Historiker Wolfram Pyta über die Reichspräsidentenwahlen 1925
Eine Wahl als Zäsur und Wendepunkt: Am 29. März fand in der Weimarer Republik die erste unmittelbare Reichspräsidentenwahl durch alle wahlberechtigten Männer und Frauen statt. Um die Nachfolge des verstorbenen Sozialdemokraten Friedrich Ebert bewarben sich im ersten Wahlgang sieben Kandidaten; die erforderliche absolute Mehrheit erreichte keiner. Für den zweiten Wahlgang am 26. April einigten sich die Parteien der „Weimarer Koalition“ auf den Zentrumspolitiker Wilhelm Marx als gemeinsamen Kandidaten. Das konservative Lager stellte dagegen den populären Feldmarschall Paul von Hindenburg auf, der mit 14,6 Millionen Stimmen (48,3 Prozent) knapp vor Marx (45,3 Prozent) gewählt wurde.
Die Hintergründe und Auswirkungen der Wahl beleuchtet im Interview der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta. Er zählt zu den profundesten Kennern der Geschichte der Weimarer Republik und der Parlaments- und Demokratiegeschichte. Zu seinen Werken zählt unter anderem eine monumentale Hindenburgbiografie, die die fatale politische Rolle des zweiten Reichspräsidenten und dessen persönliche Verantwortung für die Katastrophe Deutschlands hervorhebt. Zuletzt erschien die Studie: Kompromiss: Kultur und Praxis eines parlamentarischen Entscheidungsverfahrens im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 2025.
Im März und April 1925 stimmten die Deutschen zum ersten Mal in direkter Wahl über ihr Staatsoberhaupt ab. Welche Rolle spielte diese besondere demokratische Legitimation für die Kompetenzen und Befugnisse des Reichspräsidenten?
Eine „Volkswahl“ stärkte die verfassungsrechtliche Stellung des Reichspräsidenten noch mehr. Denn nun konnte der Reichspräsident bei der Aktivierung der präsidialen Befugnisse seine direktdemokratische Legitimation in die Waagschale werfen. Falls der Reichspräsident vorhatte, die Mitwirkungsmöglichkeiten des Reichstags bei der Regierungsbildung und bei der Gesetzgebung einzuschränken, fand er in der eigenen demokratischen Legitimation seines Amtes den entscheidenden Ansatzpunkt. Die Direktwahl ermöglichte eine Absetzbewegung vom Parlamentarismus auch deswegen, weil der Reichspräsident mit seinem direktdemokratischen Mandat über den Parteien stand. Selbst gegenüber den politischen Parteien, die sich für ihn im Wahlkampf eingesetzt hatten, ging er keine politischen Verpflichtungen ein. Insofern schuf erst die Volkswahl die Voraussetzungen dafür, da ein Reichspräsident – falls er dazu entschlossen war – mit seinen präsidialen Befugnissen das politische System entparlamentarisierte.
Reichstagswahlen waren in der Zeit der Weimarer Republik keine Seltenheit. Wie unterschied sich davon die Wahl des Reichspräsidenten 1925?
