2. Untersuchungsausschuss

Lemke hielt kurzzeitige Laufzeitverlängerung für hinnehmbar

Eine Hand greift zu einem Ausschusssaalmikrofon.

Der 2. Untersuchungsausschuss befragte die Umweltministerin, den Kanzleramtschef und den ehemaligen Finanzminister. (© DBT/Simone M. Neumann)

Zeit: Mittwoch, 15. Januar 2025, 10.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal Europasaal 4.900

Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) hat Darstellungen widersprochen, dass ihr Ministerium eine Verlängerung des Betriebs der letzten drei deutschen Kernkraftwerke über das vorgesehene Abschaltdatum Ende 2022 hinaus von vornherein abgelehnt habe. Bei ihrer Vernehmung durch den 2. Untersuchungsausschuss  „Atomausstieg“ unter Leitung des Vorsitzenden Dr. Stefan Heck (CDU/CSU) am Mittwoch, 15. Januar 2025, sagte die Ministerin, sie habe im Februar 2022 eine Bewertung angefordert, unter welchen Bedingungen ein Weiterbetrieb der Kernkraftwerke möglich sei. 

Die Fachebene ihres Ministeriums habe nie formuliert, dass kein Weiterbetrieb möglich sei, sondern habe Bedingungen, Voraussetzungen und Notwendigkeiten formuliert. Auch habe der Abteilungsleiter im Ministerium, Gerrit Niehaus, den von der Fachebene erstellten Vermerk nicht umgeschrieben. Das hätte sie nie akzeptiert. Der Abteilungsleiter habe dem Vermerk eine Einschätzung hinzugefügt, die auf den Ausstiegsbeschluss von 2011 zurückgehe, wonach das Restrisiko nur für eine gewisse Zeit tragbar sei.

Sicherheitslage für Kernkraftwerke

Lemke erklärte, die Sicherheitslage für Kernkraftwerke habe sich in der Zeit danach nicht verbessert - im Gegenteil. Der Ukraine-Krieg habe erstmals gezeigt, dass Atomanlagen unmittelbar von kriegerischen Handlungen betroffen sein könnten. Sie sprach in der Vernehmung mehrfach den Beschuss des Kernkraftwerks Saporischschja in der Ukraine an. Lemke bezeichnete die Risiken der Kernkraft als enorm. Sie reichten weit über Saporischschja hinaus, wie der Fall der japanischen Atomanlage Fukushima zeige.

Grundsätzlich erklärte Lemke, es sei ihre Aufgabe, das geltende Atomgesetz einzuhalten und umzusetzen. Den Willen des Gesetzgebers könne sie nicht nach Gutdünken ändern oder interpretieren. 2011 sei im Atomgesetz festgehalten worden, dass das Restrisiko der Atomkraft nur noch für bestimmte Zeit hinnehmbar sei. Damals sei gesagt worden: Das Risiko sei so groß, dass man es nur noch eine begrenzte Zeit tragen wollte. Das hätten auch die Kraftwerksbetreiber so gesehen, sagte sie mit Blick auf die von den Betreibern abgelehnte Laufzeitverlängerung. 

Laut Lemke war dies ein Ausschlusskriterium für eine langjährige Laufzeitverlängerung gewesen. Eine langjährige Laufzeitverlängerung sei auch deshalb ausgeschlossen gewesen, weil die Betreiber erklärt hätten, sie seien nur zu einer langjährigen Laufzeitverlängerung bereit, wenn der Staat die Haftung übernehme.

Außerdem hätten die Betreiber weitere Bedingungen gestellt wie eine Reduzierung der Prüftiefe. Bei Mängeln hätten sie einen Verzicht auf Nachrüstungen verlangt. Das wären Abstriche an der nuklearen Sicherheit gewesen. Das sei für ihr Ministerium nicht verhandelbar gewesen. „Für mich steht als Umweltministerin die nukleare Sicherheit an erster Stelle“, erklärte Lemke.

