Parlament

Heinrich August Winkler über den Parlamentarismus von Weimar

Porträtaufnahme eines Mannes mit weißen Haaren

Heinrich August Winkler (Anna Weise)

Die Deutschen und der Parlamentarismus von Weimar

Heinrich August Winkler zählt zu den einflussreichsten deutschen Historikern mit besonderer Expertise u. a. für die Geschichte der Weimarer Republik. Hier wirft er einen kritischen Blick auf das Verhältnis der Deutschen zum Parlamentarismus und das Wirken des Reichstages in der ersten deutschen Demokratie.

Herr Professor Winkler, 2024 jährt sich die Konstituierung des ersten Deutschen Bundestages vor 75 Jahren. Die Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland ist aber viel älter. Wo verorten Sie darin den Reichstag der Weimarer Republik: worauf konnte er bauen und was schwächte ihn?

Der Reichstag der Weimarer Republik war weithin geprägt durch die ungleichzeitige Demokratisierung Deutschlands in den Jahrzehnten davor. Früher als in manchen liberalen Mustermonarchien des 19. Jahrhunderts, darunter Großbritannien und Belgien, war in Deutschland das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer und damit ein kräftiges Stück Demokratie eingeführt worden: 1867 im Norddeutschen Bund und 1871 im deutschen Kaiserreich. Eine parlamentarisch verantwortliche Regierung erhielt Deutschland aber erst im Schatten der militärischen Niederlage des Reiches im Oktober 1918. Die späte Parlamentarisierung erwies sich als schwere Vorbelastung der ersten deutschen Demokratie, die aus der Revolution von 1918/19 hervorgegangene Republik von Weimar. Die parlamentarische Demokratie galt der nationalistischen Rechten von Anfang an als Produkt der Niederlage, als Staatsform der westlichen Siegermächte, kurz als „undeutsch“.

Eine Vorbelastung war aber auch die mangelnde Regierungserfahrung der Parteien, die das parlamentarische System prinzipiell bejahten. Die Reichskanzler der Weimarer Republik bedurften, anders als die Kanzler des Bismarckreiches, des Vertrauens des Reichstags, Sie waren mithin im Gegensatz zu diesen demokratisch legitimiert. Regierungsmehrheiten waren aber nur zu erhalten, wenn Parteien mit höchst unterschiedlichen Interessenlagen und ideologischen Ausrichtungen zur Zusammenarbeit bereit waren. Fehlender Kompromisswille rief häufige Regierungskrisen hervor; Minderheitsregierungen waren keine Seltenheit. Außenminister Gustav Stresemann etwa konnte in den Jahren 1924 bis 1928 seine auf Verständigung ausgerichtete Außenpolitik nur mit Hilfe der oppositionellen Sozialdemokraten durchsetzen. Doch es gab mitunter auch breite parlamentarische Mehrheiten: Der größten sozialpolitischen Errungenschaft der Weimarer Republik, der Arbeitslosenversicherung, stimmten im Juli 1927 alle Fraktionen außer den Kommunisten und den Völkischen zu.

Mit Blick auf die Weimarer Reichsverfassung, die 80 Jahre nach der Verfassung der Frankfurter Paulskirche und 30 Jahre vor dem Grundgesetz verabschiedet wurde, problematisieren viele die starke Position des Reichspräsidenten. Welche Stellung kam dagegen dem Reichstag im politischen System von Weimar zu und welche identifikatorische Bedeutung für die Republik hatte er in der Bevölkerung bzw. der medialen Öffentlichkeit?

Der (erstmals 1925) direkt vom Volk gewählte Reichspräsident sollte nach dem Willen zwar nicht aller, so doch vieler Väter und Mütter der Weimarer Reichsverfassung ein Gegengewicht zum Reichstag bilden. Der Staatsrechtler Hugo Preuß, von dem der erste Entwurf der Verfassung stammt, wollte dadurch der Gefahr eines „Parlamentsabsolutismus“ entgegenwirken. Die Mehrheit der Mitglieder der Verfassunggebenden Nationalversammlung in Weimar folgte Preuß: Artikel 48, Absatz 2 der Verfassung verlieh dem Reichspräsidenten für den Fall, dass im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet war, außerordentliche, ja diktatorische Vollmachten.