Die Weimarer Republik hatte keine Erfahrungen mit einer „Volkswahl“, da auch im Kaiserreich demokratische Willensbildung in der Wahl von Repräsentationsorganen aufging. Allerdings hatte das Kaiserreich ein wahlkulturelles Erbe hinterlassen, an das die Parteien anknüpften: Bei den Reichstagswahlen im Kaiserreich hatte es aufgrund des absoluten Mehrheitswahlrechts ein meist zweistufiges Verfahren zur Ermittlung des Wahlkreissiegers gegeben. Dies bedeutete, dass in den allermeisten Wahlkreisen ein zweiter Wahlgang erforderlich war und dass in diesem Wahlgang derjenige Kandidat siegte, der von Wahlkampfabsprachen profitierte und Stimmen unterlegener Bewerber des ersten Wahlgangs auf sich vereinigte. Diese Erfahrungen mit einer disziplinierten Stimmenübertagung auf Geheiß der Parteileitungen standen Pate bei der Nominierung der Kandidaten für die erste Runde der Reichspräsidentenwahl: Alle größeren Parteien stellten eigene Kandidaten auf. Nach der ersten Runde griffen altbewährte Mechanismen: Die politisch nahestehenden Parteien trafen Absprachen, um die Stimmen auf einen Sammelkandidaten zu übertragen, wobei diejenigen Parteien, die ihre Kandidaten zurückzogen, mit Kompensationen rechnen konnten. Nach dieser Logik einigten sich die drei Parteien, die die Weimarer Verfassung gemeinsam ausgearbeitet hatten (SPD; Zentrum; DDP), auf den vom Zentrum bereits im ersten Wahlgang nominierten ehemaligen Reichskanzler Wilhelm Marx als Gemeinschaftskandidat. Der sozialdemokratische Reichspräsidentschaftskandidat Otto Braun wurde als Gegenleistung mit den Stimmen des Zentrums wieder zum preußischen Ministerpräsidenten gewählt. Solche Wahlabsprachen setzten ein stabiles Wahlverhalten voraus und gingen davon aus, dass das Wahlvolk den Empfehlungen der Parteiführungen im zweiten Wahlgang folgen würde. Beide Voraussetzungen waren aber im zweiten Wahlgang brüchig geworden.
Zum zweiten Wahlgang am 26. April tauschte der konservative „Reichsblock“ den Kandidaten aus: Der Duisburger Oberbürgermeister und ehemalige Reichsinnenminister Karl Jarres verzichtete zugunsten Paul von Hindenburgs. Warum galt der 78jährige Feldmarschall als aussichtsreicherer Kandidat?
Im Unterschied zu den republikanischen Parteien SPD, Zentrum und DDP hatten sich die Parteien des rechten politischen Spektrums (DNVP und DVP) bereits im ersten Wahlgang auf den Gemeinschaftskandidaten Karl Jarres geeinigt. Damit hatten sie einen Wettbewerbsvorteil erlangt: Denn Jarres erzielte mit fast 39% der abgegebenen Stimmen ein Ergebnis, das weit über dem Resultat lag, das DNVP und DVP bei den drei Monate zuvor stattgefundenen Reichstagswahlen erzielt hatten. Dennoch war absehbar, dass Jarres im zweiten Wahlgang einem Sammelkandidaten des republikanischen Lagers unterliegen würde. Daher setzte sich das Kalkül durch, im zweiten Wahlgang einen neuen Kandidaten aufzustellen, der die zwei Kriterien erfüllen sollte, die für einen Wahlsieg unverzichtbar waren: Zum einen sollte er einen Großteil der eine Million Stimmen gewinnen, die auf den Kandidaten der katholischen Bayerischen Volkspartei im ersten Wahlgang entfallen waren. Zum anderen sollte er bisherige Nichtwähler mobilisieren. Hindenburg war in dieser Hinsicht der ideale Kandidat: Seine symbolische Reputation als Feldherr des Ersten Weltkriegs war trotz Kriegsniederlage unangetastet und reichte bis weit in die konservative katholische Wählerschaft insbesondere Bayerns hinein. Hindenburg führte daher einen Wahlkampf, der darauf ausgerichtet war, diese symbolische Ausstrahlungskraft zur Geltung zu bringen. Sein Vorsprung von knapp einer Million Stimmen im zweiten Wahlgang ist auch ein Beleg dafür, dass die Bedeutung konfessioneller Fragen für die Wahlentscheidung abnahm. Denn der Protestant Hindenburg verdankte seinen Wahlsieg dem Umstand, dass eine nennenswerte Anzahl katholischer Wähler nicht dem Vertreter des politischen Katholizismus, Marx, ihre Stimme gab, sondern einer Symbolfigur, die sich einer konfessionellen Verortung entzog.
Wolfgang Niess spricht in einem aktuellen Buch von einer „Schicksalswahl“ und der Wahl Hindenburgs als einer „Zeitbombe, die 1933 mit zerstörerischer Gewalt explodieren sollte.“ Hätte den Zeitgenossen bereits bewusst sein können, dass es sich um eine entscheidende Wahl handelte?
