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Rede von Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion

anlässlich des Trauerstaatsakts für Wolfgang Schäuble am 22. Januar 2024

[Stenografischer Dienst] 

 

Sehr geehrter Herr Bundespräsident! 

Monsieur le Président de la République Française! 

Frau Bundestagspräsidentin! 

Frau Präsidentin des Bundesrates! 

Herr Bundeskanzler! 

Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes! 

Liebe Ingeborg Schäuble! 

Liebe Familie Schäuble! 

Exzellenzen! 

Liebe Kolleginnen und Kollegen! 

Meine Damen und Herren! 

Am späten Nachmittag des 4. Juli 1954 sitzen in der kleinen Stadt Hornberg im Schwarzwald drei Brüder im Alter von 16, 11 und 6 Jahren mit ihren Eltern vor einem Radio und verfolgen das Endspiel Deutschland gegen Ungarn der ersten Fußballweltmeisterschaft nach dem Zweiten Weltkrieg.

Beim Stand von 0 : 2 für Ungarn bekommt der mittlere, so berichtet er es später, von seinem Vater mit den Worten „Da hast du es!“ eine kleine Ohrfeige, weil er, Wolfgang, von Anfang an gesagt hatte: „Wir gewinnen!“ Als ob er schuld sei an dem Rückstand! „Und wir gewinnen doch!“, war seine Antwort mit Tränen in den Augen.

Wir alle wissen, wie die Sache ausging: Deutschland hat das Endspiel mit 3 : 2 gewonnen; das „Wunder von Bern“ war geboren - und der elfjährige Wolfgang Schäuble hatte recht behalten. 

Vor vier Wochen, am Abend des zweiten Weihnachtstages, ist der fußballbegeisterte Junge von damals im Alter von 81 Jahren gestorben.

Was sagt uns diese kleine Familiengeschichte aus den Anfängen unserer Republik noch heute? Nun, zum einen: Da war schon mit elf Jahren jemand, der nicht aufgibt, auch nicht bei einem Rückstand. Und: Da war jemand richtig sport- und fußballbegeistert.

Nicht aufgeben und die Begeisterung für den Sport - diese beiden Charaktermerkmale sind auch die nachfolgenden sieben Jahrzehnte prägende Eigenschaften von Wolfgang Schäuble geblieben.

„Prominente Vorbilder hatte ich in meinem Leben keine“, schreibt er in seinen Erinnerungen, die er noch in der Woche vor Weihnachten fertiggestellt hat, „… aber wenn es ein Idol meiner Jugend gab, dann war es Fritz Walter, der Kapitän der Weltmeisterschaft. … Ehrgeiz, Leistungsbereitschaft, der Wille zum Erfolg, aber auch Bodenständigkeit, Heimatverbundenheit, Bescheidenheit - und vor allem Anstand: Das alles verbinde ich mit Fritz Walter. Es sind prägende Werte, die mir auch meine Eltern vorlebten“, so schreibt er es.

1974 wird Deutschland zum zweiten Mal Fußballweltmeister. Und dieses Bild geht um die Welt: Franz Beckenbauer als der Kapitän der deutschen Mannschaft hält den schweren Goldpokal in die Höhe, und direkt hinter ihm stehen Wolfgang Schäuble und seine Frau Ingeborg zusammen mit Fritz Walter. 

Zwei Jahre zuvor war Wolfgang Schäuble erstmalig Mitglied des Deutschen Bundestages geworden, und er wurde von seiner Fraktion zunächst in den Sportausschuss des Deutschen Bundestages entsandt. Beim Endspiel in München 1974 war er sportpolitischer Sprecher unserer Fraktion. 

Welche kleine Ironie der Geschichte, dass wir nun zu Beginn des Jahres 2024 innerhalb weniger Tage Abschied nehmen von beiden - von Wolfgang Schäuble und von Franz Beckenbauer. Mit beiden geht ein Stück Geschichte unseres Landes; aber es bleiben eben diese Bilder, die auch uns prägen und dankbar erinnern. 

Die Wahlperiode von 1972 war eine Wahlperiode härtester politischer Auseinandersetzungen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stand die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition, das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt, 1974 der Kanzlerwechsel hin zu Helmut Schmidt. 

Der Wechsel wird zum Begleiter von Wolfgang Schäuble - Kanzlerwechsel und Regierungswechsel. Kein Abgeordneter des Deutschen Bundestages hat davon mehr erlebt als Wolfgang Schäuble: erst Abgeordneter in der Opposition, dann in der Regierung, wieder in der Opposition, erneut Regierung und zum Schluss noch einmal Opposition.

Über allem steht die protestantische Pflichterfüllung. Eine Pflichterfüllung gepaart mit Neugier und Zugewandtheit zu den Menschen. Mit Freude an der politischen Arbeit, mit Rede und Gegenrede, mit Höhen und Tiefen.

Wolfgang Schäuble war - wir haben es in den letzten Tagen oft nachlesen können und voller Respekt auch sagen hören - über 50 Jahre Mitglied des Deutschen Bundestages, fast zwei Jahrzehnte Bundesminister, zehn Jahre Vorsitzender unserer Bundestagsfraktion, zum Schluss Präsident des Deutschen Bundestages. 

