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Zeitzeugenberichte der Gedenkstunde anlässlich des Gedenkens an das Ende des Zweiten Weltkriegs

[Stenografischer Dienst]

Tankred Suckau:
Aus der Chronik „Uns geht’s ja noch gold“ von Walter Kempowski:

Wenn ich mich etwas vorbeugte, konnte ich vom Schlafzimmerfenster aus alles gut überblicken.
Gegenüber die Paulstraße: bis dahin war das Feuer gedrungen, bei der sogenannten Katastrophe, wie die Leute die Angriffe von 1942 nannten. Vor der Katastrophe und nach der Katastrophe. Jetzt würde es vor und nach dem Zusammenbruch heißen.
Ich kniete auf der Couch und hatte die Innenfenster geöffnet. Aus allen Häusern hingen weiße Fahnen. Als ob das alles Bunker wären, die kapitulierten. Gegenüber, bei Arbeiter Krampke, sogar eine rote. Ein sogenannter Fahnenwald, wie man früher gesagt hätte.
An der Ecke hielt ein Motorrad mit Russen.
Die Russen flachsten mit einer Ostarbeiterin. Die zeigte auf unser Haus.
„Komm lieber vom Fenster weg“, sagte meine Mutter.
„Sonst werden die noch aufmerksam.“
„Sind sie weg?“
Nein, sie waren noch da.
Was wohl als Nächstes passiere, fragte sie sich.
Soweit war man ja gut durchgekommen. Nicht ausgebombt und am Leben.
Und Vati? Na mal sehn. Das würde auch noch werden. Abwarten und Tee trinken.
Aber: Russen! Wer hätte das gedacht. Hätten die Engländer nun nicht eher da sein können? Die paar Kilometer?
Wie gut, dass man im zweiten Stock wohnte. Wenn wirklich Russen ins Haus kämen, dann müssten sie ja erstmal an der verlassenen Wohnung von Beckers vorbei, konnten da alles ungestört durchstöbern. Dann wär’ der Tatendrang gewiss gestillt.
Das Motorrad fuhr weg. Das Knattern war ja auch schon nicht mehr auszuhalten gewesen.
Ich knotete mir ein Taschentuch um den Ärmel und ging schon mal auf die Straße.
„Sieh dich vor, mein Jung! Geh nicht zu weit weg! Hörst du?“
In der Friedrich-Franz-Straße lag ein totes Pferd mit abgestreckten Beinen. Das war eins von der Wehrmacht, zwei alte Männer tranchierten es. Sie legten die Fleischstücke säuberlich in Schüsseln: hier die Leber und dort das Schiere vom Schenkel. Gulasch davon machen, aber kräftig würzen, sonst schmeckt es süßlich.
Durch die Hermannstraße rollte die russische Armee. Ein Sowjetsoldat, den Regenmantel umgehängt, die Balalaika vorm Bauch, winkte sie ein. Eine lange Kette von Fahrzeugen. Oben in der Luke ein Panzersoldat, mit einer Raupenkappe auf dem Kopf.
Sie kuckten nicht links, nicht rechts, immer weiter, keine Zeit, keine Zeit.
Am Zaun hing eine KZ’ler-Jacke, blau und weiß gestreift.

Der in Kempowskis Roman angesprochene Vati ist längst tot, aber in der Hoffnung seiner Lieben war er zumindest eine Zeit lang noch am Leben.
Mein Name ist Tankred Suckau, und ich bin 25 Jahre alt. 
Auf den Schultern meiner Generation lastet keine Schuld für das, was im Zweiten Weltkrieg geschehen ist, aber wir tragen Verantwortung. Meine Begegnungen in internationalen Friedensprojekten haben mir gezeigt, dass aus dieser Verantwortung Versöhnung erwachsen kann. Versöhnung und auch Freundschaft, wenn man sich der Verantwortung stellt.
(Beifall)
Darauf hoffe ich.
(Beifall)


Sophia Wegener:
Aus dem Buch „Weiter leben. Eine Jugend“ von Ruth Klüger:

Die Zeit unserer Flucht war die Zeit der letzten, schwersten Bombenangriffe. Deutschland war ein geschundenes Land, es war zum geschundenen Schinder geworden. Die großen Städte standen in Flammen. Überall wurde bombardiert und fielen Flugblätter, welche die Bevölkerung aufforderten, sich zu ergeben oder den Nazis Widerstand zu leisten. Nichts hätte weniger überzeugen können als diese Sprüche, abgeworfen von den verhassten, kreischenden Todesmaschinen. Die Leute legten die Blätter verächtlich beiseite, auch als die wenigsten mehr an den Endsieg durch eine Wunderwaffe glaubten.
Und eines Tages waren sie da, die Amis. Das Wetter war schön, es war Frühling geworden, sie hatten die Stadt eingenommen, indem sie mit ihren Panzern und Jeeps voranfuhren, es hatte keine Schlacht gegeben. Der lange Spuk, der mein Leben gewesen war, diese sieben bösen Jahre, war mit einem Mal vorbei. Wir waren am Ziel. 
Wir hatten nie weitergeplant als bis zu diesem Moment. Wir gingen in das Stadtzentrum, sahen einander verdutzt an und fragten uns „Was nun?“ Meine Mutter nahm ihr bestes Schulenglisch zusammen, ging auf den ersten besten amerikanischen Soldaten zu und erzählte ihm kurz und bündig, wir seien aus einem KZ entlaufen. 
Was er antwortete, verstand ich nicht, weil ich noch kein Englisch konnte, aber seine Gebärde war unmissverständlich: Er legte die Hände an beide Ohren an und wandte sich ab. Meine Mutter übersetzte. Er hätte genug von den Leuten, die behaupteten, sie seien in den Lagern gewesen. Man treffe sie überall an. Wir waren schon wieder welche. 
Die Aprilsonne wärmte mir die Haut. Ich konnte von jetzt an kurze Ärmel tragen, und es war egal, ob jemand die KZ-Nummer bemerkte; auch bei meinem richtigen Namen durfte ich mich wieder nennen. Ein unvergesslicher Tag würde es bleiben, doch ich war froh, dass wir uns schon selbst befreit hatten und von den Siegern nicht mehr viel brauchten, denn für die lang herbeigesehnte und in meiner Phantasie zu einem großen Fest hochstilisierte Stunde der Befreiung war sie etwas spärlich ausgefallen. Hier war mein erster Amerikaner, und der hielt sich die Ohren zu. 
Also eines stand fest: nicht unseretwegen war in diesem Krieg gekämpft worden.

Mein Name ist Sophia Wegener, ich bin 21 Jahre alt. 
Der Text von Ruth Klüger hat für mich aufgezeigt, wie wichtig Identität ist. Mit nur wenigen Mitteln hat man ihre Persönlichkeit auf eine Nummer reduziert. Erst nach jahrelanger Erniedrigung und Verfolgung hat sie ihre Würde und ihre Freiheit zurückerhalten. 
„Wenn deine Uroma wüsste, dass du dich dafür interessierst und engagierst!“ Mit diesen Worten reagierte meine Familie auf mein Engagement in der Erinnerungskultur. Mir ist es ein wichtiges Anliegen, die Erinnerung an die Gefahren der Gewaltherrschaft wachzuhalten. Sie dürfen niemals vergessen werden.
(Beifall)


Carl Vitek:
Am 1. Januar 1945 spricht Thomas Mann im Radio:

Es gibt keinen Nazi-Sieg. Alles, was so aussieht, ist blutiger Unsinn. Diese Menschen leben in dem unbegreiflichen Wahn, sie könnten, da ihnen schon die Weltherrschaft entgangen, durch hingezogenen Widerstand die Alliierten ermüden, sie zu einem Verhandlungsfrieden, einem Frieden mit ihnen zwingen. Ein Friede Russlands, Amerikas und Englands mit Hitler und Himmler, ein Friede, bei dem das Naziregime bestehen bliebe. Glaubt ihr daran? 
Die Welt braucht Frieden. Darum kann sie den Nationalsozialismus, der keinen anderen Sinn und Zweck hat als Krieg, der nie etwas anderes meinte und in sich trug als Krieg, nicht brauchen. 
Nie klafften die Interessen eines Volkes und seiner Machthaber weiter auseinander als heute bei Euch Deutschen. Hier das Volk, dessen Sache Frieden und Wiederaufbau wäre, dort die Machthalunken, die an den Krieg gekettet sind, die keine Hoffnung haben außer ihm und darum jeden mit langsamem Strick erwürgen, der Deutschland retten, der ihm das Recht auf den Gedanken des Friedens und des Wiederaufbaus nach maßloser Zerstörung zurückgeben will.

Am 8. Mai 1945 schreibt Thomas Mann:

Kapitulation Deutschlands erklärt. 
Mitteilung an das deutsche Volk: Die Überlegenheit des Gegners an Menschen und Material zwinge zum Niederlegen der Waffen. Deutschland solle ruhig bleiben und ein neues Leben beginnen. Wäre dies letztere ehrlich gemeint! 
Ist dies nun ein Tag feierlichster Art? Es ist nicht gerade Hochstimmung, was ich empfinde. Natürlich ist die gegenwärtige deutsche Regierung nur episodisch, Instrument der Kapitulation. Übrigens aber wird dies oder das mit Deutschland, aber nichts in Deutschland geschehen, und bis jetzt fehlt es an jeder Verleugnung des Nazitums, jedem Wort, dass die sogenannte Machtergreifung ein fürchterliches Unglück, ihre Zulassung, Begünstigung ein Verbrechen ersten Ranges war. [...] die Erklärung, zur Wahrheit, zum Recht, zur Menschlichkeit zurückkehren zu wollen - wo sind sie?

Mein Name ist Carl Vitek, ich bin 19 Jahre alt. 
Bevor der Krieg zu Ende ist, spricht Thomas Mann davon, wie wichtig Friede ist. Doch als der Krieg endet, gibt er preis, keine Hochstimmung zu empfinden. Ich denke an meine Großeltern. Auch sie waren froh über das Ende des Krieges. Aber der Krieg hatte ihnen ihre Heimat und fast alle Verwandten genommen. Obwohl sie nie viel davon erzählt haben, prägte der Krieg meine Familiengeschichte sehr. 
In meinem Freiwilligendienst setze ich mich dafür ein, dass Krieg und Gewalt nicht in Vergessenheit geraten, damit wir etwas lernen aus den Schicksalen derjenigen, die ihn erleben mussten, und in Zukunft in Frieden leben können.
(Beifall)