Tobias Winkler: Über die Köpfe der Ukraine darf nicht hinweg verhandelt werden

Tobias Winkler (CDU/CSU) leitet die deutsche Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (© picture alliance / dts-Agentur)
Wir brauchen das Völkerrecht und den Multilateralismus als internationalen Ordnungsrahmen mehr denn je, sagt Tobias Winkler (CDU/CSU), Leiter der deutschen Delegation zur Parlamentarischen Versammlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE PV), die vom 17. bis 19. November 2025 zu ihrer Herbsttagung in Istanbul zusammenkam. In schwierigen Zeiten müsse man auf Organisationen wie die OSZE bauen, die dies, als Plattform des Dialogs, verkörperten.
Auch Russland sitze dort weiterhin am Tisch, „der russische Vertreter kann jederzeit aufstehen und sagen: Wir beenden den Angriffskrieg.“ Im Interview spricht der Außenpolitiker aus Fürth über die Themen der Tagung, die Türkei als wichtigen strategischen Partner, eine tragende Rolle der OSZE in einer Nachkriegsordnung in der Ukraine und macht klar: „Es darf nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg verhandelt werden.“ Das Interview im Wortlaut:
Herr Winkler, die Herbsttagung fand unter der Überschrift „50 Jahre OSZE: Multilateralismus wiederbeleben durch Dialog und Kooperation“ statt. Die KSZE/OSZE (Konferenz/Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) konnte im Kalten Krieg dem Aufeinanderprallen der Großmachtinteressen etwas allgemein Akzeptiertes, Regelhaftes entgegensetzen. Ist es das, was momentan in der Weltpolitik fehlt, oder ist es derzeit völlig realitätsfremd, das Konzept des Multilateralismus, oder auch nur die Achtung des Völkerrechts, einzufordern?
Auch wenn es so offensichtlich gebrochen wird wie jetzt von Russland in der Ukraine: Wir brauchen das Völkerrecht und den Multilateralismus als internationalen Ordnungsrahmen mehr denn je. Und es ist gut, dass wir über Institutionen verfügen, die das verkörpern. Institutionen sind nicht für die guten, sondern für die schwierigen Zeiten gedacht. Im Kern geht es dabei immer um die Würde des Menschen. Dies ist für mich Ausgangspunkt aller Politik. Man sollte die Institutionen nutzen und deren Prinzipien einfordern, um das Leben der Menschen zu verbessern und der Menschheit eine gute Zukunft zu ermöglichen. Dazu ist es notwendig, dass sich alle Staaten an die selbst gegebenen Regeln halten. Die Regeln zu brechen, darf nicht ohne Konsequenzen bleiben. Von Russland ist jedes der zehn Prinzipien von Helsinki, die die Souveränität von Staaten garantieren, gebrochen worden. Die allergrößte Mehrheit der OSZE-Teilnehmerstaaten verurteilt ganz klar diesen Rechtsbruch.
Erfüllt die OSZE nicht mehr die Aufgaben, die ihr einst zugedacht wurden?
Die Rolle der Organisation hat sich, seit ihrer Gründung als KSZE, mehrfach gewandelt. Die Welt und die internationale Ordnung hat sich in den letzten 50 Jahren stark verändert. Aus der Brücke zwischen Ost und West, der Sowjetunion und dem Westen, als die die KSZE/OSZE einst geschaffen wurde, hat sich die Organisation zu einem breiten multilateralen Forum entwickelt, dem heute weit mehr als die damaligen Gründerstaaten, nämlich 57 Länder, angehören. Wir haben damit heute ein starkes Forum, das Gespräche und Vermittlung zwischen all seinen Teilnehmern ermöglicht. Russland sitzt hier weiterhin mit am Tisch, auch wenn uns immer wieder Isolierung vorgeworfen wird. Im Rahmen der OSZE finden wöchentliche Treffen auf Botschafterebene statt. Jederzeit kann dort der russische Vertreter aufstehen und sagen: Wir beenden den Angriffskrieg. Ihren ursprünglichen Zweck, eine Plattform des Dialogs zu sein, erfüllt die OSZE somit nach wie vor.
Um die Grundwerte der OSZE – Vertrauensbildung, Dialog und Ausgleich, einen regelbasierten Handel – ging es auch in weiteren Sitzungen der diesjährigen Herbsttagung. Wie ist derzeit die Stimmung unter den Parlamentariern angesichts der Krisen und Kriege rund um Europa und der globalen Spannungen: Kann sich die Versammlung irgendwie positionieren, um zur Konfliktbeilegung beizutragen?
