Parlament

Die Rolle des Reichstages in der Hyper­inflations­krise I – Die Regierung Stresemann

Gustav Stresemann

Gustav Stresemann (© picture-alliance/ akg-images)

Während der Weimarer Parlamentarismus in Phasen der regulären Gesetzgebung seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellte, stieß er bei der Bekämpfung der Inflation in den Jahren 1923/24 an Grenzen. Die Folge war eine zeitweise „Entparlamentarisierung der Gesetzgebung“ (Thomas Raithel). Die zeitweise legislative Funktionsabgabe erfolgte dabei auf zwei Wegen: Zum einen kam es zur Duldung eines aus der Verfassung abgeleiteten Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten, zum anderen übertrug der Reichstag für bestimmte Bereiche und mit zeitlicher Befristung seine legislativen Rechte über Ermächtigungsgesetze an die Reichsregierung.

Präsidiale Notverordnungen auf Grundlage von Artikel 48

Bereits ab 1922 akzeptierte der Reichstag den Einsatz von Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung zum Erlass von präsidialen Rechtsverordnungen nahezu klaglos. Unter Reichspräsident Friedrich Ebert kam es ab Juni 1923 inflationsbedingt zu einer Ausweitung der Nutzung von Artikel 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, der dem Wortlaut eigentlich nur „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ dienen sollte, auf allgemeine politische Fragen, insbesondere im Bereich der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Dabei ging es aber nicht immer nur um kurzfristige Krisenmaßnahmen, sondern zum Teil auch um längerfristige Rechtssetzung.

Gesetzesvertretende Rechtsverordnungen durch Ermächtigungsgesetze

Eine zweite Form der legislativen Funktionsabgabe des Reichstages bildeten parlamentarische Ermächtigungen der Regierung zum Erlass gesetzesvertretender Rechtsverordnungen. Diese zeitlich befristete Delegierung der gesetzgebenden Gewalt durch den Reichstag für bestimmte Bereiche an die Exekutive war eine in der Verfassung zwar nicht vorgesehene, von der zeitgenössischen Staatsrechtlehre aber anerkannte zeitlich befristete Übertragung von Macht.

Waren die von der Weimarer Nationalversammlung und dem Reichstag verabschiedeten Ermächtigungen in der Frühphase der Weimarer Republik von 1919 bis 1921 auf spezifische Regelungen zur Abtretung Elsass-Lothringens, zur Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen und zu Fragen der Übergangswirtschaft beschränkt, erlangte die Reichsregierung 1923 infolge der sich zuspitzenden politischen und wirtschaftlichen Lage weit gefasste legislative Vollmachten durch den Reichstag. Den Anfang machte im Februar 1923 ein „Notgesetz“, das die Ermächtigung für noch relativ eng gefasste situationsbedingte Abwehrmaßnahmen der Regierung im Kontext des „Ruhrkampfes“ und der Hyperinflation enthielt. Die Verordnungen betrafen u. a. Ausfuhrbeschränkungen für lebenswichtige Gegenstände, Maßnahmen gegen Devisenspekulation und Preistreiberei, eine Rentenanpassung, die Verschiebung von Sozialwahlen sowie den Schutz der deutschen Gerichtsbarkeit gegen Einflüsse der Besatzungsmacht.

Regierungskrise und Rücktritt der Regierung Cuno

Die sich durch die Inflation zuspitzende wirtschaftliche und soziale Lage führte ab Sommer 1923 zu einem dramatischen Ansehensverlust der Regierung von Reichskanzler Wilhelm Cuno, zumal sein Kabinett über den einzuschlagenden Weg bei der Bekämpfung der Krise uneinig war und unentschlossen wirkte. Nachdem ein Stützungsversuch der Währung durch die Reichsbank scheiterte und Anfang August ein Streik in der Reichsdruckerei die weitere Geldversorgung infrage stellte, trat Cuno am 12. August als Reichskanzler zurück und kam damit einem drohenden Misstrauensvotum im Reichstag zuvor.

Bildung der Großen Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann

Gustav Stresemann / Foto 1928

Gustav Stresemann / Foto 1928 (© picture-alliance / akg-images)

Einen Tag später, am 13. August 1923, wurde das Kabinett der Großen Koalition bestehend aus dem Zentrum, der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), der Deutschen Volkspartei (DVP) und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) unter Reichskanzler Gustav Stresemann (DVP) gebildet, das in den folgenden Wochen den wirtschaftlich ruinösen Ruhrkampf beendete, die währungspolitische Neuordnung einleitete und die akute extremistische Bedrohung im Innern durch links- und rechtsextremistische Kräfte zurückdrängte.

