekt“ mit kurzfristigen Minijobs und wiederholter Arbeitslosigkeit herauskämen.
Auf die Verknüpfung von nationaler und internationaler Dimension der Agenda 2030 wies die Staatssekretärin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bärbel Kofler (SPD) hin. Entwicklungshilfe sei gut investiertes Geld, auch für uns selbst„. Dies gelte für den Kampf gegen den Klimawandel, aber auch für die Bekämpfung der Armut. Denn diese führe zur Befriedung der betroffenen Länder und zu weniger Flucht.
Fundamentalkritik von der AfD
Dagegen warf Rainer Kraft (AfD), der Regierung vor, sie würde “die Früchte der Arbeit von Angestellten, Arbeitern und Unternehmern freigebig in der Welt verteilen, während Sie für die Fleißigen in Deutschland ständig neue Härten schaffen„. Kraft beklagte die Belastung etwa von Landwirten und Spediteuren unter dem Vorwand der Nachhaltigkeit.
Albrecht Glaser (AfD) bemängelte, dass die Problematik der weltweiten Bevölkerungsentwicklung in dem Bericht der Bundesregierung nicht vorkomme. Nach Prognosen werde sich die Bevölkerung Afrikas bis 2050 verdoppeln, sagte Glaser. “Was das für Nachhaltigkeitsziele: kein Hunger, keine Armut, bezahlbare saubere Energie, menschenwürdige Arbeit bedeutet, kann man sich an den Fingern abzählen.„
CDU/CSU: Nachhaltigkeit braucht Wachstum
Für Anja Weisgerber (CDU/CSU) bedeutet Nachhaltigkeit, “Wirtschaft, Soziales und Umweltschutz unter einen Hut zu bekommen. Dazu aber brauche es weiterhin Wachstum, das die Regierung aber mit hohen Energiepreisen und „immer mehr Bürokratie“ behindere. Nicht nachhaltig sei auch die Finanzpolitik der Koalition, ebenso wie „Ihr Bürgergeld“. „Anstelle Arbeitslose in den Job zu bringen, funktionieren Sie die Jobcenter zu Zahlstellen um“, kritisierte Weisgerber. Gleichzeitig erhöhe die Regierung das Bürgergeld um 12 Prozent, während sie die Unternehmen belaste und ein Höfesterben riskiere.
Wolfgang Stefinger (CDU/CSU) kritisierte die geplanten Kürzungen im Entwicklungsetat. In den internationalen Waldschutz zu investieren bringe weit mehr für Klima und Nachhaltigkeit, als Menschen hierzulande zum Austausch ihrer Heizungen zu zwingen.
FDP sieht bürokratische Hemmnisse
Ein Hemmnis für nachhaltige Entwicklung lokalisierte Knut Gerschau (FDP) in langwierigen Genehmigungsverfahren für nachhaltige Produkte und nachhaltiges Bauen. „Wir müssen die Unternehmen, die Menschen nur lassen, indem wir Freiräume schaffen, nicht zusätzliche Vorschriften, und die Chancen im technischen Fortschritt sehen“, sagte Gerschau.
Erst wenn ressourceneffiziente, schadstoffarme und klimafreundliche Produkte zum Teil des wirtschaftlichen Erfolgs würden, werde Nachhaltigkeit zum Arbeitsplatz- und Wohlstandsgarant, sagte Gerschau. Derzeit führe die Verfolgung der Nachhaltigkeitsziele in Deutschland oft zu „unnötiger Bürokratie“ und würde von den Unternehmen als Belastung empfunden.
Grüne: Regierung international erfolgreich
Johannes Wagner (Bündnis 90/Die Grünen) lobte die Erfolge der Bundesregierung auf internationaler Ebene. So habe sie viel dazu beigetragen, dass die jüngste Weltklimakonferenz die Abkehr von fossiler Energie beschlossen hat.
Allerdings beklagten Abgeordnete der Grünen wir auch anderer Fraktionen, dass man noch weit vom Erreichen der 17 Nachhaltigkeitsziele entfernt sei. Die globale Ungerechtigkeit habe sogar zugenommen, bedauerte Tessa Ganserer unter Verweis auf den unlängst vorgestellten Oxfam-Bericht.
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Die Bundesregierung verweist in ihrem Bericht darauf, dass die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie Anforderungen an alle Politikbereiche stelle. Schwerpunkte der Arbeit im Rahmen der Strategie liegen der Vorlage zufolge derzeit auf sechs Transformationsbereichen, in denen besonderer Bedarf für weitere Fortschritte für eine nachhaltige Entwicklung und eine integrierte Herangehensweise bestehe.