Die Machtverteilung zwischen Parlament und Präsident barg eine Gefahr in sich: Sie konnte die Abgeordneten des Reichstags in Versuchung führen, die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen nach „oben“, auf den Reichspräsidenten abzuschieben. Ebendies geschah mehrfach, was dem Ansehen des Hohen Hauses nicht förderlich war. Von rechts wie von links außen wurde der Reichstag als „Schwatzbude“ diffamiert. Selbst ein so brillanter Autor wie Kurt Tucholsky spottete über den „Parlamentsroutinendreh“; für den Kompromisszwang, der mit Koalitionspolitik verbunden ist, brachte er kein Verständnis auf.

Wäre der Weimarer Republik nach 1924 eine längere Phase der wirtschaftlichen Erholung beschieden gewesen, hätte sich das Vertrauen der Deutschen in die parlamentarische Demokratie vermutlich gefestigt und die Parlamentskultur des Deutschen Reichstags weiter entwickelt. Anzeichen für einen zunehmend zivilen Umgang der Parlamentarier miteinander gab es durchaus. Doch nach dem New Yorker Börsenkrach vom Oktober 1929 stürzte die Weltwirtschaft in eine schwere Krise. Im Zeichen steigender Arbeitslosenzahlen spitzten sich in Deutschland die sozialen Konflikte und die politischen Gegensätze bald dramatisch zu. Es begann eine Zeit der fortschreitenden Radikalisierung, in der von Parlamentskultur bald kaum noch gesprochen werden konnte.

Die Weimarer Republik prägten große Krisen, von den revolutionären Anfängen bis zur Weltwirtschaftskrise mit ihren katastrophalen sozialen Folgen. Welche Rolle konnte der Reichstag in der Krisenbewältigung am Ende des Jahrzehnts noch spielen?

Die letzte parlamentarische Mehrheitsregierung war ein Kabinett der Großen Koalition unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller, das von der SPD bis zur rechtsliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) reichte. Nach dem Tod ihres langjährigen Vorsitzenden Gustav Stresemann im Oktober 1929 rückte die DVP rasch nach rechts. Im März 1930 gelang es den Koalitionspartnern nicht mehr, sich auf einen Kompromiss bei der Sanierung der Arbeitslosenversicherung zu verständigen. Ein letzter Lösungsvorschlag des Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Heinrich Brüning, scheiterte am Widerstand der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und des hinter ihr stehenden Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte daraufhin Brüning zum Reichskanzler eines bürgerlichen Minderheitskabinetts.

Als die Regierung Brüning im Juli 1930 bei einer Haushaltsabstimmung im Reichstag eine Niederlage erlitt, erließ Hindenburg seine ersten beiden Notverordnungen nach Artikel 48 der Reichsverfassung. Der Reichstag hob sie auf, woraufhin der Reichspräsident den Reichstag auflöste und eine neue Notverordnung erließ. Aus den vorgezogenen Neuwahlen vom 14. September 1930 gingen die Nationalsozialisten mit einem Stimmenanteil von 18,3 Prozent als zweitstärkste Partei hinter der SPD hervor. Um einen Rechtsruck der Reichsregierung zu vermeiden und ihre Koalition mit dem Zentrum, der Partei Brünings, in Preußen, dem größten deutschen Staat, nicht zu gefährden, entschied sich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, die Regierung Brüning zu tolerieren und ihren mit großen sozialen Härten verbundenen Sparkurs mitzutragen.

Die SPD hielt ihre Tolerierungspolitik bis zum Sturz Brünings durch Hindenburg Ende Mai 1932 durch: Nur durch ihr enges Zusammenwirken mit den bürgerlichen Mittelparteien konnten die Sozialdemokraten im Frühjahr 1932 die Weimarer Republik noch einmal vor dem Untergang retten. Bei den Reichspräsidentenwahlen vom März und April unterstützten sie den konservativen Amtsinhaber, den ehemaligen Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg. Der überzeugte Anhänger der Monarchie war der einzige Kandidat, der damals noch eine Chance hatte, den Mitbewerber Adolf Hitler aus dem Feld zu schlagen. Wäre der Führer der NSDAP aus dem zweiten Wahlgang als Sieger hervorgegangen, wäre das „Dritte Reich“ bereits am Abend des 10. April 1932 proklamiert worden.

Die Machtübergabe an Hitler und das Ermächtigungsgesetz 1933 besiegelten das Scheitern der Weimarer Republik. Das Selbstausliefern der parlamentarischen Demokratie begann früher mit den Präsidialregierungen ab 1930 unter Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Alternativlos? Oder was waren verpasste Gelegenheiten zur Umkehr? Anders ausgedrückt: War der Weg in die Diktatur seit 1930 zwangsläufig?

Im Rückblick erweist sich die Auflösung der Großen Koalition am 27. März 1930 als eine fatale Zäsur. Die Folge, der Übergang von der parlamentarischen Demokratie zu einem System präsidialer Notverordnungen, war durchaus vorhersehbar. Der Reichstag tagte seit dem Herbst 1930 nur noch selten, und wenn er zusammentrat, verliefen seine Sitzungen meist tumultuös, wobei sich die Nationalsozialisten und die Kommunisten gegenseitig an obstruktivem Verhalten zu übertreffen versuchten.

Die Selbstausschaltung des Reichstags gab, wie nicht anders zu erwarten, den Gegnern der parlamentarischen Demokratie auf der Rechten und der Linken, ganz besonders aber den Nationalsozialisten, Auftrieb. Hitler wurde seit 1930 zum Hauptnutznießer der ungleichzeitigen Demokratisierung des Kaiserreichs, der frühen Einführung eines (relativ) egalitären Wahlrechts und der späten Parlamentarisierung. Er konnte fortan an beides appellieren: an die verbreiteten Ressentiments gegen das angeblich „undeutsche“ parlamentarische System und an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts, das unter den Präsidialregierungen zunehmend ins Leere lief. Da die SPD seit Oktober 1930 als parlamentarische Opposition ausfiel, waren die Nationalsozialisten zudem in der Lage, sich als die einzige wirksame Oppositionspartei rechts von den Kommunisten und als Alternative zum „Marxismus“ in allen seinen Erscheinungsformen zu präsentieren.

Eine weitere verhängnisvolle Zäsur war die Entlassung Brünings durch Hindenburg am 30. Mai 1932: eine Entscheidung, die der Reichspräsident auf Drängen der Reichswehrführung und des hochverschuldeten Rittergutsbesitzes traf. Der Wechsel von Brüning zu seinem Nachfolger, dem hochkonservativen westfälischen Gutsbesitzer Franz von Papen vom äußersten rechten Flügel des Zentrums, markiert den Übergang vom gemäßigten, parlamentarisch tolerierten zum autoritären, offen antiparlamentarischen Präsidialsystem. Mit dem Kanzlerwechsel verbunden war die Aufhebung des von Brüning erlassenen Verbots von Hitlers Privatarmeen, der SA und der SS, und die Auflösung des im September 1930 gewählten Reichstags.

Am 20. Juli 1932 folgte der „Preußenschlag“: die Absetzung der nur noch geschäftsführend amtierenden Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun und ihre Ersetzung durch eine Regierung der „Reichskommissare“. Der Wahlkampf vom Sommer 1932 war der blutigste, den Deutschland je erlebt hatte. Vor allem an den Wochenenden fanden in vielen Gegenden des Reiches bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten Lagern, namentlich zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, statt.

Aus den vorgezogenen Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 gingen die Nationalsozialisten mit 37,4 Prozent als stärkste Partei hervor. Zusammen mit den Kommunisten verfügten sie über eine (negative) Mehrheit der Mandate. Eine parlamentarische Krisenlösung war nun nicht mehr möglich. Die deutsche Staatskrise trat in das Stadium des Verfassungsnotstands ein.

Am 12. September 1932 wurde der eben gewählte Reichstag vom Reichspräsidenten wieder aufgelöst. Bei der Neuwahl vom 6. November blieben die Nationalsozialisten mit 33,1 Prozent zwar die stärkste Partei, sie verloren aber über zwei Millionen Stimmen, wohingegen die Kommunisten fast 700 000 Stimmen hinzugewannen und auf 16,9 Prozent kamen. An die Stelle des Reichskanzlers Franz von Papen trat am 3. Dezember 1932 der Reichswehrminister, General Kurt von Schleicher, der dieses Amt in Personalunion beibehielt. Bis zum Jahreswechsel 1932/33 lehnte Hindenburg eine Ernennung Hitlers zum Reichskanzler unter Hinweis auf dessen diktatorische Absichten ab. Doch dann gelang es engen Beratern des Reichspräsidenten wie dem Exkanzler von Papen, der auch als Vertrauensmann schwerindustrieller Kreise tätig war, und Vertretern der Großlandwirtschaft, ihn von der Zweckmäßigkeit einer „nationalen Regierung“ mit Hitler als Reichskanzler, Papen als Vizekanzler und einer mehrheitlich deutschnationalen Ministermannschaft zu überzeugen.

