Zeit:
Montag, 27. Januar 2025,
14 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2 600
Einen Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen „zur Errichtung der Stiftung Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex“ (20/14024) haben die Sachverständigen bei einer Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat am Montag, 27. Januar 2025, einhellig begrüßt.
Der stellvertretende Vorsitzende Prof. Dr. Lars Castellucci (SPD) verlas die Namen der Todesopfer, als er ins Gedächtnis rief, dass der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) über einen Zeitraum von fast 13 Jahren zehn Menschen ermordet, überdies drei Bombenanschläge verübt und 15 Bank- und Raubüberfälle begangen hat.
Rechtsterrorismus seit 1945
Miro Dittrich, Center für Monitoring, Analyse und Strategie gGmbH, Berlin, legte dar, eine Verengung von Rechtsterrorismus auf den NSU greife zu kurz. Der Rechtsterrorismus habe sich seitdem verändert und modernisiert. Inzwischen gehe es um noch jüngere, teils minderjährige Täter. Neue Strömungen und Netzwerke seien hinzugekommen.
Er empfahl, dass die Stiftung ihren Schwerpunkt auf Rechtsterrorismus seit 1945 legen und die rechtsterroristische Mordserie des NSU als Zäsur begreifen solle. Gleichzeitig sei es essenziell, auch die gegenwärtigen rechtsterroristischen Bestrebungen in die Stiftungsarbeit mit einzubeziehen.
Zentrum als Multifunktionsort
Prof. Dr. Sabine Hess, Georg-August-Universität Göttingen, erklärte, die im Gesetzentwurf vorgesehene Einrichtung der Stiftung auf Bundesebene mit einem dezentralen Verbund von NSU-Dokumentationszentren halte sie für klug und angemessen. Für sie ist es eine Notwendigkeit, das Zentrum als einen Multifunktionsort als Archiv, Dokumentations-, Forschungs-, Lern-, Gedenk- und Versammlungsort klug und kreativ zu entwerfen.
Von Anfang an müssten auch die Hinterbliebenen und lebenden Opfer in alle Schritte der Planung, Realisierung und den späteren Betrieb einbezogen werden. Hess sprach von einem ersten Lernort, der rassistische Gewalt, insbesondere mit Blick auf die Einwanderungsgesellschaft, in den Mittelpunkt rücke.
Opfer in Projektgestaltung einbeziehen
Prof. Dr. Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Hinterbliebenen des NSU, verwies auf die Zeit, als Sicherheitsbehörden, Gesellschaft und Politik ausgeschlossen hätten, bei den Morden könne es sich um rechtsterroristische Verbrechen handeln. Die Betroffenen in den Opferfamilien hätten diese Jahre als „die schlimmsten Jahre“ ihres Lebens beschrieben.
Sie fragte, wie der Bundestag es rechtfertigen könne, mit diesem Stiftungsgesetz ab 2030 mehr als 15 Millionen Euro jährlich auszugeben zusätzlich zu den vorbereitenden aktuellen Ausgaben für das Zentrum, aber den Opferfamilien erneut kein Schmerzensgeld, eine Härteleistung, zugesprochen werde für erlittenes Leid. Sie drängte darauf, die Terroropfer als Mitgestalter in das Projekt einzubeziehen.
Verantwortung und Aufklärung
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, hält die Stiftung für unerlässlich, damit die Verbrechen rechtsterroristische Netzwerke wie dem NSU und das Versagen der Sicherheitsbehörden und der Gesamtgesellschaft nicht in Vergessenheit gerieten. Ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex wäre nach seiner Ansicht ein deutliches Zeichen, dass die gesamte Gesellschaft zu ihrer Verantwortung stehe und dafür Sorge trage, dass über die Gefahren des Rechtsterrorismus aufgeklärt werde.
Die Forderung von Angehörigen der Opfer und weiterer Betroffener nach einer angemessenen Beteiligung in den entscheidungsrelevanten Gremien der Stiftung sei sehr wichtig. Die im Gesetzentwurf geplante Einrichtung eines Betroffenenbeirats sei sehr zu begrüßen. Krügers Appell: „Es wäre ein gutes Zeichen, gerade in diesen Zeiten des Wahlkampfs, wenn sich die demokratischen Parteien klar zu dieser Erinnerungsarbeit bekennen.“
Fonds zur materiellen Entschädigung
Robert Kusche, Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V., Berlin, begrüßte den Gesetzentwurf. Er merkte an, eine nachhaltige Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex und Rechtsterrorismus könne nur erfolgreich sein, wenn die Perspektiven der Hinterbliebenen und Überlebenden im Zentrum der Stiftung stünden und sich dies auch in Mitwirkungsmöglichkeiten und Entscheidungsgremien widerspiegele.
