1. Untersuchungsausschuss

Evakuierung der Deut­schen aus Kabul war eine Herausforderung

Aufnahme von einem Flughafen mit zwei Militärmaschinen und einer langen Reihe von Menschen vor der sich abzeichnenden Silhouette des Hindukusch-Gebirges

Flüchtlinge gehen an Bord von US-Militärmaschinen auf dem Hamid Karzai International Airport im August 2021. (picture alliance / zumapress.com | U.S. Air Force)

Der 1. Untersuchungsausschuss (Afghanistan) hat in einer Sitzung am Donnerstag, 11. April 2024, einen Beamten des Auswärtigen Amtes (AA) zum zweiten Mal befragt. Der Zeuge, der zum Zeitpunkt der Evakuierung aus dem Kabuler Flughafen Leiter des Krisenreaktionszentrums (KRZ) des Auswärtigen Amtes in Berlin war, berichtete, die Krisensitzung am 13. August 2021, also zwei Tage vor dem Kollaps der afghanischen Regierung, sei für seine Arbeit sehr wichtig gewesen. Denn dort sei beschlossen worden, die Evakuierung vorzubereiten. 

Krisenvorsorgesystem „Elefand“

Die Mitglieder des Untersuchungsausschusses waren vor allem an den Listen der zu Evakuierenden interessiert. Daraufhin berichtete der Zeuge von dem Krisenvorsorgesystem des AA, dem sogenannten „Elefand“. Dieses System sei zu Zeiten gesetzlich verankert worden, als es noch kein Internet gegeben habe. Die Grundidee sei, deutsche Staatsbürger im Ausland zu registrieren, um im Krisenfall schnell handeln zu können. Doch sei jedem im Auswärtigen Amt auch klar, dass diese Liste nie repräsentativ gewesen sei und das betreffe nicht nur Afghanistan. Im März 2021 seien in Afghanistan ungefähr 80 deutsche Staatsbürger registriert gewesen. Und im August habe die Zahl der Registrierten immer noch bei einer zweistelligen Zahl gelegen. „Es gibt aber immer eine Dunkelziffer“, sagte der Leiter des KRZ. Man sei von 300 Menschen ausgegangen, „letztlich waren es zwischen vier- und fünfhundert.“

Außerdem würden sich mehr Leute in die Liste eintragen, sobald sich eine Krise zuspitze. Der Beamte betonte jedoch, dass dies die Evakuierungsoperation nicht sonderlich beeinflusst habe. Denn es habe ausreichende Flugkapazitäten gegeben. Auch die Bundeswehr, zuständig für die Durchführung von Evakuierungsoperation, habe jederzeit Zugriff auf „Elefand“.Dennoch sei die Evakuierung der deutschen Staatsbürger nicht unproblematisch gewesen. Die Aussage des Beamten machte deutlich, dass sich Berlin offenbar vor einem Dilemma gestellt sah. Einerseits sollten die Staatsbürger aus einer Gefahrensituation herausgeholt werden, andererseits sollten keine falschen politischen Signale ausgesandt werden. „Es hatte damals schon längere Zeit eine Reisewarnung für Afghanistan gegeben“, berichtete der Zeuge den Abgeordneten, die gefragt hatten, warum es keine Ausreiseaufforderung gab. Im März habe es eine „schwach formulierte“ Ausreiseaufforderung gegeben. Das Auswärtige Amt sei unsicher gewesen, ob diese wiederholt werden sollte. Es sei klar gewesen, dass auch die Taliban mitlesen würden - ebenso wie die Regierung in Kabul und die afghanische Bevölkerung. Es sollte kein politisches Signal gesendet werden, dass Deutschland Afghanistan aufgegeben habe. Angesichts der Tatsache, dass sich damals nur 80 registrierte deutsche Staatsbürger in Afghanistan befanden, hätte man in dieser Situation sehr wenige Menschen erreicht, aber gleichzeitig eine schlechte politische Wirkung erzielt, so der Zeuge. 

Verlegung der deutschen Botschaft zum Flughafen Kabul

Die Verlegung der deutschen Botschaft zum Flughafen Kabul sei ebenfalls problematisch gewesen. „Das macht man nicht gerne“, sagte der Zeuge. Denn am Flughafen habe man weder die notwendige Infrastruktur noch die Sicherheit, um die diplomatische Arbeit fortzuführen. Dort sei man von anderen abhängig. Im Falle Kabuls kam erschwerend hinzu, dass die Bundeswehr zum Zeitpunkt der Evakuierung nicht mehr im Land war. Da der Flughafen, laut Aussage des Zeugen, „mit Abstand der wichtigste Punkt in Kabul“ war, habe Berlin noch im März 2021 beschlossen stets Kontakt zum Betreiber zu halten. 

Die Lage habe sich am Samstag, 14. August 2021, dermaßen verschlechtert, dass unter Einbindung der Staatssekretäre am Nachmittag die Verlegung der Botschaft zum Flughafen beschlossen worden sei. An diesem Abend habe er kein klares Bild gehabt, wie sich die Lage im Flughafen darstellte, führte der Zeuge aus. Er habe aber die Entscheidung dem deutschen Gesandten Jan Hendrik van Thiel weitergegeben und der habe den Umzug „sehr gut umgesetzt“. Die Kritik, er habe van Thiel vorgeworfen, ohne Weisung die Botschaft geschlossen habe, wies der Zeuge zurück: „Mir ist nicht bekannt, dass er irgendetwas weisungswidrig gemacht hat.“ Das damalige Handeln van Thiels bedürfe ohnehin keiner Weisung, betonte der Leiter des KRZ.

