1. Untersuchungsausschuss

Zeuge: Deutschland hatte guten Willen, aber kein Einfluss

Luftaufnahme eines Flughafens mit drei grauen Flugzeugen und Gebäuden

Militärmaschinen stehen Ende August 2021 auf dem Hamid Karzai International Airport. (picture alliance / Associated Press | Uncredited)

Im 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat am Donnerstag, 1. Februar 2024, die ehemalige stellvertretende Flüchtlingsministerin Afghanistans, Alema Alema, von einem „Politikversagen aller Beteiligten“ während der 20-jährigen internationalen Präsenz im Land gesprochen. Die Politikerin kritisierte vor allem die Haltung der westlichen Staaten in der Zeit vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung. Sie hätten nach der Unterzeichnung des Doha-Abkommens zwischen den USA und den Taliban, das den Abzug der US-amerikanischen Truppen aus Afghanistan regelte, behauptet, die Taliban hätten sich geändert und keinen Druck auf sie geübt. Sie selbst habe gedacht, dass es am Ende eine Interimsregierung mit Beteiligung beider Seiten und eine neue Verfassung geben würde. 

„Menschen warten weiterhin auf eine Evakuierung“

Alema erklärte, sie sei Mitglied eines Teams zur Vorbereitung der Afghanistan-Friedenskonferenz in Istanbul gewesen, die dann aber nie stattfand. Die Taliban seien unwillig gewesen teilzunehmen, weil sie gewusst hätten, dass sie dort ihre Positionen hätten aufgeben müssen. Die afghanische Regierung habe bis zum letzten Tag nicht gedacht, dass die Taliban in die Hauptstadt Kabul einmarschieren würden. Die Mitglieder hätten auch nicht das Land verlassen wollen, weil ihnen zugesichert worden sei, dass Kabul nicht fallen würde. Am Ende sei sie aber eine der ersten sieben Personen gewesen, die mit einer Maschine aus Deutschland ausgeflogen wurde.

Alema betonte, dass viele bedrohte Menschen in Afghanistan weiterhin auf eine Evakuierung warteten. Sie rief die Bundesregierung dazu auf, ihre Versprechen einzuhalten und wies vor allem auf die schwierige Situation von ehemaligen Soldaten der afghanischen Armee hin. Viele von ihnen würden sterben, weil niemand ihnen helfe. Gefragt nach den Abschiebungen aus Deutschland nach Afghanistan berichtete die ehemalige Vize-Flüchtlingsministerin, es habe mit der EU ein Memorandum of Understanding (MoU), also eine Absichtserklärung, gegeben, Rückführungen von Afghanen zu akzeptieren. Deutschland habe jedoch auf ein separates MoU bestanden, weil Kabul mehr als 50 Personen bei einem Flug prinzipiell nicht zugestimmt habe und die europäischen Staaten um Plätze in den Maschinen verhandeln mussten. Bei den Rückführungen habe es viele strittige Fälle gegeben, aber die europäischen Vertreter hätten großen Druck ausgeübt, sagte Alema.

Politische Gründe für das Scheitern der Republik

Der ehemalige afghanische Außenminister Mohammed Haneef Atmar lobte im Anschluss zunächst den Einsatz deutscher Soldaten, Polizisten und Entwicklungshelfer in Afghanistan. In den 20 Jahren des internationalen Engagements habe Afghanistan enorme Fortschritte gemacht bei der Staatsbildung, Menschenrechten und gesellschaftlicher Entwicklung. Dass die Republik dennoch gescheitert sei, habe jedoch politische Gründe, urteilte Atmar. Die afghanischen Politiker seien uneins gewesen, manche auch korrupt, und die USA hätten mit einem einseitigen Beschluss ihr militärisches Engagement beendet. Außerdem habe sich der damalige afghanische Staatspräsident Aschraf Ghani bei allen unbeliebt gemacht. Es habe nur widersprüchliche Signale gegeben, die die Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte unterminiert hätten.

Atmar sagte, das Doha-Abkommen sei das schlechteste Abkommen, das er in seinem Leben je gesehen habe. Die USA seien entschieden gewesen, ihre Truppen zurückzuziehen. Die afghanische Regierung habe die internationale Gemeinschaft daraufhin gebeten, den Taliban öffentlich zu signalisieren, dass es keinen Übergang geben werde, ohne dass sie die an sie gestellten Bedingungen des Doha-Abkommens erfüllten. Er selbst habe in stundenlangen Gesprächen mit einem deutschen Diplomaten versucht zu erklären, dass sich der Prozess in eine falsche Richtung entwickle und die Europäer ihre Stimme erheben müssten. In diesen Gesprächen habe er verstanden, dass es keinen starken Willen in der Nato gegeben habe, diesen Prozess zu stoppen.

Problem der Korruption

Deutschland habe in dieser Zeit guten Willen gezeigt, aber keinen Einfluss gehabt, konstatierte Atmar. In einem Gespräch mit Ghani habe die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) betont, dass sie die Entwicklung nicht gut fände und sich dagegen einsetzen werde. Sie sei aber die einzige Regierungschefin auf der Welt gewesen, die sich so geäußert habe. Am Ende habe die Glaubwürdigkeit des Westens Schaden genommen. Der frühere Außenminister räumte aber auch ein, dass die afghanische Politik bei der Bekämpfung der Korruption erfolglos geblieben sei. Die internationale Gemeinschaft habe die korrupten Politiker aus pragmatischen Gründen geduldet. Daraus sollte man für die Zukunft lernen, empfahl er.

Bis kurz vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung habe niemand irgendeinen Plan für eine friedliche Transition gehabt, führte der Zeuge weiter aus. Am 14. August 2021 habe er einem Telefongespräch zwischen Ghani und dem US-Außenminister Antony Blinken beigewohnt, in dem Ghani zum ersten Mal gesagt habe, dass er die Macht an die Taliban abgeben wolle. Das sei für alle, auch für Blinken, ein Schock gewesen. Er habe dann am nächsten Tag die Flucht Ghanis aus Afghanistan mitverfolgt. „Inzwischen weiß ich, dass er seine Ausreise bereits früher geplant hatte.“

Die Evakuierung der ausländischen Botschaften in Kabul sei ein monatelanger Prozess gewesen, berichtete Atmar weiter. Die Nachricht, dass es in Afghanistan bald keine US-Soldaten mehr geben werde, habe den Prozess jedoch beschleunigt und zum Chaos geführt. Am Ende seiner Aussage bat er die Abgeordneten, ihre Aufmerksamkeit auch auf die Zukunft zu richten. Das Doha-Abkommen beinhalte vier Elemente, die am Ende zu einer neuen, verhandelten islamischen Regierung führen sollen. Dieses Ziel sei noch erreichbar, betonte Atmar.

„Kommen Sie jetzt oder nie!“ 

Die Mitglieder des 1. Untersuchungsausschusses Afghanistan haben zudem einen Bundespolizisten befragt, der zum Zeitpunkt der Evakuierung im Sommer 2021 als Sicherheitsberater an der deutschen Botschaft in der afghanischen Hauptstadt Kabul tätig war. Er erzählte aus seiner Sicht, wie sich die Sicherheitslage in Kabul rund um das Botschaftsgelände vor dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung entwickelt hat und wie die Evakuierung des Botschaftspersonals ablief. 

Der Ausschuss untersucht die Ereignisse nach dem Abschluss des Doha-Abkommens, in dem die USA und die Taliban den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan geregelt haben, sowie die chaotische Evakuierung aus dem Kabuler Flughafen Mitte August 2021.

Der Zeuge, ein erfahrenes Mitglied der Spezialeinheit GSG-9 der Bundespolizei, berichtete von einer sich rapide verschlechternden Sicherheitslage vor Ort. Nach dem Doha-Abkommen hätten die Taliban die internationalen Truppen zwar nicht mehr angegriffen, dafür sei die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) wieder erstarkt. Auch sei die Kampfmoral der afghanischen Sicherheitskräfte sehr schlecht gewesen. Städte seien kampflos übergeben worden. 

Sicherheitskonzept: Aufrechterhaltung der Green Zone 

Der Zeuge, der schon zuvor mehrfach in Afghanistan und dem Irak im Einsatz gewesen war, sagte, es sei unter diesen Umständen klar gewesen, dass die Botschaft bald evakuiert werden müsse. Dass viele von der Entwicklung überrascht gewesen seien, könne er nicht nachvollziehen, sagte der Polizist. Denn um Kabul sei es immer enger geworden. Das Sicherheitskonzept der Botschaft habe sich auf die Aufrechterhaltung der sogenannten Green Zone gestützt, für die die US-Amerikaner verantwortlich waren. Fahrzeuge und Personen seien hier kontrolliert worden. Die deutsche Botschaft habe am Rande dieser Zone gelegen. Mit den Nachbarbotschaften, wie der britischen oder der japanischen, hätten die Deutschen gemeinsame Sicherheitskonzepte entwickelt.

Am Freitag hätten sie erfahren, dass die US-Botschaft innerhalb 48 Stunden geschlossen werden solle. Dafür habe es auch starke Indizien gegeben, meinte der Zeuge. Denn es seien viertelstündlich Chinook-Transporthubschrauber Richtung Flughafen geflogen. Auch andere Botschaften, mit deren Sicherheitsberatern er in engem Kontakt gestanden habe, hätten darauf hingewiesen. 

Krisenstabssitzung in Berlin 

Die Bundesregierung in Berlin habe die Lage jedoch anders eingeschätzt. Der Afghanistan-Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Markus Potzel, habe ihm in einer E-Mail die Lage so beschrieben, „dass die Taliban uns nicht feindlich gesinnt“ seien. Potzel habe eher befürchtet, dass eine Gefahr von organisierter Kriminalität ausgehen könne und deshalb ein Team des Kommando Spezialkräfte (KSK) in Aussicht gestellt, jedoch darauf bestanden, dass die Botschaft funktionsfähig bleiben müsse.

Es habe dann auch eine Krisenstabssitzung gegeben. Seinem Eindruck nach habe dort zunächst seine Lagebeurteilung Oberhand gewonnen, weil über Evakuierungsmaßnahmen gesprochen worden sei. Nach einer Rede der stellvertretenden Präsidentin des Bundesnachrichtendienstes habe sich das aber geändert. Es sei entschieden worden, in der Botschaft zu bleiben. Der Gesandte Jan van Thiel habe noch einmal das Wort ergreifen wollen, seine Wortmeldung sei aber nicht mehr zugelassen worden.

Er habe seinen Vorgesetzten bei der Bundespolizei in Berlin daraufhin darüber informiert, dass die Nachbarn abzögen und eine Entscheidung getroffen werden müsse. Dieser habe ihm den Rücken gestärkt und gesagt, wenn er den Eindruck habe, eine Evakuierung sei notwendig, das Auswärtige Amt (AA) dem aber nicht zustimme, solle er die Entsandten in Schutzgewahrsam nehmen und evakuieren. „Das wäre ein sehr ungewöhnlicher Vorgang gewesen“, unterstrich der Polizeibeamte, fügte aber hinzu, dass es dazu nicht kam, weil das ganze Team seiner Meinung gewesen sei.

Zuspitzung der Lage

Am Sonntag sei die Lage noch dynamischer geworden. Die Amerikaner hätten ihn kontaktiert und gefragt, ob die Deutschen noch Unterstützung bräuchten. Als er das bejahte, habe sein Kollege ihm gesagt: „Come now or never!“ („Kommen Sie jetzt oder nie!“). Daraufhin habe er die Belegschaft dazu aufgefordert, unverzüglich mit ihrem Notgepäck bereitzustehen. Nachdem sie mit US-Hubschraubern zum Flughafen gebracht worden seien, sei ein Teil des Teams ausgeflogen worden. Der andere Teil, darunter auch er, sei zurückgeblieben. Seine Aufgabe sei gewesen, zurückgebliebene Entsandte zu schützen und deutsche Staatsbürger auf das Flughafengelände zu holen.

Es sei eine sehr schwierige Phase gewesen, betonte der Zeuge, weil der Zulauf Richtung Flughafen nicht mehr zu kontrollieren gewesen sei. Im Flughafen selbst habe sich jedoch die Lage zunehmend verbessert. Bisher sei er in keiner Nachbearbeitungsrunde dabei gewesen, gab der Polizist zu Protokoll. Er sei aber der Meinung, dass die Krisenvorsorge verbessert werden müsse - vor allem die taktisch-operative vor Ort und strategisch-politische in Berlin stimmten nicht überein. Seiner Meinung nach müsse es ein zentrales Organ geben, um diese Diskrepanz zu überwinden.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der zwölfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/02.02.2024)

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