Den ersten Transformationsbereich überschreibt die Regierung mit „Menschliches Wohlbefinden und Fähigkeiten, soziale Gerechtigkeit“. Dazu kündigt sie unter anderem an, eine Strategie gegen Einsamkeit zu erarbeiten. Mit Hilfe der nationalen Aktionspläne „Kinder und Jugendbeteiligung“ und „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“ sollen Kinder und Jugendliche an der gesellschaftlichen Transformation stärker beteiligt werden. Die Länder sollen bei der Vorbereitung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbildung und -betreuung für Grundschulkinder, der ab 2026 jahrgangsweise eingeführt werden soll, unterstützt werden.
Mit dem Lebenschancen-BAföG solle ein Förderinstrument geschaffen werden, das die selbstbestimmte Weiterbildung unterstützt. Zudem will die Regierung nach eigener Darstellung Beschäftigten im Rahmen einer Bildungszeit oder -teilzeit bei der arbeitsmarktbezogenen Weiterbildung finanziell helfen. Um die Transformation auch im Kulturbereich voranzutreiben, solle eine Anlaufstelle „Green Culture“ aufgebaut werden.
Energiewende und Klimaschutz voranbringen
Im zweiten Transformationsbereich will die Regierung Energiewende und Klimaschutz voranbringen. Geplant sei, die Voraussetzungen für grüne Leitmärkte zu schaffen, um durch öffentliche Beschaffung und Mindeststandards für klimafreundliche Produkte die Nachfrage nach grünen Produkten zu fördern. Der „Wasserstoffhochlauf“ solle zum Ziel führen, mindestens zehn Gigawatt heimischer Elektrolyseleistung bis 2030 zur Herstellung von grünem Wasserstoff bei wettbewerbsfähigen Preisen zu erreichen. Ebenso werde eine Carbon Management Strategie erarbeitet, die den Rahmen für die Abscheidung, Nutzung und Speicherung von Kohlenstoffdioxid setzt.
„Kreislaufwirtschaft erreichen“ lautet der dritte Transformationsbereich. 2024 solle eine Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie mit verbindlichen Zielen und Maßnahmen bis 2045 verabschiedet werden. Ihr Ziel werde sein, den Primärrohstoff zu senken und weitgehend abgeschlossene Stoffkreisläufe zu ermöglichen. Die Marktbedingungen für Sekundärrohstoffe sollen laut Regierung verbessert werden, um ihren Anteil am Rohstoffeinsatz zu steigern.
Nachhaltiges Bauen und Verkehrswende stärken
„Nachhaltiges Bauen und Verkehrswende stärken“ ist der vierte Transformationsbereich überschrieben. Mit Städtebauprogrammen will die Regierung öffentliche Räume schaffen, die Klimaanpassung und Hitzeschutz in den Blick nehmen. Dazu werde an einer „Strategie Hitzeschutz“ gearbeitet. In Innenstädten werde eine „blau-grüne Infrastruktur“ und über die Stadtgrenzen hinaus eine nachhaltige Landschaftsentwicklung angestrebt.
Mit innovativen Projekten sollen die Kommunen dabei unterstützt werden, die Verknüpfung sozialer und ökologischer Transformation voranzubringen. Mit digitalen Lösungen will die Regierung die Mobilität „smart und vernetzt, effizient und klimafreundlich“ organisieren. Darüber hinaus kündigt sie an, die Transformation in den Antriebstechnologien zu gestalten, den öffentlichen Personennahverkehr zu stärken, das Schienennetz zu sanieren und den Radverkehr zu fördern.
Nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme
Im fünften Transformationsbereich geht es um den „Wandel zu nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen“. Dazu heißt es unter anderem, dass nachhaltige Perspektiven für Entwicklungs- und Schwellenländer gestärkt und resiliente Agrar- und Ernährungssysteme in diesen Ländern gefördert werden sollen. Die Regierung setze sich für ein regelbasiertes und freies Handelssystem ein, etwa dadurch, dass der Konsum von und der Handel mit nachhaltigen Agrarrohstoffen unterstützt wird. Gestärkt werden sollen die soziale Absicherung und die ökonomische Stellung von Frauen in der Landwirtschaft und die Position von Frauen in globalen Lieferketten.
Sechster Transformationsbereich ist dem Bericht zufolge der „Einsatz für eine schadstofffreie Umwelt“. Dabei solle die Tranformation zu sicheren und nachhaltigen Chemikalien, Materialien, Produktionsverfahren und Produkten ebenso gestärkt werden wie die Forschung und der Produktionsstandort Deutschland. International werde die Gründung eines Weltchemikalienrats unterstützt mit dem Ziel, ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte in Einklang zu bringen. (pst/vom/hau/19.01.2024)