Parlament

Wolfgang Schäuble appelliert an Abgeordnete: Müssen Gemein­wohl im Blick behalten

Das Amt des Alterspräsidenten ist parlamentarische Tradition und Teil der Geschäftsordnung des Bundestages. Ein Amt von hoher Würde, aber nur von kurzer Dauer. Es hat sich nach traditioneller Praxis mit der Wahl des neuen Bundestagspräsidenten erschöpft. Obwohl er nicht in sein Amt gewählt wird, ist es anerkannte Tradition, dass der Alterspräsident die erste Rede vor dem Plenum hält. Bisher haben alle Alterspräsidenten der Bundesrepublik von dieser Tradition Gebrauch gemacht und dabei eigene Akzente gesetzt.

2021: Dr. Wolfgang Schäuble eröffnet die konstituierende Sitzung des 20. Deutschen Bundestages am 26. Oktober. Und wer wäre besser geeignet? Er ist der dienstälteste Abgeordnete der deutschen Parlamentsgeschichte. Für den damals 79-jährigen „Parlamentarier aus Leidenschaft“, wie er selbst sagt, ist es bereits die 14. Legislaturperiode. Seit 1972 gehört der stets direkt gewählte CDU/CSU-Abgeordnete des Wahlkreises Offenburg dem Deutschen Bundestag an, so lange wie kein anderer Abgeordneter. In dieser Zeit hat der promovierte Jurist und Wirtschaftswissenschaftler nicht nur eine Vielzahl politischer Ämter inne, er kennt die parlamentarische Arbeit auch aus so ziemlich jeder Perspektive.

Verhandler der deutschen Einheit

1981 wird Schäuble Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 1984 wechselt er als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes ins Kabinett von Dr. Helmut Kohl (1930-2017, CDU) und übernimmt 1989 das Bundesministerium des Innern. Als Innenminister leitet er im Sommer 1990 für die Bundesregierung die Verhandlungen mit der Regierung der DDR über den deutsch-deutschen Einigungsvertrag, an dessen Aushandlung er maßgeblich beteiligt ist. Auch seine Rede in der Berlin-Bonn-Debatte am 20. Juni 1991 gilt vielen als ausschlaggebend für den Umzugsbeschluss des Bundestages.

Im folgenden Wahlkampf zur ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl wird Schäuble am 12. Oktober 1990 von einem geistig Verwirrten angeschossen. Der Vater von vier Kindern überlebt schwer verletzt. Vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt, sitzt er seitdem im Rollstuhl. An der konstituierenden Sitzung des ersten gesamtdeutschen Bundestages im Reichstagsgebäude in Berlin am 20. Dezember 1990 kann er nicht teilnehmen. Erst zur Wahl des Bundeskanzlers am 17. Januar 1991 ist er wieder dabei. Die Politik hilft ihm, wie er später einmal resümiert, über das, was er einen Unfall nennt, hinweg.

Fraktionsvorsitzender, Innenminister, Finanzminister

Bis November 1991 bleibt Schäuble auch im neuen Kabinett Kohls Innenminister, bevor er 1991 den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion übernimmt. 1998 kommt auch der Vorsitz der CDU Deutschlands hinzu. Nach Bekanntwerden der CDU-Spendenaffäre kündigt er im Februar 2000 an, nicht erneut als Partei- und Fraktionsvorsitzender zu kandidieren, bleibt aber bis 2021 Mitglied des Präsidiums der CDU Deutschlands.

Von 2002 bis 2005 ist Schäuble als stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion für Außen-, Sicherheits- und Europapolitik zuständig. 2005 beruft ihn die damalige Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (CDU) erneut als Bundesinnenminister. Von 2009 bis zum Ende der 18. Wahlperiode im Jahr 2017 ist er Bundesminister der Finanzen.

Vom Bundestagspräsidenten zum Alterspräsidenten

In der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages, am 24. Oktober 2017, wird Wolfgang Schäuble, gewissermaßen als logische Konsequenz eines langen Parlamentarierlebens, von den Abgeordneten in das zweithöchste Amt der Bundesrepublik gewählt: das des Bundestagspräsidenten.

Gerne hätte er dieses Amt weitere vier Jahre ausgeübt, doch den Präsidenten oder die Präsidentin des Bundestages stellt traditionell die größte Fraktion – und das ist in der 20. Wahlperiode die SPD. So fällt dem scheidenden Bundestagspräsidenten als dienstältestem Abgeordneten ein weiteres Amt zu: das des Alterspräsidenten.  

