Parlament

Die Rolle des Reichstages in der Hyper­inflations­krise II – Die Regierung Marx

Wilhelm Marx und sein Kabinett, von links nach rechts: Heinrich Brauns, G. Stresemann, W. Marx, Oskar Hergt, Otto Gessler; stehend von links: Wilhelm Koch, W. v. Keudell, Georg Schätzel, M. Schiele, J. Curtius.- Foto, 2. Februar 1927.

Wilhelm Marx und sein Kabinett, von links nach rechts: Heinrich Brauns, G. Stresemann, W. Marx, Oskar Hergt, Otto Gessler; stehend von links: Wilhelm Koch, W. v. Keudell, Georg Schätzel, M. Schiele, J. Curtius.- Foto, 2. Februar 1927. (picture-alliance / akg-images)

Die Bildung des Minderheitskabinetts Marx und das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923

Nach langwierigen Verhandlungen kam es am 30. November 1923 zur Bildung eines bürgerlichen Minderheitskabinetts aus Zentrum, DDP und DVP unter dem neuen Reichskanzler Wilhelm Marx (Zentrum), das auf die fallweise Unterstützung durch die SPD und/oder DNVP die angewiesen war. Da die Währungsstabilisierung weiterhin einen hohen Regelungsbedarf erforderte, eine parlamentarische Mehrheit für legislative Vorhaben im Reichstag aber extrem unsicher war, erstrebte die Regierung Marx von Beginn an ein mit weitgehenden Vollmachten ausgestattetes neues Ermächtigungsgesetz.

„Angesichts des ungeheuren Zwanges der Zeit“, erklärte Marx in seiner Regierungserklärung zur Vorstellung seines Kabinetts im Reichstag am 4. Dezember 1923, seien „langwierige Verhandlungen im Reichstage, wie sie die Beratung einschneidender Gesetze erfordern würde, nicht wünschenswert, ja geradezu unerträglich“. Die Regierung verkenne nicht, dass durch die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz „der Reichstag auf wichtige Rechte einer demokratischen Staatsverfassung zeitweilig wenigstens verzichte“. Sie appelliere aber „an die Vaterlandsliebe und das Pflichtgefühl der Volksvertreter […] in schwerer Zeit einer Regierung, die glaubt, auf die Zustimmung weiter Kreise der Volksvertretung rechnen zu dürfen, außergewöhnliche Vollmachten zu geben“.

Wahlplakat für den ehemaligen und späteren Reichskanzler Wilhelm Marx, Zentrum, Reichspräsidentenwahl 1925

Wahlplakat für den ehemaligen und späteren Reichskanzler Wilhelm Marx, Zentrum, Reichspräsidentenwahl 1925 (Bundesarchiv, Plak 002-014-006 (Grafiker: Hans Schwartz))

Umfassendes Verordnungsregime bei minimaler parlamentarischer Kontrolle

Inhaltlich war die neue Ermächtigungsvorlage noch unverbindlicher gefasst als das auf finanzielle, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen beschränkte Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober. Die einzige materielle Begrenzung bestand darin, dass die getroffenen Maßnahmen nicht erneut von der Reichsverfassung abweichen durften. Die für die Zweidrittelmehrheit notwendige Zustimmung der nicht mehr im Kabinett vertretenen SPD erlangte die Regierung Marx, nachdem sie der Einsetzung eines fünfzehnköpfigen Sonderausschusses des Reichstages zugesagt hatte, dem ein Anhörungsrecht vor Erlass der Verordnungen zugestanden wurde. Ausschlaggebend für die intern heftig umstrittene Zustimmung der SPD-Fraktion waren u. a. die Sorge um die Stabilität der gerade erst eingeführten Rentenmark sowie die Furcht vor innenpolitischem Chaos durch eine mögliche Reichstagsauflösung. Letztlich stimmte der Reichstag am 8. Dezember 1923 dem neuen Ermächtigungsgesetz mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zu. Es folgte eine bis zum 20. Februar 1924 andauernde Fortsetzung der nahezu vollständigen Suspendierung der parlamentarischen Tätigkeit, die sich in dieser Zeit fast ausschließlich auf den Fünfzehner-Sonderausschuss beschränkte.