Als weiterer Stiftungszweck solle ein Fonds zur materiellen Entschädigung für Hinterbliebene und Geschädigte aufgenommen werden. Um die Glaubwürdigkeit der Stiftung langfristig sicherzustellen, sei ihr Schutz vor rechtsextremen Einflussnahmen und Parteien notwendig. Dies müsse im Gesetz verankert werden.
NSU-Komplex als Zäsur
Prof. Dr. Tom Mannewitz, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Berlin, befand, dass es sich beim NSU-Komplex um eine Zäsur handle, verstehe sich von selbst. Er bezog das auf mehrere Bereiche. So verwies er auf das lange Wirken, die hochgradige Vernetzung, den rassistischen Zynismus, die Brutalität und die Überregionalität des NSU. Außerdem erwähnte er die Sicherheitsbehörden mit dem an vielen Stellen zutage getretenem Versagen, das in der Konsequenz in einer Reihe von Reformen mündete.
Er lenkte der Blick auf die Opfer und ihre Angehörigen, die sich von Staat und Gesellschaft im Stich gelassen fühlten. Die Idee einer bundesweiten Stiftung mit einem zentralen Ort für Erinnerung, Gedenken und Dokumentation sei vor dem Hintergrund dieses traurigen Superlativs angemessen.
Offene Fragen klären
Prof. Dr. h. c. Rudolf Mellinghoff, Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. und Präsident des Bundesfinanzhofes a. D., meinte, es sei außerordentlich wichtig, einen Ort der Erinnerung, der Dokumentation und des Gedenkens an die Opfer des NSU zu errichten.
Der Gesetzentwurf werfe jedoch noch zahlreiche Fragen auf, die einer vertieften Auseinandersetzung bedürften. So falle auf, dass die Erinnerung an die Opfer des NSU und die Dokumentation des NSU-Komplexes nur eine unter vielen Zielsetzungen sei. Eine umfassende Aufarbeitung der rechtsextremistischen Gewalt seit 1945 greife weit darüber hinaus.
Gesetzentwurf von SPD und Grünen
Wie die Fraktionen in ihrem Gesetzentwurf ausführen, hat der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) über einen Zeitraum von fast 13 Jahren zehn Menschen ermordet, drei Bombenanschläge verübt und 15 Bank- und Raubüberfälle begangen. Bis heute gebe es indes bundesweit „keinen Erinnerungs- oder Lernort, der sich explizit mit der Geschichte des NSU, deren Opfern und von ihren Taten Betroffenen“ und darüber hinaus mit der Geschichte des Rechtsterrorismus nach 1945 auseinandersetzt.
„Die rechte Gewalt, rechtsextremistische Anschläge und die Geschichte des Rechtsterrorismus auf deutschem Staatsgebiet einschließlich demjenigen der ehemaligen DDR seit 1945 sind nach wie vor nicht im kollektiven Gedächtnis verankert“, schreiben die beiden Fraktionen weiter. Das gelte insbesondere auch für die Geschichte der 1990er-Jahre in den ostdeutschen Bundesländern, „die als sogenannte ,Baseballschläger'-Jahre mitsamt dem ,Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit' zur Entstehung des NSU beigetragen haben“. Hier bestehe eine strukturelle Lücke in der Erinnerungslandschaft der Bundesrepublik und in der historisch-politischen Bildung.
Gedenken an die Opfer und Überlebenden
Die Stiftung „Gedenken und Dokumentation NSU-Komplex“ soll der Vorlage zufolge die kritische Aufarbeitung des NSU-Komplexes, eingebettet in die Geschichte des Rechtsterrorismus nach 1945, fördern, neue Wege der historisch-politischen Wissensvermittlung im gesamten Themenkomplex erarbeiten und das Gedenken an die Opfer und Überlebenden des NSU-Komplexes im kollektiven Gedächtnis der Gesamtgesellschaft verankern. Der NSU-Komplex stehe wie kein anderer für die Entwicklung des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945.
Die Stiftung soll durch ein „innovatives digitales wie analoges Vermittlungsprogramm rechtsterroristische Denkmuster und ihre Netzwerke sowie historische Kontinuitäten verstehbar machen“, heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs. Durch das Vermitteln und Einüben von Multiperspektivität und Begegnung sowie die Reflexion und den Abbau von Vorurteilen und Ideologien der Ungleichwertigkeit solle langfristig die „Entstehung einer inklusiven Gesellschaft gefördert werden, die für eine plurale Demokratie einsteht und sich aktiv gegen menschenfeindliche Denkmuster und Handlungen stellt“.
Weiterhin soll die Stiftung laut Vorlage konkrete Maßnahmen umsetzen, die der Stärkung und Unterstützung von Betroffeneninitiativen zugutekommen. Dabei solle die Vernetzungsarbeit und die Förderpraxis der Stiftung zur Entstehung eines dezentralen Verbunds „NSU-Dokumentationszentrum“ beitragen. (fla/27.01.2025)