Eröffnungsrede als Alterspräsident

Doch zunächst einmal lehnen die Abgeordneten einen Antrag der AfD-Fraktion ab, nach dem das älteste Mitglied des Bundestages die konstituierende Sitzung eröffnen solle. Älter als der damals 79-jährige Schäuble sind im neuen Bundestag nur die beiden AfD-Abgeordneten Alexander Gauland (80) und Albrecht Glaser (79). Damit verbleibt es dabei, dass, wie bereits 2017, nach Paragraf 1 Absatz 2 der Geschäftsordnung das am längsten dem Bundestag angehörende Mitglied den Vorsitz übernimmt.

In seiner Eröffnungsrede mahnt der Alterspräsident dringend eine Änderung des Wahlrechts an. Sie dulde ersichtlich keinen Aufschub, so Schäuble. Mit 736 Abgeordneten ist es erneut die bisher größte Volksvertretung in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Idealfall wären es 598 Parlamentarier, die im Halbrund des Plenarsaals sitzen. Durch das personalisierte Verhältniswahlrecht mit Erst- und Zweitstimme, Überhangs- und Ausgleichsmandaten sind gegenüber der vergangenen Legislaturperiode noch einmal 27 Abgeordnetenmandate hinzugekommen – ein erneuter Rekord.

„Eine persönlich bittere Erfahrung“

Zwar hatte die Große Koalition in der vergangenen Legislaturperiode Änderungen beschlossen. Diese verhinderte aber nicht, dass die Zahl der Abgeordneten weiter anstieg. Eine Wahlrechtsreform, die ihren Namen verdient, sei allerdings keinen Deut leichter geworden, konstatiert Schäuble. 

Er macht keinen Hehl daraus, dass es für ihn eine „persönlich bittere Erfahrung“ gewesen sei, dass sich der Bundestag unter seiner Präsidentschaft nicht auf eine große Reform einigen konnte. Seinem Verständnis nach sollte „bei einer Entscheidung dieser Tragweite eigentlich keine politische Kraft im Parlament aus der Mitverantwortung für eine tragfähige Lösung entlassen werden“.

„Den inneren Kompass nicht verlieren“

Wie viele seiner Amtsvorgänger nutzt auch Schäuble die Gelegenheit zu grundsätzlichen Ausführungen zum parlamentarischen Miteinander und fordert eine offene Debattenkultur mit Vorbildcharakter. Das Parlament sei „der Ort, an dem wir streiten dürfen, an dem wir streiten sollen“, so der Alterspräsident und ergänzt „aber fair und nach Regeln, leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann“.

Den neuen Abgeordneten im Parlament gibt Schäuble mit auf den Weg, bei allem politischen Elan „das Private zu schützen“. Zuhören können, den inneren Kompass nicht verlieren, sich in Kollegialität und Fairness üben und den Sinn dafür bewahren, was anständig und was unanständig ist: „Früher hätte man gesagt: Was sich gehört und was nicht.“

„Wir alle repräsentieren als Abgeordnete das Volk“

Darüber hinaus erinnert er die Abgeordneten daran, bei allen „legitimen Interessen unserer Wähler und Parteien“ immer auch das Gemeinwohl im Blick zu behalten. „Wir alle repräsentieren als Abgeordnete das Volk“, so der Alterspräsident während seiner Rede. „Als gewählte Repräsentanten vertreten wir die Repräsentierten nicht durch unsere Person, sondern durch unsere Politik. Durch sie sollten alle Menschen politisch Gehör finden.“

„Der Bundestag bündelt Interessen, und er trägt damit Verantwortung für den Zusammenhalt in unserem Land. Deshalb sollten wir uns immer wieder selbst hinterfragen, ob wir, ob unsere Parteien der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen und auch ob die Erwartung der Bevölkerung, an Gestaltungsprozessen selbst teilhaben zu können, ausreichend erfüllt wird.“

Plädoyer für ein „selbstbewusstes Parlament“

Schäuble appelliert zudem an den neuen Bundestag, sich intensiv mit den Vorteilen und Grenzen der Bürgerbeteiligung durch Bürgerräte zu befassen. Mehr Mitsprache heiße aber nicht automatisch mehr Partizipation und mehr Akzeptanz für die Entscheidungen der Parlamente.

Der repräsentativen Demokratie gelinge es nicht nur, mobilisierbare Interessen zu vertreten, sondern auch widerstreitende Interessen auszugleichen. Dazu braucht es „ein selbstbewusstes Parlament, und es braucht selbstbewusste Parlamentarier“ (klz/19.10.2022)

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