Die Wahl Hindenburgs rief bei den republikanischen Kräften vor allem die Besorgnis hervor, dass der ehemalige Generalfeldmarschall den außenpolitischen Kurs der Verständigung mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs torpedieren würde. Genau dies trat nicht ein: Hindenburg unterstützte die außenpolitische Linie der republikanischen Parteien und nahm dabei sogar in Kauf, dass sich viele seiner nationalkonservativen Wähler von ihm entfremdeten. Diese loyale Haltung fiel allerdings in einer Phase, in der Hindenburg austestete, welche Gestaltungsmöglichkeiten sich vom höchsten Staatsamt ergaben, um seinem eigentlichen politischen Ziel – die Herstellung einer inneren „Volksgemeinschaft“ bei Ausschaltung international ausgerichteter politischer Kräfte – näher zu kommen. Hindenburg benötigte diese Anlaufzeit, um in Lauerstellung gehen zu können: Er wartete darauf, dass die republikanischen Parteien ihm günstige Gelegenheiten boten, um die enorme Gestaltungsmacht des Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung und bei der Regierungspraxis zu Lasten des Parlaments einzubringen und damit eine qualitative Entparlamentarisierung des Regierungssystems einzuleiten. Als sich diese Konstellation Ende März 1930 ereignete, griff der Reichspräsident energisch zu. Bei der Reichstagswahl 1925 war hellsichtigen Zeitgenossen klar, dass das höchste Staatsamt von einer Person besetzt war, die kein inneres Verhältnis zum Geist der Weimarer Verfassung und den Grundwerten der liberalen Weimarer Demokratie besaß. Die Weimarer Republik ging damit ins politische Risiko – und da sie innerlich und äußerlich noch ungefestigt war, war genau diese personelle Schwachstelle ein Hauptgrund für ihre schleichende Aushöhlung.
Hindenburg, der 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannte und am „Tag von Potsdam“ maßgeblich zur öffentlichen Legitimierung des NS-Regimes beitrug, gilt als einer der Totengräber der Republik. Dabei haben sogar die demokratischen Parteien der „Weimarer Koalition“ 1932 seine Wiederwahl unterstützt - nicht zuletzt, um Hitler zu verhindern. Inwiefern hatte Hindenburg seit 1925 dazu beigetragen, die Republik zu stabilisieren, und wo wirkte er an ihrer Zerstörung mit?
Die Weimarer Republik ging vor allem deswegen zugrunde, weil die elektorale Selbstgefährdung der Demokratie eine verhängnisvolle Allianz mit einer vom Amt des Reichspräsidenten aus betriebenen Aushöhlung des Parlamentarismus einging. Die liberale Republik geriet in Todesgefahr, als nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 eine radikalnationalistische, antisemitische und zutiefst illiberale Kraft – die NSDAP – zur zweitstärksten politischen Kraft im Reichstag wurde. Entscheidend war, dass Hindenburg in der NSDAP einen Kooperationspartner sah, der ihm die Aussicht eröffnete, bei der Überwindung des Parlamentarismus und der Schaffung einer nationalen Volksgemeinschaft auf immer größere Teile der Wählerschaft zurückzugreifen. Die NSDAP unterfütterte Hindenburgs Kernprojekt mit der erforderlichen Massenunterstützung, sofern sie sich – und dies blieb bis zum Januar 1933 unklar – Hindenburgs politischen Direktiven fügte und nicht im Alleingang an die Regierungsmacht strebte. Der Massenzustrom zur NSDAP war für Hindenburg insofern komfortabel, weil er die republikanischen Kräfte, die immerhin 1932 noch etwa 40% der Wählerschaft ausmachten, in eine Zwangsallianz mit diesem Reichspräsidenten zwang: Bei der Reichspräsidentenwahl im Frühjahr 1932 war die NSDAP bereits so stark geworden, dass Hindenburg ohne Gegenleistung auf die Stimmen der republikanischen Kräfte für seine Wiederwahl zurückgreifen konnte. Hindenburg nahm diese Stimmen ohne politische Selbstverpflichtung entgegen und nutzte seine zweite Amtszeit dazu, als erstes denjenigen Politiker vor die Tür zu setzen, der das für seinen Wahlsieg erforderliche Wahlbündnis geschmiedet hatte: Reichskanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei.