Parlament

Historiker Peter Longerich über Extremismus in der Weimarer Republik

Männer sitzen 1923 mit einer Kaiserreichsfahne auf einem Laster.

Mitglieder der SA auf dem Weg zum 'Hitler-Putsch', München, 9. November 1923. Propaganda-Fotografie aus Wilfried Bade/Heinrich Hoffmann, Deutschland erwacht - Werden, Kampf und Sieg der NSDAP. Cigaretten Bilderdienst, Altona-Bahrenfeld 1933. (picture alliance / Mary Evans Picture Library)

Peter Longerich, als Zeithistoriker einer der profundesten Kenner des Nationalsozialismus und Autor einer einschlägigen Studie zum Krisenjahr 1923, nimmt in diesem Interview die politische Gewalt in der Weimarer Republik und das Denken in Freund-Feind-Kategorien in den Blick:

Herr Prof. Longerich, die Weimarer Republik sah sich in der Zeit ihres Bestehens immer wieder mit heftigen politischen Auseinandersetzungen und auch Umsturzversuchen von rechts- und linksextremistischen Kräften konfrontiert. Was waren die Ursachen für die politischen Konflikte?

Die Ursachen gehen vor allem auf die tiefen Erschütterungen zurück, die Deutschland als Folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg erlitt. Sie verstärkten die ohnehin bestehende tiefe Spaltung der Gesellschaft in sich feindlich gegenüberstehende Klassen, politische Lager und Milieus, die ein Erbe des Kaiserreichs war. Eine weitere Hinterlassenschaft des Kaiserreichs war die Tatsache, dass die zumeist antidemokratisch ausgerichteten Eliten ihre Tätigkeit 1918/19 fast kontinuierlich fortsetzen konnten.

Der Begriff „Weimarer Verhältnisse“ gilt gleichsam als Chiffre für die häufigen Regierungswechsel, die Schwäche des parlamentarischen Systems und den Aufstieg republikfeindlicher Parteien. Was machte die politische Kultur der Republik so anfällig für autoritäre „Alternativen“? War Weimar eine „Demokratie ohne Demokraten“?

Die drei Parteien, die sich vorbehaltlos auf den Boden der Verfassung stellten – Sozialdemokratie, Zentrum und die linksliberale Deutsche Demokratische Partei – hatten nur bei den Wahlen zur Nationalversammlung Anfang 1919 eine Mehrheit, dann nie wieder. Die parlamentarische Demokratie war nach Ansicht vieler ein System, das die Siegermächte des Ersten Weltkrieges Deutschland aufgezwungen hatten. Es ist erschreckend zu sehen, wie weit verbreitet in der Krise des Jahres 1923 der Ruf nach Rettung durch eine Diktatur war. „Parteienherrschaft“ galt als Synonym für „Chaos“. Der Artikel 48 der Verfassung bot zudem die allzu bequeme Möglichkeit, mit Hilfe des Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten zeitweise ohne Parlament zu regieren. Es liegt auf der Hand, dass dies auf Dauer zu einer Geringschätzung und Abwertung der parlamentarischen Demokratie führen musste.,

Die vielfachen Belastungen der Republik kulminierten 1923 in einer Abfolge von Krisen, die sich im Herbst zu einer existentiellen Bedrohung des Deutschen Reichs steigerten: die kommunistischen Umsturzpläne für einen „deutschen Oktober“, die im „Hamburger Aufstand“ mündeten, sowie vor allem die rechtskonservativen und rechtsextremen Staatsstreich- und Diktaturpläne, die im November im spektakulär gescheiterten „Hitler-Putsch“ endeten. Welche Bedeutung hatte dieser Ausbruch politischer Gewalt

Die gesamte Nachkriegszeit war durch politische Gewalt gekennzeichnet: Aufstände, Putschversuche, bürgerkriegsähnliche Zustände, aber auch alltägliche Gewalt auf der Straße. Hier wirkte sich die Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges aus: Politische Auseinandersetzungen wurden vielfach als Freund-Feind-Konstellationen verstanden und es erschien als legitim, die jeweils andere Seite – wie es in der politischen Sprache der Zeit hieß – zu „vernichten“. Die Tatsache, dass das Gewaltmonopol des Staates in den unruhigen Nachkriegsjahren weitgehend außer Kraft gesetzt wurde, spielte dabei eine erhebliche Rolle, nicht zuletzt der Umstand, dass die Waffenbestände der Weltkriegsarmee am Ende des Krieges nicht sicher verwahrt blieben.

Wie gelang es der Weimarer Republik, nach dem „Hitler-Putsch“ den Weg zur Stabilisierung zu finden, und welchen Beitrag leistete das parlamentarische Handeln im Reichstag?

Meiner Ansicht nach grenzt es an ein Wunder, dass die Republik im Herbst 1923 überleben konnte. Es war aber nicht das Krisenmanagement der Regierung Stresemann, eine große Koalition unter Einschluss der Sozialdemokratie, die die Demokratie rettete, sondern vor allem die Uneinigkeit von Rechtskonservativen und Rechtsextremisten auf dem Höhepunkt der Krise. Die demokratischen Parteien haben es dann leider versäumt, aus dem Herbst 1923 die richtigen Lehren zu ziehen und energisch an die Bekämpfung der Ursachen der Krise heranzugehen; dazu hätte vor allem eine entschlossene Bekämpfung des Rechtsextremismus gehört. Zu den „Lehren aus Weimar“ gehört auch, dass die im Parlament vertretenen Parteien sich in erster Linie als die Sachwalter ihrer jeweiligen Klientel verstanden und nicht primär daran gingen, durch die Arbeit an politischen Kompromissen Mehrheitsentscheidungen zustande zu bringen und so Regierungshandeln abzustützen. Die Idee einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung war für die Weimarer Parlamentarier, die ihre politische Sozialisation meist im Kaiserreich erlebt hatten, neu und fremd. Insofern war die parlamentarische Kultur unterentwickelt.

Die „Selbstpreisgabe“ der Demokratie durch die Präsidialregierungen und der Aufstieg des Nationalsozialismus ab 1930 bestimmen bis heute vielfach den Blick auf die Epoche der ersten deutschen Republik. War der Untergang der Weimarer Republik zwangsläufig oder gab es Alternativen?

Der Untergang der Republik war keineswegs unvermeidbar, sondern die Folge einer Reihe von fatalen politischen Entscheidungen, für die es aber jeweils in der konkreten historischen Situation nachweisbare Handlungsalternativen gab, selbst noch im Januar 1933. Doch wenn man aus der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik Lehren für die Gegenwart ziehen will, dann kann es meiner Ansicht nach nicht so sehr um angemessenes Handeln in Krisensituationen gehen, sondern um eine vorausschauende Politik der Krisenvermeidung.

Peter Longerich war Professor für Holocaust Studies am Royal Holloway College der University of London und lehrte an der Universität der Bundeswehr in München. Zuletzt erschien von ihm im Molden Verlag „Außer Kontrolle. Deutschland 1923“.

(Inhaltlich verantwortlich: Fachbereich WD 1)

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