Frühe Risse innerhalb der heterogenen Regierungsbündnisses

Die Regierung handelte dabei zunächst vor allem mit Hilfe von präsidialen Notverordnungen nach Artikel 48, später auf Grundlage des vom Reichstag beschlossenen Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923. Obwohl die neue Regierung numerisch über eine sehr große parlamentarische Mehrheit verfügte, spielte der Reichstag bei der Krisenbewältigung in den folgenden Monaten nur eine untergeordnete Rolle. Dies hing damit zusammen, dass die Risse innerhalb der heterogenen Regierungsbündnisses bereits unmittelbar nach dem Abbruch des passiven Widerstandes am 26. September 1923 offen zu Tage traten. Der rechte Flügel der DVP-Fraktion wollte die Währungsstabilisierung mit einer sozialpolitischen Kurswende, insbesondere mit der Aufhebung des von den Gewerkschaften in der Revolution von 1918 erstrittenen Achtstundentages, verknüpfen. Über den Streit, die Arbeitszeitfrage in das angestrebte Ermächtigungsgesetz einzubeziehen, zerbrach das erste Kabinett Gustav Stresemanns Anfang Oktober 1923.

Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923

Im Zuge der Sondierungen über eine erneute Regierungsbildung einigten sich die Parteien der bisherigen Großen Koalition schließlich auf eine Fortsetzung der Regierungszusammenarbeit in leicht veränderter personeller Zusammensetzung sowie auf die Verabschiedung eines breit gefassten finanz-, wirtschafts- und sozialpolitischen Ermächtigungsgesetzes unter Ausklammerung der Arbeitszeitfrage. Bei den Maßnahmen konnte von der Reichsverfassung abgewichen werden. Die Verordnungen waren dem Reichstag zur Kenntnis zu bringen und auf Verlangen des Parlaments aufzuheben. Befristet war diese parlamentarische Ermächtigung bis zum „Wechsel der derzeitigen Reichsregierung oder ihrer parteipolitischen Zusammensetzung“.

Gründe für die freiwillige Selbstausschaltung des Parlaments

Die aus heutiger Sicht überraschende, nahezu selbstverständliche Akzeptanz, die sowohl der legislative Einsatz des Artikels 48 sowie der beiden großen Ermächtigungsgesetze des Jahres 1923 fand, erklärt sich zum Teil aus dem spezifischen Parlamentarismusverständnis der damaligen Zeit, das wiederum auf die geringe Erfahrung mit dem erst 1918 eingeführten parlamentarischen Regierungssystem zurückgeführt wird. Bis hinein in die systemtragenden Parteien der Mitte herrschte das Ideal einer „über den Parteien“ stehenden Regierung vor, die zwar parlamentarisch verantwortlich ist, personell aber möglichst ohne unmittelbare Wirkung der Parteien gebildet werden und in ihrer Amtsführung weitgehend unabhängig agieren können sollte.

Reichstagsdebatte zum Ermächtigungsgesetz

Gerade in Notzeiten habe sich der Reichstag einer handlungsstarken Regierung unterzuordnen, lautete das weit verbreitete Credo, das auch bei den Beratungen des Gesetzentwurfes zum Ermächtigungsgesetz im Parlament deutlich wurde. So erklärte Reichskanzler Gustav Stresemann bei seiner Regierungserklärung am 6. Oktober 1923 im Reichstag: „Wir haben eine große Anzahl von Maßnahmen in Aussicht genommen. Das geht nicht mit dem parlamentarischen Apparat, so wie er aufgezogen ist. Deshalb wenden wir uns an Sie um entsprechende Ermächtigung für die Lösung der finanziellen und wirtschaftlichen Fragen.“

Auch der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid konstatierte in der Aussprache zur Regierungserklärung am 8. Oktober 1923, dass der gegenwärtig parlamentarische Apparat „etwas schwerfällig“ arbeite. Die aktuelle Situation könne verlangen, „daß auf dem einen oder anderen Gebiete dem Ausschuß des Parlaments, den doch das Kabinett in einem verfassungsmäßigen Staate darstellen soll, vorübergehende außerordentliche Vollmachten gegeben werden“.

Auch der DDP-Abgeordnete Eugen Schiffer erklärte in der 1. und 2. Beratung des Ermächtigungsgesetzes am 9. Oktober 1923 im Reichstag, „die Lage unseres Vaterlandes [sei] so, daß der Mechanismus des Parlaments zu kompliziert ist, als daß die Aufgaben, die jetzt dem Parlament gestellt sind, erfolgversprechend gelöst werden können“. Dem Vorwurf, dass „der Reichstag seine Verantwortlichkeit auf andere Schultern überwälzt“, trat er in der Debatte entschieden entgegen. Es sei „im Gegenteil […] ein Akt der Selbstentäußerung des Reichstags, wenn er die Verantwortung nunmehr für Handlungen und Unterlassungen der Regierung mit übernimmt, an denen mitzuwirken er selbst nicht in der Lage ist“.