Die Evakuierungsoperation aus Kabul sei die größte in der Geschichte gewesen, unterstrich der Beamte. Man sei nicht für eine solch große Operation eingestellt gewesen. Das habe auch beim ihm persönlich Spuren hinterlassen und er merke, dass es alle Beteiligten umtreibe. Das Geschehen habe den „massiven Änderungsbedarf gezeigt“ und ein Erneuerungsprozess angestoßen, so der Zeuge.

Am frühen Morgen des 18. August

Botschafter Z., der während der Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen als Krisenbeauftragter des Auswärtigen Amtes (AA) das Krisenreaktionszentrum (KRZ) in Berlin leitete, hat vor dem 1. Untersuchungsausschuss Afghanistan berichtet, dass während der Operation nicht die Flugkapazität, sondern das Einschleusen der Ausreiseberechtigten in den Flughafen problematisch war. Z, der ab dem 18. August 2021 für etwa zwei Wochen diese Aufgabe übernommen hatte und damit letztendlich die heißeste Phase der Evakuierung von Berlin aus koordinieren musste, beschrieb dem Ausschuss, vor welchen Herausforderungen er und sein Team gestanden haben.

Das erste Problem habe sich schon am frühen Morgen des 18. August gezeigt. Die sonst nicht öffentliche Telefonnummer des KRZ sei weitergegeben worden, mit dem Ergebnis, dass das Team keine Kommunikationsmöglichkeiten mehr hatte, weil zu viele Anrufe entgegengenommen werden mussten. Auch das Mailsystem sei überlastet gewesen und man habe fürchten müssen, dass es zusammenbricht. Insgesamt seien in dieser Zeit rund 55.000 E-Mails pro Tag empfangen worden.

Drei Listen zur Evakuierung

Bei der Evakuierung habe man drei Listen gehabt. Eine Liste der deutschen Staatsangehörigen, die Priorität gehabt hätten, eine Liste der afghanischen Ortskräfte und schließlich eine der besonders Schutzbedürftigen. Auf das Gelände des Flughafens zu kommen, sei das größte Problem gewesen. Immer wenn sie im Krisenreaktionszentrum informiert wurden, dass jemand vor einem Gate stünde, hätten sie das Team vor Ort informiert, um die Menschen einzuschleusen. Allerdings habe man auch hier priorisieren müssen, führte der Zeuge aus, weil es auch zeitintensive Fälle gegeben habe. Insgesamt habe es immer genug Flugkapazitäten gegeben, aber es sei nicht immer möglich gewesen, die Menschen in den Flughafen zu bringen.

Die erfolgreichste Aktion sei die sogenannte „Bus-Aktion“ gewesen, so der damalige Krisenbeauftragte des AA. Gemeint ist das Ausfliegen von hunderten von deutschen Staatsbürgern. Die Herausforderung sei vor allem die Lokalisierung dieser Menschen gewesen, weil 90 Prozent der deutschen Staatsbürger sich aus verschiedenen Gründen nicht in die Krisenvorsorgeliste eingetragen hätten. Am Ende hätten sie aber geschafft etwa 300 Deutsche in Afghanistan zu identifizieren, zu verorten, zu kontaktieren und herauszuholen.

Zeuge: Arbeit vor Ort musste eingestellt werden

„Wir haben versucht, mit den Amerikanern auf allen Ebenen zu verhandeln, um über den 31. August hinaus weiterzumachen und weiter aktiv bleiben zu können“, sagte der Zeuge und fügte hinzu: „Es hat nicht funktioniert.“ Damit sei klar gewesen, dass man die Arbeit vor Ort einstellen müsse. Die Sicherheitslage an den Toren des Flughafens hätten eine Fortsetzung ohnehin nicht erlaubt. Am 26. August habe es einen Anschlag vor dem Flughafen und kurze Zeit später eine Explosion in der Stadt gegeben. So sei das Krisenreaktionszentrum zu dem Schluss gekommen, „dass es zu riskant war, die Leute zum Flughafen zu bringen“, berichtete der Botschafter.

Die Arbeit der NGO „Kabul Luftbrücke“ lobte der ehemalige Leiter des Krisenstabs. Die Organisation habe zu Evakuierende ausfindig gemacht. Als sie jedoch mit Bussen Menschen zum Flughafen bringen und dafür aus Berlin „laissez-passer“, also Passierscheine, ausgestellt haben wollten, habe er dies verweigert, führte der Zeuge aus. Die Taliban hätten keine Busse durchgelassen, die nicht mit den Amerikaner abgestimmt gewesen seien. Es sei zu gefährlich gewesen. Unter anderen Umständen wäre er bereit gewesen, die Papiere auszustellen, betonte der Zeuge.

Zeuge aus dem Verteidigungsministerium

Nach dem Zeugen befragte der Ausschuss den damaligen Leiter der Unterabteilung Militärpolitik und Einsatz des Bundesministeriums für Verteidigung (BMVg). Der Generalmajor berichtete, dass das BMVg auf eine Anpassung des Ortskräfteverfahrens (OKV) gedrängt habe. Das Verfahren, dass sie 2013 eingesetzt hätten, sei 2020 noch funktional, institutionalisiert und fortgeschritten gewesen. Als jedoch das Ende des Einsatzes nahte, habe man das OKV weiterentwickeln. Es habe aber Meinungsunterschiede zwischen verschiedenen Ressorts gegeben.

„Das BMVg hat aber nicht locker gelassen und wir haben immer wider versucht, eine Änderung des OKV voranzutreiben“, sagte der Zeuge. Schließlich sei es im Zuge des weiteren Einsatzes auch gelungen, das OKV zu verändern, berichtete er und betonte den „Druck des Ministerentscheids“.

Untersuchungsauftrag

Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte Ausschuss befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021.

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. (crs/11.04.2023)

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