Dokumente

Rede von Emmanuel Macron, Staatspräsident der Französischen Republik

anlässlich des Trauerstaatsakts für Wolfgang Schäuble am 22. Januar 2024

[Die Rede wurde auf Deutsch bzw. Französisch gehalten, die in eckigen Klammern geschriebenen Absätze sind Übersetzungen des auf Französisch gesprochenen Textes. Stenografischer Dienst]

 

Liebe Frau Schäuble! Madame!

Sehr geehrter Herr Bundespräsident!

Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin!

Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin!

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!

Sehr geehrte Abgeordnete!

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Deutschland hat einen Staatsmann verloren. Europa hat eine Säule verloren. Frankreich hat einen Freund verloren.

Wenn heute im Bundestag die Stimme eines Franzosen zu hören ist, dann ist das dank der Freundschaft dieses großen Deutschen. Ein halbes Jahrhundert lang konnte man die Stimme dieses Deutschen hier im Bundestag hören, länger als jede andere. Mir wird damit eine große Ehre zuteil. Dieser Wunsch Wolfgang Schäubles, einen Franzosen im Bundestag sprechen zu lassen, sagt viel über sein Vertrauen in unsere beiden Länder. Es sagt aber auch viel über unsere Geschichte und über unsere Zukunft.

Nacheinander hat Europa zwei seiner großen Vordenker verloren, Jacques Delors und Wolfgang Schäuble. Zwei Staatsmänner, die für ihre Länder und für Europa alles gegeben haben. Zwei Staatsmänner, zwei Leben als Bindeglieder, als Vermittler. Auf der einen Seite der Enkel eines Schreiners aus dem Schwarzwald, auf der anderen der Enkel eines Landwirts aus dem Massif Central. Zwei Finanzminister, zwei Gründerväter der europäischen Einigung und der Aussöhnung der Völker. Zwei Männer mit der gleichen intellektuellen Aufrichtigkeit und demselben Verantwortungsbewusstsein. Sie sind im Abstand einer Nacht von uns gegangen, und unser Herz als Europäer trägt nun zweifache Trauer.

Sie, Herr Präsident Steinmeier, waren an meiner Seite im Hof des Invalidendoms, um Jacques Delors zu ehren. Heute stehe ich im Halbrund des Bundestags, um den Lebensweg von Wolfgang Schäuble zu ehren. Wolfgang Schäuble, ein großer Diener Deutschlands, ein großer Europäer und ein großer Freund Frankreichs.

Frankreich war für ihn als Kriegskind zunächst nicht mehr als ein Wort, das für dramatische Ereignisse stand, für Schlachten, Tote und Zerstörungen. Seine Beziehung zu Frankreich durchlief mehrere Etappen. Nur wenige Kilometer von seinem Heimatort, auf der anderen Seite der Grenze, lagen Colmar und Straßburg, so nah und doch so fern. Dann erhielten diese Namen Gesichter. Das freundliche Gesicht eines französischen Offiziers, der im Haus seiner Kindheit in Freiburg untergebracht war, in der französischen Besatzungszone. Die Gesichter treuer Freunde, die er nie vergessen sollte, die Gesichter von Frauen und Männern, mit denen er Werte und Projekte teilte.

Dann erlernte er die französische Sprache; sie öffnete ihm die Türen zur französischen Welt von Literatur, Kultur und Film. Er las Albert Camus ebenso wie Hannah Arendt. Er liebte Catherine Deneuve ebenso wie Karin Dor und Jeanne Moreau ebenso wie Maria Sebaldt.

Später kamen Reisen, die Lichter von Paris, aber auch die endlosen weißen Gräber auf den Militärfriedhöfen der Vogesen. Und darauf folgte ein Satz aus dem Mund von General de Gaulle, der sich 1962 auf Deutsch an die deutsche Jugend von Ludwigsburg wandte, in „seinem“ Land Baden-Württemberg: „Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt Kinder eines großen Volkes. Jawohl! Eines großen Volkes.“ 

Diese Worte prägten ihn. Diese Worte, die Taten waren, weil sie freisprechen und versöhnen, weil sie die Zukunft beider Länder wieder verknüpfen.

Einige Monate später, am 22. Januar 1963, wurde der Élysée-Vertrag unterzeichnet. Dieser Vertrag nahm uns in die Pflicht, die Pflicht zur Aussöhnung. Diese Aufgabe lag in den Händen mehrerer Generationen. Zu ihnen gehören die Gründerväter Europas: Helmut Kohl, Willy Brandt, Jacques Delors, Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer. Wolfgang Schäuble zählte zu dieser Generation der Baumeister.

 

En vous écoutant, Madame la Présidente du Bundestag, Monsieur Friedrich Merz, je voyais se dessiner la fresque, au fond, de votre histoire, de notre histoire collective. Wolfgang Schäuble avait vécu chaque évènement depuis soixante ans, il en était devenu une mémoire vivante, au fil de ses engagements politiques. 

Ses années de député, son engagement majeur à la tête de la CDU, au milieu de cette jeune génération qui souhaitait moderniser le parti aux côtés d’Helmut Kohl, qu’il seconda à un moment crucial de l’histoire du monde. Ses années comme ministre de l’Intérieur, par deux fois, de ministre des Finances, doyen de votre gouvernement, accompagnant votre pays dans les remous du siècle, avec un sens du devoir et une passion constante. Oui, toutes ces décennies traversées. Malgré ce terrible drame qui brisa son corps, sépara sa vie en deux, de part et d’autre de ce terrible 12 octobre 1990 : «  Zwei Leben  ». Deux vies. Mais de ses deux vies, il n’a fait qu’une, par-dessus et par-delà la blessure. 

Et des deux Allemagnes, il a contribué à cette génération qui n’en a fait qu’une. „Der deutsche Einigungsvertrag war der bewegendste Moment meines politischen Lebens“, disait-il. Il le savait, ce processus d’unification allemande ouvrait la porte européenne, l’unité allemande et l’unification européenne étant, selon les mots mêmes d’Helmut Kohl, les deux faces d’une même médaille.

[Übersetzung: Aus Ihren Worten, Frau Bundestagspräsidentin, Herr Friedrich Merz, entsteht vor meinem geistigen Auge im Grunde das Fresko Ihrer Geschichte, unserer kollektiven Geschichte. Wolfgang Schäuble hatte jedes dieser Ereignisse seit 60 Jahren miterlebt und war im Laufe seines politischen Engagements zu einem lebendigen Gedächtnis geworden. 

Seine Jahre als Abgeordneter, sein starkes Engagement an der Spitze der CDU, inmitten dieser jungen Generation, die an der Seite von Helmut Kohl die Partei modernisieren wollte - ihn unterstützte er in einem entscheidenden Moment der Weltgeschichte. Seine Jahre als Innenminister, zweimal, als Finanzminister und Doyen Ihrer Regierung, als er Ihr Land durch die Turbulenzen des Jahrhunderts begleitete: voller Pflichtbewusstsein, voller Überzeugung. All diese Jahrzehnte. Trotz dieses furchtbaren Dramas, das seinen Körper lähmte und sein Leben an diesem schrecklichen 12. Oktober 1990 in ein Vorher und ein Nachher teilte, in „zwei Leben“. Doch es gelang ihm, diese beiden Leben zu verbinden, eines daraus zu machen, über die Verletzung hinaus.

Ebenso gelang es ihm, die beiden Teile Deutschlands zu vereinen. Er gehörte zu dieser Generation, die Deutschland zusammengeführt hat. Der deutsche Einigungsvertrag war, wie er sagte „der bewegendste Moment meines politischen Lebens“. Er wusste: Dieser Prozess der deutschen Wiedervereinigung war der Beginn einer neuen Ära Europas; denn die deutsche Einheit und die europäische Einigung waren - in den Worten von Helmut Kohl - zwei Seiten derselben Medaille.]

Son rôle ensuite, aux côtés d’Angela Merkel, comme gardien des règles financières et budgétaires dans une Europe en crise, ne fut, il faut bien le dire, pas toujours compris dans le reste de l’Europe, parfois même en France. Mais cela n’entama jamais le respect des États membres pour cet esprit libre et indépendant, dont peuvent témoigner ceux qui l’ont côtoyé au sein du Conseil ECOFIN comme de l’Eurogroupe - et nombreux sont présents ici, Français, bien sûr, mais venant de l’Europe tout entière.

Cet engagement européen de Wolfgang Schäuble fut récompensé par le prix Charlemagne en 2012. Il fit siennes les convictions de Robert Schuman, selon lesquelles il fallait préparer les esprits aux solutions européennes en combattant partout les prétentions à l’hégémonie et la supériorité. Il défendait farouchement les intérêts de l’Allemagne, mais il savait qu’en Europe, personne ne peut ni ne doit jamais chercher à être le premier. Son patriotisme ouvert s’accompagnait de la conviction que la réussite de nos pays européens dépend de leur compréhension et de leur coopération.

Et de cela, il montrait l’exemple avec la France, avec qui il entendait développer une relation privilégiée, soudée par l’apprentissage mutuel de nos langues, renforcée par cette Assemblée parlementaire franco-allemande que vous avez évoquée, Madame la Présidente, et qu’il présida ici même, et par la coopération transfrontalière. Il avait compris que, de toutes les frontières du continent, la plus sensible, la plus blessée par l’histoire, la nôtre, pouvait être aussi la plus prometteuse et la plus fertile.

Le traité d’Aix-la-Chapelle, que nous avons signé il y a 5 ans jour pour jour avec la chancelière Angela Merkel, porte notamment cette empreinte.

[Übersetzung: Seine Rolle an der Seite Angela Merkels als Hüter der Finanz- und Haushaltsregeln in einem krisengeschüttelten Europa wurde zugegebenermaßen im restlichen Europa, manchmal selbst in Frankreich, nicht immer verstanden. Davon blieb jedoch der Respekt der Mitgliedstaaten für diesen unabhängigen Freigeist unberührt, wie jene bezeugen können, die ihm beim ECOFIN-Rat und bei der Eurogruppe begegnet sind - viele von ihnen sind heute hier, Franzosen natürlich, aber auch Menschen, die aus ganz Europa gekommen sind.

Dieses Engagement Wolfgang Schäubles für Europa wurden 2012 mit dem Karlspreis ausgezeichnet. Er übernahm von Robert Schuman die Überzeugung, man müsse die Menschen auf europäische Lösungen vorbereiten, indem man den Anspruch auf Hegemonie und Vorherrschaft überall bekämpft. Er vertrat vehement die Interessen Deutschlands. Er wusste aber auch, dass in Europa niemand versuchen kann und darf, der Erste zu sein, niemals. Sein offener Patriotismus ging einher mit der Überzeugung, dass der Erfolg Europas vom Verständnis und der Zusammenarbeit seiner Mitgliedstaaten abhängt.

Bei Frankreich, mit dem er eine besondere Beziehung aufbauen wollte, ging er mit gutem Beispiel voran: zusammengeschweißt durch das gegenseitige Erlernen unserer Sprachen, verstärkt durch die Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung - die von Ihnen, Frau Bundestagspräsidentin, bereits erwähnt wurde und bei der er hier an diesem Ort den Vorsitz führte - und durch die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Er hatte verstanden, dass von allen Grenzen des Kontinents die sensibelste, die historisch am stärksten verletzte, unsere Grenze, auch die vielversprechendste und fruchtbarste sein konnte. 

Der Vertrag von Aachen, den wir vor genau fünf Jahren mit Kanzlerin Angela Merkel unterzeichnet haben, trug auch seine Handschrift.]

 

„Nur wenn Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen, können oft schwierige Fragen gelöst werden“, sagte er.

 

Cette confiance nourrissait cette volonté de «  penser l’Europe  ». En 1994, avec le député Karl Lamers, il avait suggéré d’institutionnaliser le principe d’une Europe avec davantage de fédéralisme et de forces motrices, en proposant la constitution d’un «  noyau dur  » européen fondé sur la monnaie unique, pour que les États volontaires puissent aller de l’avant dans leur intégration tout en permettant aux États membres intéressés de les rejoindre plus tard. 