Kritik von DNVP, BVP und KPD

Die Hauptredner der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und der Bayerischen Volkspartei (BVP), Kuno Graf von Westarp und Johann Leicht, kritisierten nicht die Ermächtigung an sich, sondern vor allem ihre Bindung an die aktuelle Reichsregierung als „Wahnsinn“ und „höchste Höhe des parteipolitischen Egoismus“ (Westarp) bzw. als „Ungeheuerlichkeit“ und „Unikum in der Gesetzgebung“ (Leicht). Redner der KPD lehnten das Ermächtigungsgesetz als „Einführung der Diktatur“ und Einsetzung eines „absoluten Willkürregiments“ ab.

Zustimmung mit erforderlicher qualifizierter Mehrheit

Laut Verfassung mussten mindestens Zweidrittel der Abgeordneten bei der Abstimmung anwesend sein und von diesen Zweidrittel der Gesetzesvorlage zustimmen. Obwohl KPD und DNVP das Plenum vor der Abstimmung verließen, 6 Abgeordneten der DVP sich enthielten und 13 Abgeordnete der SPD der Abstimmung fernblieben, erreichte der Gesetzentwurf in der Schlussabstimmung am 13. Oktober mit 316 Ja-Stimmen aus den Koalitionsfraktionen gegen 24 Nein-Stimmen vornehmlich aus der BVP bei 7 Enthaltungen klar beide notwendige Quoren. Auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes erließ die Reichsregierung bis zum 2. November 1923 insgesamt 45 vornehmlich der Währungsstabilisierung dienende Rechtsverordnungen.

Kritik an der Selbstentmachtung des Parlaments seitens der Wissenschaft

Der Historiker Thomas Raithel, der sich in seiner Habilitationsschrift ausführlich mit dem Agieren des Reichstages in der Hyperinflation 1923 befasst hat, beurteilt den Verzicht des Parlaments auf wesentliche seiner Rechte in der Krise kritisch: „Mit dem Ermächtigungsgesetz wurden der Reichsregierung extrem weitgehende Vollmachten übertragen, die das bisher in der Weimarer Republik Übliche deutlich sprengten. Abgesehen von den ausgehandelten Einschränkungen im Bereich von Arbeitszeit, Rentenleistungen und Versicherungsfragen gab es keine eindeutige Begrenzung. […] Erstmals in der Weimarer Ermächtigungsgesetzgebung durfte mit den Verordnungen zudem pauschal von den Grundrechten abgewichen werden, […]. Da das Zustandekommen von Verordnungen nicht wie in einigen der früheren, eng begrenzten Ermächtigungsgesetze an die Mitwirkung eines Reichstagsausschusses gebunden wurde, blieben als parlamentarische Mitwirkungs- und Kontrollbefugnisse nur die notwendige – in der Praxis dann aber keineswegs immer rechtzeitig gewährleistete – parlamentarische Kenntnisnahme sowie die Möglichkeit des Aufhebungsverlangens.“ Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 habe somit „eine neue Stufe des legislativen Funktionsverzichts“ erreicht.

Rücktritt der SPD-Minister und Misstrauensvotum gegen Regierung Stresemann

Am 2. November 1923 zerbrach die Große Koalition endgültig, nachdem die SPD-Minister im Kabinett Stresemann ihren Rücktritt erklärt hatten. Anlass hierfür war die scharfe Kritik der SPD-Reichstagsfraktion an der mit Zustimmung des Reichspräsidenten erfolgten „Reichsexekution“ gegen Sachsen, die mit Hilfe der Reichswehr zur Absetzung der kurz zuvor gebildeten Landesregierung aus SPD und republikfeindlicher KPD geführt hatte. Da durch den Rücktritt der SPD-Minister auch das Ermächtigungsgesetz unwirksam geworden war, wurden in der Folge wesentliche finanzpolitische Verordnungen zunächst wieder auf der Grundlage von Artikel 48 erlassen. Das Minderheitskabinett Stresemann scheiterte endgültig, als es der Reichstag auf Antrag der verbliebenen Koalitionsfraktionen bei einer Abstimmung am 23. November 1923 mit den Stimmen von DNVP, KPD und SPD ablehnte, der Regierung das Vertrauen auszusprechen. (WD 1, 12.10.2023)

Marginalspalte