Richtlinienentscheidung des Kanzlers

Im Sommer 2022 habe das Risiko eines großflächigen Blackouts nicht ausgeschlossen werden können, berichtete Lemke. Die bayerische Staatsregierung habe die Möglichkeit eines großflächigen Blackouts in den Raum gestellt. Im Endeffekt sei man in der Bundesregierung nach Abwägung aller Risiken zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei Kernkraftwerke um dreieinhalb Monate möglich sei. Dass die Brennelemente für diese Zeit noch ausreichen würden, sei im Frühjahr noch nicht von den Betreibern kommuniziert worden. Die Kabinettsbefassung über eine Laufzeitverlängerung habe sich verzögert, weil die FDP zunächst neben dem Weiterbetrieb der drei noch aktiven Kernkraftwerke auch das Wiederanfahren von zwei bereits stillgelegten Anlagen verlangt hatte.

In einem Telefonat habe ihr Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) später seine Richtlinienentscheidung mitgeteilt, die Laufzeit um dreieinhalb Monate zu verlängern, berichtete die Ministerin. Dem habe sie auch unter dem Aspekt der nuklearen Sicherheit zugestimmt. Sie bezeichnete den gesamten Entscheidungsprozess als völlig transparent.

Atomkraftwerke als Einsatzreserve

Angesprochen auf den Vorschlag von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), die letzten Atomkraftwerke in einen Reservebetrieb zu nehmen, sagte die Ministerin, Habecks Idee der Einsatzreserve stamme aus dem Atomgesetz von 2011, sei aber damals schon umstritten gewesen. Der Vorschlag sei dann 2022 geprüft worden. Für die energiewirtschaftliche Bewertung sei das Bundeswirtschaftsministerium zuständig gewesen. Das Umweltministerium habe die atomare Sicherheit zu bewerten gehabt. 

Es habe intensive Beratungen darüber gegeben. Die ersten Vorschläge hätten noch nicht der atomaren Sicherheit entsprochen. Nach Veränderungen der Vorschläge sei der Reservebetrieb technisch nicht mehr von dem schließlich auf den Weg gebrachten Streckbetrieb zu unterscheiden gewesen, sagte Habeck.

Lindner: Widerstand von der G-Seite

Im weiteren Verlauf der Sitzung befragten die Abgeordneten den früheren Bundesfinanzminister Christian Lindner. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 trat nach Aussage des FDP-Politikers der „Ernstfall der selbstverschuldeten Erpressbarkeit“ ein: gewaltige Probleme in der Energieversorgung, als Lieferungen von Gas und Öl aus Russland immer mehr gegen Null gingen, weil „ab 2014 die Zeichen der Zeit nicht erkannt wurden“. Seine Devise sei es gewesen, so Lindner, „jede Möglichkeit für jedes Stromangebot“ auszuschöpfen. Lindner wiederholte immer wieder, es sei bei allen Überlegungen um Versorgungssicherheit und Energiepreise gegangen.

Das sahen auch seine Koalitionspartner so ähnlich. Nur: Gegen längere Laufzeiten der letzten drei damals noch im Betrieb befindlichen Atomkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim II und Emsland, wie von der FDP gefordert, gab es Widerstand von der „G-Seite“, wie es Lindner ausdrückte. Sein Ministerium habe im Laufe der nächsten Monate überhaupt erst durchsetzen müssen, am Krisenmanagement der Regierung beteiligt zu werden.

„Sicherheitsrisiken und kaum Nutzen“

Die Bundesministerien für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) sowie für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hatten sich am 7. März 2022 auf einen „Prüfvermerk“ geeinigt und dem Kanzleramt vorgelegt, demzufolge eine weitere Nutzung der drei Atommeiler, deren Laufzeit per Gesetz zum Jahresende auslief, mit Sicherheitsrisiken verbunden wäre und kaum Nutzen brächte.

Zwar hatte Wirtschaftsminister Robert Habeck eine ergebnisoffene Prüfung aller Optionen angekündigt. Doch in Lindner wuchsen nach eigenem Bekunden Zweifel daran. Widersprüche seien aufgetaucht. So sei wohl von BMUV und BMWK der Hinweis gekommen, Brennstoff für die Atomkraftwerke könne nur aus Russland bezogen werden. Das sei falsch, hätten die Vorleute von Eon, RWE und EnBW bei einer Telefonschalte mit Scholz, Habeck und Lindner erklärt. Der Kanzler habe sich überrascht gezeigt.

„Harte interne Machtauseinandersetzungen“

Zu dem Zeitpunkt waren indes Zweifel am Befund des „Prüfvermerks“ längst öffentlich diskutiert worden. Zwei Stresstests mit Stromversorgungsszenarien waren durchgespielt worden. Scholz, Habeck und er hätten sich Mitte Oktober darauf geeinigt, die Laufzeit der besagten drei Kernkraftwerke bis in den April hinein zu verlängern, so Lindner. Dass die Emsland-Anlage im Gegensatz zum Willen des grünen Koalitionspartners dabei war, wertete er als Verhandlungserfolg. Zurückgesteckt habe die FDP bei der Laufzeit. Sie habe noch den Winter 2023/2024 mit einbeziehen wollen.

In diesen Fragen machte Lindner bei den Grünen harte interne Machtauseinandersetzungen aus. Er habe sich die Frage gestellt, wo man gegen den Identitätskern eines Koalitionspartners stoße. Bei der Bundesversammlung der Grünen vom 14. bis 16. Oktober 2022 sei jedenfalls ein Antrag beschlossen worden, der nur den Weiterbetrieb von zwei Atomkraftwerken, verbunden mit einer Reihe von Bedingungen, vorsah. Emsland sollte, wie vorgegeben, zum Jahresende abgeschaltet werden. Doch Scholz habe sich mit Habeck und ihm auf die Dreierlösung geeinigt, sagte Lindner. Und die setzte der Kanzler mit seiner Richtlinienkompetenz als Regierungschef am 17. Oktober 2022 dann auch durch. Einen pragmatischen Schritt nannte dies der FDP-Chef. Im Kanzleramt war der Beschluss der Grünen ohnehin mit Fassung zur Kenntnis genommen worden. 

„Laufzeitverlängerung war richtig“

Der Text des Antrags sei übliche Parteitagslyrik, schmunzelte Kanzleramtsminister Dr. Wolfgang Schmidt (SPD), der nach Lindner auf dem Zeugenstuhl Platz genommen hatte. Er strich heraus, dass Scholz schon 2021 die Frage gestellt habe, was eigentlich passiere, wenn Russland Deutschland das Gas abdreht immerhin ein Szenario, dass es selbst im Kalten Krieg nicht gegeben habe. Immer wieder sei die Frage auch in der „Bunkerrunde“ angesprochen worden, einem regelmäßigen Treffen in einem abhörsicheren Keller im Kanzleramt. Der Chef eines ausländischen Energieunternehmens habe ihn früh gewarnt: „Nehmt den schlimmstmöglichen Fall an.“ 

Der Bundeskanzler und er hätten sich ergebnisoffen und undogmatisch mit der Thematik befasst, erklärte Schmidt. Er sei der Überzeugung, dass die Laufzeitverlängerung richtig war. Und das begleitende Gezerre? Für ihn ein Ampel-Symptom: Beide Koalitionspartner der SPD seien halt in unterschiedliche Richtungen gelaufen. 

Auftrag des Untersuchungsausschusses

Der Untersuchungsausschuss wurde am 4. Juli 2024 vom Bundestag eingesetzt und befasst sich mit den staatlichen Entscheidungsprozessen zur Anpassung der nationalen Energieversorgung an die durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine veränderte Versorgungslage. 

Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild von den Entscheidungsprozessen sowie deren Kommunikation an den Bundestag und an die Öffentlichkeit zu verschaffen. Dies gilt vor allem für die Entscheidungen über einen möglichen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke. Es soll untersucht werden, welche Informationen den Entscheidungen zugrunde gelegt wurden, welche nationalen und internationalen Stellen in die Entscheidungsprozesse einbezogen wurden und ob die Einbeziehung weiterer Informationen oder Stellen sachgerecht gewesen wäre. (hle/fla/16.01.2025)