Gesundheit

Experten berichten über Folgen weiblicher Genitalverstümmelung

Es handelt sich um eine schwere Form von geschlechtsbasierter Gewalt und stellt eine Verletzung gleich mehrerer Menschenrechte dar: weibliche Genitalverstümmelung. Wie sich die Situation der etwa 200 Millionen Betroffenen weltweit und in Deutschland verbessern lässt, darüber tauschten sich Expertinnen und Experten im öffentlichen Fachgespräch des Unterausschusses Globale Gesundheit am Montag, 29. Januar 2024, aus.

„Mit keiner anderen Migrantengruppe vergleichbar“

Mit keiner anderen Migrantengruppe vergleichbar seien Frauen und Mädchen, die wegen Genitalverstümmelung flüchteten, sagte der Gynäkologe Dr. Christoph Zerm vom Netzwerk gegen weibliche Genitalverstümmelung (INTEGRA). Diese hätten meist keine Vorstellung von Europa, wollten einfach nur weg und stünden vor der schrecklichen Alternative: Flucht oder Tod. Er habe bis jetzt 670 Fälle weiblicher Verstümmelung in seiner Praxis untersucht. Diese Frauen hätten eine jahrelange Flucht hinter sich. Die Gesetze in Deutschland und Europa böten ihnen eigentlich guten Schutz. 

Aber die Anhörungssituation sei für die Betroffenen bedrückend und erniedrigend. In ihrem Herkunftsland hätten diese meist schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht. Nun müssten sie das Schlimmste, was ihren widerfahren sei, möglichst anschaulich und glaubhaft schildern. „Das ist völlig unmöglich.“ Erscheine aber dem Fallmanager im Asylverfahren etwas nicht plausibel, drohe die Abschiebung. „Es wird zu stark aus europäischer Perspektive geurteilt. Es gibt viel zu viele Abschiebungsbescheide.“ - Neue, unbekannte Strukturen, Abschiebeängste, und: „80 Prozent der Haus- und Fachärzte können es nicht zweifelsfrei erkennen“, so Zerm. 

Zerm: Müssen alternative Auffangnetze aufspannen 

Hierzulande müsse das Thema bekannter werden, die Gesellschaft müsse ihre Einstellung ändern, ihren latenten Rassismus überwinden. Die besondere Schutzwürdigkeit dieser Frauen habe jüngst ein Urteil des EUGH unterstrichen. Den Rechtsweg zu beschreiten, gegen die eigene Familie auszusagen, sei für die Frauen trotz des erlittenen Leids, aber kaum möglich. „Sie würden dann sämtliche Brücken abbrechen“, zu der sozialen Struktur, auf die sich ansonsten ein Leben lang verlassen könnten. Er wisse noch von keinem abgeschlossenen Strafverfahren, so Zerm. Als aufnehmende Gesellschaft sei es an Deutschland, alternative, vertrauenswürdige Auffangnetze für diese Frauen aufzuspannen, ja, „dieses Leben gemeinsam zu führen. Damit diese den Mut sammeln, gerichtsfeste Aussagen zu treffen. Wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, damit Paragraph 226 StGB (Schwere Körperverletzung) in solchen Fällen seine Wirkung entfalten kann. Wir brauchen viel mehr Kontakt zu den Communities.“ 

Neben der rechtlichen Aufarbeitung und der Präventionsarbeit gelte es für die Ärzteschaft, dass sich mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen der Gynäkologie das nötige Fachwissen aneignen und die Forschung in diesem Bereich voranbringen. In der wissenschaftlichen Fachgemeinschaft Frauengesundheit in der Entwicklungszusammenarbeit (AG FIDE e.V.) entwickle man entsprechende Weiterbildungsmodule: Nachhilfe in der Diagnosestellung biete man ebenso wie das Wissen, die Frauen kultursensibel anzusprechen. Momentan habe lediglich ein einziges Hospital in Deutschland vorzeigbare Kompetenzen in dem Bereich aufgebaut. Es gehe um eine echte Rekonstruktion der zerstörten Organe.

GIZ-Projekt in Afrika: Tradierte Normen hinterfragen

Auf Prävention setze das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauftragte und von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) durchgeführte regionale Projekt zur „Überwindung weiblicher Genitalverstümmelung“, erläuterte Dr. Hanna Lena Reich von der GIZ. In Äthiopien, Somalia und Sudan, wo ein Großteil der Frauen und Mädchen von Praktiken der Genitalverstümmelung („Female Genital Mutilation“, FGM) betroffen sei, beginne man gerade, abgestimmt mit internationalen und lokalen Partnern, die zweite Projektphase.

Um einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel anzustoßen, sensibilisiere man die Menschen für das Thema und hinterfrage tradierte Normen und Geschlechtervorstellungen. Mittlerweile zeichne sich ein langsamer gesellschaftlicher Wandel ab. Reich erinnerte daran, dass FGM eine schwere Form geschlechtsbasierter Gewalt sowie eine Verletzung mehrerer Menschenrechte darstelle, die bei den betroffenen Frauen und Mädchen, Müttern und Töchtern, erhebliche, lebenslängliche und teils lebensgefährliche, gesundheitliche und psychische Probleme verursache.

Kulturell und religiös begründete, idealisierte Praktik

Die kulturell und religiös begründete und idealisierte, tief in den Gesellschaften Äthiopiens, Somalias oder Sudans verwurzelte Praktik werde meist von traditionellen Geburtshelferinnen und Geburtshelfern durchgeführt. Weltweit seien etwa 200 Millionen Mädchen und Frauen betroffen, jährlich kämen etwa vier Millionen Mädchen hinzu. Das Horn von Afrika gehöre zu den am stärksten betroffenen Regionen. So würden in Somalia 98 Prozent der Mädchen der Prozedur unterzogen.

Die Bemühungen gegen weibliche Genitalverstümmelung im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit müssten intensiviert werden. Dazu gelte es sowohl die zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort zu stärken als auch den  Gesundheitssektor einzubinden. Neben der Präventionsarbeit dürfe man die Versorgung bereits betroffener Mädchen und Frauen nicht vergessen. Und schließlich gelte es einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der FGM unter Strafe stelle, und die Strafverfolgungsbehörden im Umgang mit dem Thema zu schulen. Mit spezifischen Trainings gelte es die Kompetenz der Lehrer im Umgang mit dem Thema zu stärken, sowie anhand von „Generationendialogen“ zwischen Jung und Alt, Frauen und Männern, Vertrauen aufzubauen und Verpflichtungen einzugehen, um bisherige Verhaltensnormen zu ändern.  Es müsse Einigkeit darüber hergestellt werden, dass FGM negative Folgen für die Gesellschaft habe.

Korn: Meine Seele wurde auch herausgeschnitten

Wie sie selbst als siebenjähriges Mädchen von ihrer Mutter und anderen Familienmitgliedern eines Tages ohne Vorbereitung gepackt und ohne Schmerzmittel und mit primitiven Instrumenten und Naturmaterialien verstümmelt wurde, schilderte die aus Somalia stammende Faduma Korn, Gründerin des Vereins NALA e.V., Bildung statt Beschneidung, der sich gegen die Verstümmelung der weiblichen Genitalien einsetzt. Sie wolle mit ihrer Geschichte und dem Verein den tausenden Betroffenen eine Stimme geben, in Afrika, in Deutschland. Die Beschneidungs-Praktiken hätten nichts mit Religion zu tun. Es gehe allein darum, die weibliche Lust zu kontrollieren. 

Zu dem Schmerz und den physischen Folgen komme eine tiefe psychische Verletzung: der Verlust des Vertrauens in die Mutter als geliebten Menschen. „Stellen Sie sich vor, man schneidet die empfindlichste Stelle einer Frau einfach ab. Das kann sich keiner vorstellen. Meine Seele wurde auch herausgeschnitten. Ich habe mich zurück gekämpft“, erzählte Korn. Wenn man ansonsten keinen Platz habe in der Gesellschaft, müsse man als Mutter seinen Töchtern dasselbe antun. Ihre lebenskluge Mutter habe sie dann noch in der Steppe Somalias vor dem sicher geglaubten Tod bewahrt, nachdem ihre Wunde sich entzündet hatte. Sie habe das Glück gehabt, zu einem Onkel in die Hauptstadt zu kommen und schließlich ins Ausland, um sich medizinisch behandeln zu lassen.

Neue Probleme in Deutschland

In Deutschland würden die Opfer von Genitalverstümmelung auf neue Probleme stoßen. Zu dem eigenen Trauma und den Schmerzen komme die andauernde psychische Belastung, auch noch den behandelnden Arzt zu traumatisierten, wenn sie ihm oder ihr zeigen müssten, was diese selber nie zuvor gesehen hätten. „Wir bringen etwas mit, das Deutschland gar nicht kennt.“ Leider erführen tausende betroffene Frauen Zurückweisung, weil für ihre Behandlung das Fachwissen fehle oder es Abrechnungsschwierigkeiten mit der Versicherung gebe. Das Gesundheitssystem müsse anerkennen, dass die medizinische Versorgung von Beschneidungs-Opfern anders aussehe. 

Korn bat um ein größeres Verständnis für Frauen und Mädchen, die eine Genitalverstümmelung erlitten haben, sowie dafür, dem Thema einen festen Platz in der Ausbildung von Ärzten und in anderen Berufen zu geben, die mit dem Schicksal dieser Menschen konfrontiert werden. Deutschland als aufnehmende Gesellschaft müsse sich in dem Bereich mehr Kompetenzen aneignen und größere Menschlichkeit zeigen: von der Dolmetschung über die Rechtsprechung bis hin zur Behandlung von Fällen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Aufmerksamkeit müsse über Gedenktage wie dem 6. Februar oder dem 8. März hinaus reichen. Mit der von ihr initiierten Petition wolle sie das Thema bundesweit sichtbar machen.

Ministerien kümmern sich

Eine interministerielle und interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) befasse sich mit der Problematik, berichtete eine Mitarbeiterin des BMFSFJ. Derartige Eingriffe seien in Deutschland strafbar. Man müsse weiter in Aufklärung und Prävention investieren. Der von der Bundesregierung herausgegebene „Schutzbrief gegen Genitalverstümmelung“ in 16 Sprachen, der über medizinische und rechtliche Aspekte Auskunft gebe, sei bei Betroffenen und Nichtregierungsorganisationen auf breite Zustimmung gestoßen. In Kürze werde das Ministerium aktuelle Schätzungen zur Zahl der betroffenen und bedrohten Frauen und Mädchen nichtdeutscher Herkunft in Deutschland vorlegen.

Ein Vertreter des Bundesministeriums für Gesundheit gab Einblick in das Abrechnungssystem zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und den Vertragsärzten im Fall von Operationen zur Wiederherstellung der Geschlechtsorgane. Man setze sich für strukturelle Verbesserungen im Umgang mit dem Thema ein. (ll/29.01.2024)

Zeit: Montag, 29. Januar 2024, 13 Uhr bis 14.45 Uhr
Ort: Berlin, Reichstagsgebäude, Sitzungssaal 3 S037

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