Was bleibt von Wolfgang Schäuble jenseits dieser Jahreszahlen?

Da ist zunächst und vor allem der Parlamentarier, der seinen Wahlkreis Offenburg 14 Wahlperioden im Deutschen Bundestag vertreten hat. Wie tief seine Verwurzelung in seiner badischen Heimat war, das konnten viele von uns zuletzt und sehr eindrucksvoll am Tag seiner Beisetzung in Offenburg erleben: Eine ganze Stadt, eine große Region nimmt voller Dankbarkeit Abschied und begleitet ihn auf seinem letzten Weg von der Kirche zum Friedhof. 

Dieses Mandat im Deutschen Bundestag war der innere Kern seiner politischen Arbeit, „Heimat“ war für ihn der Bezugs- und Mittelpunkt, so wie seine Familie im Persönlichen.

Und dann gibt es so etwas wie einen Dreiklang seines größeren politischen Vermächtnisses: Dieser Dreiklang lautet: deutsche Einheit - Berlin - Europa. Und alle drei Teile gehören eng zusammen. 

Der Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands trägt die Handschrift von Wolfgang Schäuble. Zusammen mit seinem Verhandlungspartner Günther Krause gelang es ihm, innerhalb von nur wenigen Monaten nach dem Fall der Mauer einen unterschriftsreifen völkerrechtlichen Vertrag über den Beitritt der damaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland zu verhandeln und in beiden Parlamenten, dem Deutschen Bundestag und der frei gewählten Volkskammer der DDR, zur Zustimmung zu bringen. 

Vergessen wir auch heute nicht, dass dieser Vertrag nur möglich wurde, weil Deutschland in dieser Zeit des Umbruchs in Europa und darüber hinaus hohes Vertrauen bei zahlreichen Staats- und Regierungschefs und in sehr vielen Ländern genoss, nicht überall gleich ausgeprägt, aber immerhin ausreichend genug, um vor dem Einigungsvertrag noch den Zwei-plus-Vier-Vertrag mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges abzuschließen, ein Vertrag, der Deutschland erst die volle Souveränität zurückgab, den Einigungsvertrag dann auch abzuschließen. 

Ich habe diese spannende historische Zeit unseres Landes miterlebt als Abgeordneter im Europäischen Parlament. Unsere europäischen Partner schauten damals mit einer besonderen Sensibilität und häufig mit Skepsis auf die politischen Entwicklungen in Deutschland. Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble, ebenso wie Theo Waigel und Hans-Dietrich Genscher, im Verlaufe des Prozesses auch Willy Brandt waren die Repräsentanten unseres Landes, die in Europa, in den USA und in der damals noch bestehenden Sowjetunion ein so hohes Maß an Vertrauen genossen, dass der Einigungsvertrag möglich wurde.

Und darauf wurde Wolfgang Schäuble nie müde hinzuweisen: Deutschland hat Verantwortung in und für Europa; aber Deutschland braucht auch Vertrauen in Europa. Und dieses Vertrauen muss sich Deutschland immer wieder und beständig erarbeiten, verbunden mit der Bereitschaft, Führungsverantwortung zu übernehmen. 

Die Tatsache, dass der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki im letzten Jahr hier in Berlin die Festrede für Wolfgang Schäuble im Jüdischen Museum aus Anlass seines 50. Bundestagsjubiläums gehalten hat, war Ausdruck eines solchen Vertrauens. 

Die Tatsache, dass Sie, sehr geehrter Herr Staatspräsident Emmanuel Macron, heute hier bei uns sind und beim Trauerstaatsakt für Wolfgang Schäuble sprechen, ist ebenfalls Ausdruck eines solchen Vertrauens und ehrt uns alle. 

Wolfgang Schäuble hat als Bundesinnenminister und als Bundesfinanzminister an so gut wie allen europäischen Räten, dem Rat für Justiz und Inneres und dem Rat für Wirtschaft und Finanzen, persönlich teilgenommen. Nur so konnte er ein breites Netzwerk aufbauen bis hin zu Freundschaften mit vielen seiner Kolleginnen und Kollegen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Die vielen Schreiben und Zeichen der Verbundenheit, die die Familie Schäuble, die aber auch wir, seine politischen Freunde, in den letzten Wochen aus Deutschland, aus vielen Ländern Europas, ja aus der ganzen Welt erhalten haben, sind Zeichen einer tiefen Zugewandtheit und eines großen Respektes. 

Wolfgang Schäuble hat immer gewusst, wie wichtig diese persönlichen Begegnungen in der Politik sind, vor allem in der europäischen Politik. Er konnte in der Sache sehr hart sein, und das hat ihm - zum Beispiel in der Finanzkrise - nicht nur neue Freunde eingetragen. Aber sein Umgang war immer fair, er war immer bereit, seinem Gegenüber respektvoll zuzuhören, und war immer bereit, im Interesse Europas Kompromisse zu machen. 

