Betroffene und Expertinnen schildern die Situation von Careleavern
Zeit:
Mittwoch, 3. Dezember 2025,
18
bis 19.30 Uhr
Ort: Berlin, Paul-Löbe-Haus, Sitzungssaal 2.200
Jugendliche, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufgewachsen sind, erhalten an der Schwelle zu einem selbstbestimmten Erwachsenenleben häufig keine angemessene Unterstützung, erfahren gesellschaftliche Stigmatisierung und einen würdelosen Umgang durch die Behörden, stellten Betroffene und Expertinnen in einem Fachgespräch der Kinderkommission am Mittwoch, 3. Dezember 2025, fest.
Passgenaue Hilfsangebote gefordert
Um die Jugendhilfe zu einem lebenswerten und stärker an der Realität orientierten System zu machen, müssten passgenauere Hilfsangebote, eine bessere Finanzierung und Unterstützung von Fachkräften in einer gesetzlichen Neufassung der Jugendhilfe ebenso verankert werden wie ein eigener rechtlicher Status von „Careleavern“, waren sich die Sachverständigen in der Sitzung unter der Überschrift „Blinde Flecken (1. Teil) – Careleaver – Volljährig, aber nicht bereit? Jugendliche aus Pflegefamilien und Heimen am Übergang in die Selbstständigkeit“ einig.
Außerdem wünschten die Sachverständigen mehr Unterstützung für die Selbstvertretung der Betroffenen und mahnten, die Umsetzung der bereits geltenden gesetzlichen Vorgaben durch Ämter und Trägerorganisationen in den Kommunen sicherzustellen. Erfolgreiche Careleaver sollten öffentlich über ihre Geschichte sprechen, um als Vorbilder Betroffenen Hoffnung zu geben.
„Unabhängige Ombudsstellen ausbauen“
Von Careleavern, also Schutzbefohlenen, die in einer Einrichtung der Jugendhilfe oder bei Pflegeeltern aufgewachsen sind, werde, trotz ihrer schwierigeren Startbedingungen, früher Selbstständigkeit erwartet als bei Jugendlichen im Durchschnitt üblich, nämlich bereits im Alter zwischen 18 und 21, statt mit 24, sagte Laura Monath vom Verein Careleaver, in dem sich Menschen zusammengeschlossen haben, die in stationärer Jugendhilfe, in Wohngruppen oder Pflegefamilien, aufgewachsen sind.
Um jugendliche Careleaver über ihre Rechte aufzuklären und ihre Interessen gegenüber dem Jugendamt wahrzunehmen, gelte es unabhängige Ombudsleute, als Beratungs- und Beschwerdestellen, an die sich junge Menschen in der Jugendhilfe wenden können, auszubauen. Dabei sei es auch Aufgabe der Jugendämter, die jungen Menschen zu beraten. Fehlende Mitwirkung aufgrund allzu hoher bürokratischer Hürden dürfe nicht als Vorwurf für die Einstellung der Hilfe gelten. Die Hilfsangebote sollten vielmehr aktiv mitgestaltet werden können. Paragraf 41a des Achten Sozialgesetzbuches (SGB VIII), der die Nachbetreuung sichern soll, müsse „konsequent angeboten und umgesetzt“ werden, forderte Monath.
Verein für eigenen Rechtsstatus der Careleaver
Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenleben stelle eine der sensibelsten und prägendsten Phasen des menschlichen Lebens dar, sagte Vicky Ulrich-von der Weth (ebenfalls Careleaver). Immer neue Behördenkontakte bedeuteten dabei für die Jugendlichen eine hohe psychische und bürokratische Belastung, wenn die eigene Geschichte immer wieder vorgetragen werden und die Herkunftsfamilie für Beantragungen immer wieder kontaktiert werden müsse. Viele resignierten daher, versuchten auf eigenen Beinen zu stehen und rutschten in Armut. Ihr Verein kämpfe für einen eigenen Rechtsstatus der Careleaver, was vieles erleichtern würde.
Pflegekinder – mit den unterschiedlichsten, individuellen Biografien – würden in ein System geworfen, in dem sie einfach nur versuchten zu überleben. Viel mehr als ihre Gleichaltrigen würden sie mit Existenzängsten aufwachsen. Der Sparzwang der Kommunen werde zudem direkt an sie weitergegeben. Dabei müsse es zur Chancengerechtigkeit gehören, dass Pflegekinder wie andere Jugendliche und junge Erwachsene auch, die Möglichkeit hätten, bis zum Alter von 27 bei Bedarf in die Jugendhilfe zurückzukehren. Es brauche inklusivere, realitätsnähere und niedrigschwelligere Hilfen und mehr Beratungsangebote. Mit der Selbstvertretung hätten sich die Betroffenen eine Community aufgebaut, „wo wir uns wohlfühlen und füreinander da sind“. Die gelte es gesetzlich weiter zu verankern und zu fördern.
Konzept der Wohnungsnotfallhilfe
Für 18-, 19-, 20-jährige, junge Menschen an der Schnittstelle zum Erwachsenenleben, die aus der Jugendhilfe kommen, habe man das Konzept der Wohnungsnotfallhilfe entwickelt, berichteten Josefine Berning und Josephine Porth von der Sozdia Stiftung Berlin. Sie ziele darauf, die jungen Leute beim Übergang in ein eigenständiges Leben zu unterstützten und biete einen geschützten Rahmen, in dem diese auch noch mal Fehler machen dürften. Problematisch sei, dass die Leistungen der Jugendhilfe häufig ab Vollendung des 21. Lebensjahres nicht mehr gewährt würden, dabei erlaube die gesetzliche Norm Jugendhilfe bis zum 27. Lebensjahr.
Eine massive Versorgungslücke tue sich da auf und die jungen Leute würden in instabile Lebensverhältnisse, geprägt von Mittellosigkeit und Obdachlosigkeit, gestürzt, berichtete Berning. Sie fielen aus der Jugendhilfe des SGB 8, müssten theoretisch vom Sozialamt Hilfe erhalten, würden jedoch häufig von einer Behörde zur nächsten geschickt. Man helfe den Jugendlichen angesichts dieser Systemfehler und individueller Überforderung, ihre Rechte durchzusetzen, Zuständigkeiten zu klären, Wohnraum zu finden. Überlasse man die Jugendlichen sich selbst, drohe eine dauerhafte Abhängigkeit von Hilfesystemen. Die Gesellschaft habe dann die Folgekosten zu tragen.
Expertin fordert ein „inklusives SGB VIII“
Welche Bedeutung die physische und psychische Gesundheit für die jungen Careleaver an der Schwelle zur Selbstständigkeit hat, darauf wies Laurette Rasch von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen hin. Unterstützungsinstrumente wie sie etwa mit dem „Netzwerk Frühe Hilfen“ für die Kleinkindphase und das Grundschulalter existierten, müssten für den Bereich des Jugendalters ausgebaut werden. Es gebe viele schreckliche Gründe warum junge Menschen ihre Kindheit in Einrichtungen verbrächten, dazu gehörten auch Gewalt und gesundheitliche Probleme in der Familie, bei den Eltern.
Die Jugendlichen trügen diese Belastungen mit sich durch ihr Leben. Man müsse ihnen an der Schwelle zum Erwachsenendasein „mehr Zeit geben, das aufzufangen“, und um das, was im Gesetz steht, auch umzusetzen, statt sie mit 18 vor die Tür zu setzen und sie mit dem Gefühl des Versagens allein zu lassen. Auf gesetzlicher Ebene gehe es darum, „ein inklusives SGB VIII“ zu schaffen, das den jungen Leuten bestmögliche Bedingungen des Aufwachsens eröffne, mit „rücksichtsvollen, leicht gemachten“ Angeboten. Daran müssten diese, die die Angebote nutzen und am besten wüssten, wie sie funktionieren, auch beteiligt werden, forderte die Sozialwissenschaftlerin. (ll/04.12.2025)