68 Verordnungen auf Grundlage des zweiten Ermächtigungsgesetzes

Bis zum 14. Februar 1924 wurden auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes insgesamt 68 zum Teil sehr umfangreiche Verordnungen erlassen. Es handelte sich zum einen um sozial- und finanzpolitische Verordnungen, die im weitesten Sinne der Neuordnung des Währungssystems einschließlich notwendiger Einsparungen und Einnahmeverbesserungen dienten. Im Mittelpunkt der Stabilisierungspolitik standen die zweite und dritte „Steuernotverordnung“ vom 19. Dezember 1923 und 14. Februar 1924, die der Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Steuersystems dienen und zu einer Neufestlegung diverser Steuern und einer erheblichen Steuermehrbelastung breiter Bevölkerungsschichten führen sollten. Die Reichsschuldenordnung vom 13. Februar 1924 regelte zudem die Kreditaufnahme für das Reich neu. Die Verordnung über die Arbeitszeit vom 21. Dezember 1923 sah zwar eine grundsätzliche Beibehaltung des Achtstundentages vor – allerdings mit der Möglichkeit weitgehender Ausnahmen aufgrund tariflicher Vereinbarungen oder behördlicher Anordnungen.

„Ornamentale“ Kontrolltätigkeit des Reichstages

Die Ministerien nutzten das Ermächtigungsgesetz auch dazu, bereits länger geplante Projekte auf schnellem Wege umzusetzen, die kaum etwas mit der im Gesetz genannten Behebung der „Not von Volk und Reich“ zu tun hatten, aber dafür langfristige Folgen hatten, so u.a. verschiedene Verordnungen zur Justizreform, darunter eine Neuregelung des Prozesswesens, sowie die bis 1962 gültige Verordnung über das Fürsorgewesen vom 13. Februar 1924. Der Fünfzehnerausschuss des Reichstages kam angesichts der Zahl und des Umfanges der Verordnungswürfe seiner Mitwirkungs- und Kontrolltätigkeit kaum nach. Der Weimarer Staatsrechtler Moritz Julius Bonn sprach in diesem Zusammenhang „von einer fast nur ornamentalen Kontrolle“ des Reichstages.

Auflösung des Reichstages und Neuwahl

Am 15. Februar 1924 endete die Gültigkeit des zweiten großen Ermächtigungsgesetzes der Weimarer Republik. Vier Wochen später, am 13. März 1924, erfolgte die vorzeitige Auflösung des Reichstages durch Reichspräsident Friedrich Ebert, da die Regierung die parlamentarische Aufhebung bzw. wesentliche Abänderung einiger auf dessen Grundlage erlassener Verordnungen fürchtete, die von SPD und DNVP gefordert wurden. Die im breiten Konsens der Parteien begonnene Ermächtigungspolitik führte am Ende der 1. Legislaturperiode zu einem Grundsatzkonflikt zwischen einer heterogenen Reichstagsmehrheit auf der einen und der Reichsregierung auf der anderen Seite.

Ansehensverlust des parlamentarischen Systems und Blaupause für dessen spätere Beseitigung

Aus Sicht des Historikers Thomas Raithel hat die Krise des Parlaments in der Inflationszeit in mehrfacher Hinsicht Weichen für die weitere Systementwicklung geschaffen. Die für die langfristige Stabilisierung der jungen parlamentarischen Demokratie notwendigen Erfolgserlebnisse seien in der Inflationszeit ausgeblieben. Neben dem zusätzlichen Ansehensverlust des parlamentarischen Systems in der Öffentlichkeit habe sich als langfristig fatal erwiesen, dass in den Jahren 1922 bis 1924 das konkrete Potenzial für eine von innen heraus erfolgende Überwindung der parlamentarischen Demokratie entfaltet wurde. Dieses sollte mit dem Übergang zu den Präsidialkabinetten ab 1930 sukzessive wirksam werden und im nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933 münden, das das Parlament als demokratische Institution sowie die Gewaltenteilung beseitigte. (WD 1, 12.10.2023)

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