Während der Herbsttagung wird die Versammlung vor allem ihrer Rolle als Diskussionsplattform gerecht, während es bei der Jahrestagung im Sommer darum geht, gemeinsame Positionen zu erarbeiten und zu verabschieden. Aber es wurde natürlich jetzt auch über Russland und die Ukraine gesprochen. So sind wir beispielsweise nach wie vor in Sorge um das Schicksal von drei OSZE-Mitarbeitern, die von Russland 2022 entführt und inhaftiert beziehungsweise ins Arbeitslager geschickt worden sind. Momentan bemühen wir uns in der Versammlung darum, Gesprächsfäden nicht abreißen zu lassen, und dabei den Prinzipien treu zu bleiben, die wir uns alle gegeben haben, und die vor dem Machtmissbrauch einzelner Regierungen schützen sollen.
Die Aufregung um das 28-Punkte-Papier zur Ukraine fällt in die Tage nach der Konferenz. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine war aber sicher auch ein Topthema in Istanbul. Lässt sich die aktuelle Eskalation irgendwie mit den Prinzipien und Mechanismen der OSZE einfangen?
Das 28-Punkte-Papier, was oft fälschlicherweise als Friedensplan bezeichnet wird und dessen Zustandekommen und Veröffentlichungen als kurios bezeichnet werden können, war ein Bruch mit den Prinzipien staatlicher Souveränität, also den Prinzipien, die sich die OSZE gegeben hat. Die Belohnung von Krieg und die Entscheidung über die Regierung des angegriffenen Landes hinweg können kein Ausgangspunkt für einen dauerhaften Frieden sein. Dort wurde vielmehr eine Kapitulation der Ukraine skizziert. Mit den Veränderungen, die mithilfe der Ukrainer und der Europäer in Genf erzielt werden konnten, kommen die Forderungen einer realistischen Lösung sehr viel näher. Die Mitglieder der Versammlung haben auch während der Tagung in Istanbul immer wieder betont: Es darf nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg verhandelt werden, sondern diese müssen bei Verhandlungen mit am Tisch sitzen. Für die OSZE sehen wir in einer wie auch immer gearteten Nachkriegsordnung eine tragende Rolle, bei der Friedenssicherung – nicht mit militärischen Kräften, sondern beim Monitoring, der Waffenkontrolle, der rechtlichen Aufarbeitung oder der Unterstützung beim Aufbau akzeptierter Strukturen zur Streitbeilegung als Ausgangspunkt einer zivilen Aussöhnung.
Welche Rolle spielte das Gastgeberland Türkei, das auf eine geopolitisch gewachsene Rolle verweisen kann?
Die Türkei hat sich in Istanbul als ausgezeichneter Gastgeber präsentiert. Vom Tagungszentrum, über die Organisation und die inhaltlichen Beiträge wurde überall der Wille deutlich, als internationaler Konferenzort zu überzeugen. Die Türkei hat auch mit dieser Tagung ihr Selbstverständnis als Bühne und Akteur internationaler Verhandlungen unterstrichen, nicht nur als Brücke zwischen dem Westen und der arabischen Welt. Der eigene Anspruch ist in den letzten Jahren stark gewachsen und es wurde zurecht immer wieder auf die Erfolge beim Getreideabkommen für die Ukraine oder dem Austausch von Kriegsgefangenen verwiesen.
Müssen sich Deutschland und die EU, trotz des autoritären Regierungsstils von Präsident Erdoğan, stärker um die Türkei bemühen?
Die Türkei ist ein wichtiger strategischer Partner, als Nato-Mitglied, als Partner der EU, aber aus deutscher Perspektive auch bei der Kooperation in Kultur und Wirtschaft. Deutschland und die Türkei verbindet eine jahrzehntelange enge Partnerschaft, die Länder und Völker sind eng verwoben. Diese stabile Beziehung hält einiges aus. Mit dem wiedergefundenen Ansatz der interessengeleiteten Außenpolitik, muss es künftig besser möglich sein, in einigen Bereichen eng zusammenzuarbeiten und in anderen Bereich unterschiedlicher Auffassung zu bleiben. Selbstverständlich muss die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien angesprochen werden, wie die Menschenrechtslage, die Medienfreiheit oder der Umgang mit dem politischen Gegner. Moralische Außenpolitik mit dem erhobenen Zeigefinger hat nichts bewirkt. Vielmehr gilt: Nur wenn wir Vertrauen aufbauen, können wir auch dazu beitragen, die Lage der Menschen in anderen Ländern zu verbessern. Angesichts der Alternativen auf der Welt ist kaum ein Land mehr auf uns angewiesen, deshalb muss immer zuerst eine Verbindung aufgebaut werden. Kritik üben kann immer erst der zweite Schritt sein.
Wie haben die Parlamentarier den von den USA ausgehandelten Friedensplan für Gaza aufgenommen? Gibt es Ideen wie sich dort die unterschiedlichen Interessen ausgleichen, der Frieden und das internationale Recht sichern lassen?