Die Zusammenarbeit mit Frankreich war für Wolfgang Schäuble besonders wichtig. Diese Einschätzung war ihm nicht nur durch seine Herkunft in die Wiege gelegt. Er wusste um die historische Bedeutung und um unsere besondere Verantwortung zusammen mit Frankreich. Deshalb ist es - Frau Bundestagspräsidentin, Sie haben es bereits gesagt - ein so schönes Zeichen, dass wir heute, am 22. Januar, zusammentreffen, dem Tag, an dem vor genau 61 Jahren der Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit, den wir seitdem auch den „deutsch-französischen Freundschaftsvertrag“ nennen, in Paris verabschiedet wurde. 

Wolfgang Schäuble war ein begnadeter Redner, ein leidenschaftlicher Parlamentarier. Wir haben es schon einige Male gesagt, und an einem solchen Tag wie heute verdient es, wiederholt zu werden: Wir wären heute ohne Wolfgang Schäuble vermutlich nicht in dieser Stadt und nicht in diesem Haus. 

Mit Berlin hat Wolfgang Schäuble aber immer mehr verbunden als lediglich einen Standort von Parlament und Regierung. Er hat Berlin auch nicht nur als unsere Hauptstadt im formalen Sinne gesehen. Berlin war für ihn vor allem - und so hat er es in der schon genannten Rede in der Bonn-Berlin-Debatte zum Ausdruck gebracht - „das Symbol für Einheit und Freiheit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit für das ganze Deutschland“. 

Ich selbst habe Wolfgang Schäuble persönlich erst seit 1994 näher kennengelernt, mit meinem Wechsel in den Deutschen Bundestag. Da hatte sein „zweites politisches Leben“ nach dem Attentat schon begonnen. Er war mein erster Fraktionsvorsitzender, und ich habe sehr viel von ihm gelernt, politisch, aber auch im Umgang mit einer Fraktion selbstbewusster Abgeordneter. Über die letzten 30 Jahre ist zwischen Wolfgang Schäuble und mir eine tiefe und vertrauensvolle Freundschaft entstanden. 

Wir haben nur ein einziges Mal richtig Streit miteinander gehabt, und das war - ich werde den Tag nicht vergessen - am 12. Mai 2012. An diesem Tag gewann meine Mannschaft - Borussia Dortmund - gegen seine Mannschaft - Bayern München - mit 5 : 2 den DFB-Pokal. Ich saß vor einem laut schimpfenden Wolfgang Schäuble, der in diesem Augenblick, auf mich schauend, vermutlich auch an die Ohrfeige seines Vaters vor knapp 60 Jahren gedacht haben mag. Wir haben über dieses Spiel nie wieder gesprochen!

Den Vorsitz unserer Fraktion hat Wolfgang Schäuble immer als die schönste und zugleich anspruchsvollste Aufgabe angesehen, die er hatte.

Und trotzdem folgte auf diese Zeit - mit einiger Verzögerung - noch einmal eine lange Zeit in der Regierung: zum zweiten Mal Bundesinnenminister, dann mehr als sieben Jahre Bundesfinanzminister.

In beiden Ämtern hat Wolfgang Schäuble tiefe Spuren hinterlassen. Es sei nur die Islamkonferenz genannt und sein umsichtiger Umgang mit den Themen Einwanderung und Integration, aber auch die Bewältigung der Eurokrise vor zehn Jahren und erstmalig seit Jahrzehnten über mehrere Jahre ein ausgeglichener Bundeshaushalt.

„Politik hat einen Führungsauftrag“, so schreibt er in seinen Erinnerungen, „und muss Vorstellungen von der Zukunft entwickeln und für sie eintreten, im Zweifel erst einmal gegen die Mehrheit, aber die kann man gewinnen.“

Alle diese Erfahrungen, dieses Wissen und die ihm immer erhalten gebliebene uneitle Bescheidenheit ließen ihn zu einem herausragenden Präsidenten unseres Parlaments werden. Lassen Sie mich abschließend aus seiner Antrittsrede zitieren, die er nach seiner Wahl zu unserem Präsidenten am 24. Oktober 2017 hier im Haus gehalten hat: „Wir müssen das Vertrauen in das repräsentative Prinzip wieder stärken.“ Und er fügte hinzu: „Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit: Ohne Parlamentarismus geht all das nicht.“

„Ohne Parlamentarismus geht all das nicht.“ Dieser Satz steht über dem politischen Lebensweg von Wolfgang Schäuble. Dieser Satz ist sein eigentliches politisches Vermächtnis.

Und so nehmen wir heute hier in Berlin endgültig Abschied von Wolfgang Schäuble. Wir teilen unsere Trauer mit seiner Familie, seinen Freunden, seinen Weggefährten. Wir sind und bleiben ihm zu großem Dank verpflichtet. Wir verneigen uns vor einem wahren Staatsmann unseres Landes, vor einem europäischen Staatsmann, vor einem streitbaren Demokraten, vor einer prägenden Persönlichkeit der jüngeren Geschichte unseres Landes. 

Danke, Wolfgang Schäuble.

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