Près de trente ans après, malgré des silences qui, je dois bien l’avouer, de là où je suis, furent considérés comme un peu longs, l’euro et Schengen ont fait la démonstration que cette méthode pouvait réussir, qu’une avant-garde de pays volontaires pouvait ouvrir la voie de l’approfondissement en restant ouverte à tous ceux qui étaient prêts à y participer. C’était cela, Wolfgang Schäuble : une vision, ancrée dans le pragmatisme. 

À sa suite, il nous faut continuer de «  penser l’Europe  », dans un environnement de sécurité profondément bouleversé par l’agression russe en Ukraine, et dont nous devons tirer les conséquences : ce «  Zeitenwende  », Wolfgang Schäuble le soutenait, engagé en faveur de l’Ukraine dès le jour de son agression par la Russie, et favorable à une adhésion de l’Ukraine à l’Union européenne comme à l’OTAN.

[Übersetzung: Dieses Vertrauen nährte seinen Willen, „Europa zu denken“. 1994 schlug er zusammen mit dem Abgeordneten Karl Lamers vor, das Prinzip eines Europas zu institutionalisieren, in dem Föderalismus und treibende Kräfte eine größere Rolle spielen. Der Vorschlag enthielt einen „harten Kern“ europäischer Staaten mit einer gemeinsamen Währung und sollte willigen Ländern die Möglichkeit geben, ihre Integration voranzutreiben - und überließ es interessierten Mitgliedstaaten, ob sie sich später anschließen wollten. 

Knapp dreißig Jahre später, auch wenn es zugegebenermaßen manchmal etwas lange gedauert hat, haben der Euro und Schengen bewiesen, dass diese Methode erfolgreich war, dass eine Avantgarde williger Länder den Weg bahnen kann und gleichzeitig für all jene offen bleiben kann, die später zu einer Teilnahme bereit sind. Das war Wolfgang Schäuble: eine Vision, fest verankert im Pragmatismus. 

Nach ihm müssen wir weiter „Europa denken“, in einem sicherheitspolitischen Umfeld, das durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine tief erschüttert ist und aus dem wir die Konsequenzen ziehen müssen: Diese „Zeitenwende“ hat Wolfgang Schäuble unterstützt, er setzte sich ab dem ersten Tag des russischen Angriffs für die Ukraine ein und war für einen Beitritt der Ukraine zur EU und zur NATO.]

 

Der Krieg vor unseren Toren, sagte er, zwingt Europa, erneut zusammenzukommen. Er fügte hinzu: „Bestimmte Werte - Frieden, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand - können wir nur gemeinsam erhalten, besser als jeder von uns allein.“

Der Lebensweg dieses großen Deutschen, dieses großen Europäers zeigt uns, dass er die Veränderungen seines Landes und die Umsetzung des europäischen Projekts seit jeher als ein Ganzes verstand. Diese untrennbare Verbindung zwischen Deutschland und Frankreich ist die Formel, die Gleichung, durch die unsere beiden Länder nach dem Zweiten Weltkrieg aufblühen konnten. Die deutsch-französische Freundschaft ist die Hüterin dieser Formel als fundamentales Bindeglied Europas. Davon war Wolfgang Schäuble fest überzeugt, ebenso wie Jacques Delors, François Mitterrand, Helmut Kohl und ihre Nachfolger beiderseits des Rheins. 

Das Leben von Wolfgang Schäuble war geprägt durch ein Davor und ein Danach: davor der Weltkrieg, danach die Aussöhnung; das Leben vor dem Anschlag auf ihn und das Leben danach; das geteilte Deutschland davor und das wiedervereinte Deutschland danach; Europa vor dem Angriff auf die Ukraine und danach.

Nun beginnt ein neues Danach für uns, ein Danach ohne Wolfgang Schäuble. Nehmen wir dieses Erbe an, und seien wir auf der Höhe dieser Aufgabe.

Es lebe Europa! Vive l’Europe! Es lebe Deutschland! Vive l’Allemagne! Es lebe die deutsch-französische Freundschaft! Vive l’amitié entre la France et l’Allemagne!

(Langanhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)

Marginalspalte