An diesem Punkt lässt sich zeigen, dass sich die Versammlung wieder stärker auf ihre Kernaufgaben konzentrieren will. Die Lage in Nahost hat zweifellos große Auswirkungen auf einzelne Staaten und die Welt insgesamt. Dennoch ist die OSZE mit ihren 57 Teilnehmern in erster Linie eine regionale Sicherheitsorganisation mit wenig Einfluss außerhalb des eigenen Gebiets. Es ist schon schwer genug innerhalb der eigenen Grenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit zu sorgen. Eine Zuständigkeit lässt sich aus dem Auftrag der OSZE nicht ableiten und wir verfügen auch nicht über die notwendigen Instrumente für ein wirksames Engagement. Den Vorschlag zur Einrichtung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe haben wir vergangene Woche folgerichtig mit großer Mehrheit abgelehnt. Es bleibt eine der entscheidenden Fragen der internationalen Außen- und Sicherheitspolitik, der Region und den Menschen Stabilität und eine friedliche Zukunft zu ermöglichen, doch es wäre unredlich, hier der OSZE eine tragende Rolle beizumessen. Unser Beitrag sollte vielmehr darin liegen, die eigenen Probleme zu lösen und damit einige der wichtigen Akteure vor Ort zu entlasten.
In welchen Konflikten agiert die OSZE derzeit erfolgreich?
Die OSZE agiert oft unter dem Radar deutscher Medien, beispielsweise mit den Stabilisierungsmissionen auf dem Balkan, wo die Kräfte der OSZE sehr wertgeschätzt werden. Auch am Zustandekommen des Friedensabkommens zwischen Armenien und Aserbaidschan, das US-Präsident Trump als seinen Erfolg proklamiert, hat die OSZE großen Anteil. Auch das Grenzabkommen zwischen Kirgisistan und Tadschikistan wurde von der OSZE maßgeblich mitverhandelt. In der gesamten OSZE-Welt, also potenziell in allen 57 Teilnehmerstaaten, sind die Organisation und die Versammlung immer wieder als glaubwürdige Akteure im Einsatz: ob bei Stabilisierungsmissionen und Grenzfragen, bei der Proliferationskontrolle, wenn es darum geht Waffenarsenale abzurüsten, oder als unabhängige Wahlbeobachter, die feststellen, wie sich die Demokratie in einzelnen Ländern entwickelt.
Was hat die Parlamentarier während der Tagung noch beschäftigt?
Wir haben zum Beispiel über die bedauerliche Entwicklung der politischen Lage in Georgien gesprochen. Wir haben zuletzt die Wahlen beobachtet und nicht nur dort die Abwendung von demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien beobachten müssen. Wir behalten aber auch andere Teilnehmerstaaten im Blick und setzen gegebenenfalls die Instrumente der Versammlung ein, wenn die regelbasierte internationale Ordnung bedroht ist. Diese Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung kommen dabei nicht immer nur von politischen Akteuren. So haben wir uns beispielsweise mit den Auswirkungen der alternden Gesellschaft in westlichen Demokratien oder dem Einfluss von Angriffen auf kritische Infrastruktur befasst. Thematisiert wurde auch der zunehmende Einsatz von strategischer Desinformation oder der Kampf gegen den Klimawandel beziehungsweise der Umgang mit dessen Folgen.
Bei der Sommertagung hat die Versammlung die Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag der OSZE begangen. Hat man sich jetzt also wieder der Sacharbeit, der Konfliktlösung in und um Europa zugewandt?
Es war richtig, das Jubiläum zum Anlass zu nehmen, an die Erfolgsgeschichte der OSZE zu erinnern, sich auf die gemeinsamen zehn Prinzipien zu besinnen und sich wieder der Kernaufgaben zu vergewissern. Wir haben im Juli Einigkeit darüber erzielt, dass wir als Versammlung und Organisation unseren Wurzeln treu bleiben und uns nicht thematisch oder regional verzetteln sollten. Das bedeutet, dass wir uns als Plattform des Dialogs für Herausforderungen und Probleme in Europa verstehen. Diese Klärung war wichtig. Von diesem Geist, das konnte man überall während der Konferenz in Istanbul spüren, wird nun unsere Zusammenarbeit getragen.
Herr Winkler, kürzlich sind Sie von den Mitgliedern der Delegation zum Delegationsleiter für diese Legislaturperiode gewählt worden. Was ist Ihnen für Ihre Arbeit in der Versammlung wichtig?
Wir müssen die internationalen Organisationen ernst nehmen. Unsere Arbeit als Parlamentarier in Versammlungen wie der OSZE PV ist ein wichtiges Instrument deutscher Außenpolitik. Der Wert unserer Arbeit dort besteht darin, Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit anderen Ländern aufzutun, Brücken zu bauen oder zu erhalten, als verlässlicher Partner aufzutreten und Vertrauen aufzubauen. Gemeinsam mit anderen starken Ländern, wie den USA, aber auch Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder Italien treten wir auch den Teilnehmern auf Augenhöhe entgegen, die in einer Welt, in der das Recht des Stärkeren gilt, nicht gehört würden. Hier hat die deutsche Delegation als Ganzes, über Parteigrenzen hinweg, eine wichtige Verantwortung im Interesse unseres Landes.
(ll/01.12.2025)