Hindenburg war keineswegs gezwungen, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Er hätte Schleicher nach einem Misstrauensvotum des Reichstags geschäftsführend im Amt belassen oder einen nicht polarisierenden, „unpolitischen“ Nachfolger ernennen können. Doch am Ende schloss er sich denen an, die in Hitler den Führer der „nationalen“ Massen sahen, den man „engagieren“ müsse, um der erstrebten autoritären Transformation des Staates eine populäre Basis zu verschaffen.

Von einer parlamentarischen Mehrheit war Hitler am 30. Januar 1933, dem Tag seiner Ernennung zum Reichskanzler, weit entfernt. Er hatte sich jedoch die Zusicherung des Reichspräsidenten ausbedungen, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, falls es ihm, Hitler, nicht gelang, das Zentrum an seiner Regierung zu beteiligen (was dieser gar nicht anstrebte). Am 1. Februar wurde der Reichstag aufgelöst und die Neuwahl auf den 5. März 1933 festgelegt. In die Endphase des Wahlkampfs fiel der Brand des Reichstags, den die Nationalsozialisten wahrheitswidrig als Werk der Kommunisten ausgaben. Am folgenden Tag, dem 28. Februar, erging die „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“, die faktisch alle rechtsstaatlichen Sicherungen liquidierte und dem nationalpopulistischen Terror Tür und Tor öffnete.

Bei der Reichstagwahl vom 5. März 1933 verfehlte die NSDAP mit 43,9 Prozent zwar die erhoffte absolute Mehrheit. Da ihre konservativen Koalitionspartner, die als „Kampffront Schwarz-Weiß-Rot“ antraten, ihrerseits auf 8 Prozent kamen, verfügte die Regierung Hitler aber über die Mehrheit der Mandate. Zur „Rechtsgrundlage“ der nationalsozialistischen Diktatur wurde das Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, das den Reichstag als Gesetzgebungsorgan entmachtete und der Reichsregierung ein nahezu unbegrenztes Gesetzgebungsrecht verschaffte. Den Kommunisten waren vor der ersten Reichstagssitzung die Mandate verfassungswidrig aberkannt worden. Die bürgerlichen Parteien gaben dem erpresserischen Druck der Reichsregierung nach und stimmten dem Gesetz zu. Als einzige Partei gaben die Sozialdemokraten ihre Stimmen gegen das Ermächtigungsgesetz ab. Sie retteten damit nicht nur die eigene Ehre, sondern auch die Ehre der deutschen Republik.

Die Machtübertragung an Hitler war weder ein zwangsläufiger Vorgang noch ein „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte. Bis zuletzt gab es Alternativen zur Kanzlerschaft des Führers der Nationalsozialisten. Dass die NSDAP zur stärksten deutschen Partei aufsteigen und 1932 eine Mehrheit der Deutschen für offen antidemokratische Parteien stimmen konnten, lag in erster Linie an verbreiteten Vorurteilen gegenüber der westlichen Demokratie, mithin an einem Erbe des langlebigen deutschen Obrigkeitsstaates. Besonders ausgeprägt war die Gegnerschaft gegen die westliche Demokratie bei jenen wilhelminisch geprägten Machteliten, die seit der ersten Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten im Jahr 1925 immer mehr an Einfluss gewonnen hatten und in der Endphase der Weimarer Republik über das monopolartige Privileg des Zugangs zum Machthaber verfügten. Wenn es eine letztinstanzliche Verantwortung für den Weg in die Katastrophe gibt, liegt sie bei ihnen.

„Bonn ist nicht Weimar“: Fritz René Allemanns Diktum prägte die Selbstvergewisserung der alten Bundesrepublik. Welche Lehren von Weimar gilt es aus Ihrer Sicht – gerade mit Blick auf den Parlamentarismus und das Prinzip der Repräsentation – auch weiter zu beachten?

Die Lehren, die der Parlamentarische Rat in Bonn 1948/49 aus dem Scheitern der Weimarer Republik gezogen hat, gelten auch heute noch. Die zweite deutsche Demokratie, die seit 1990 eine gesamtdeutsche Demokratie ist, verdankt ihre Funktionsfähigkeit nicht zuletzt der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der repräsentativen Demokratie. Bei Plebisziten können sich die Extreme von links und rechts vorübergehend zu ad hoc-Bündnisses zusammentun; zu konstruktiver Zusammenarbeit sind sie nicht fähig. Volksbegehren und Volksentscheide auf Bundesebene sieht das Grundgesetz, abgesehen von einer Abstimmung über eine neue Verfassung nach Artikel 146, deshalb nicht vor.

Wichtig ist auch, dass sich politische Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland, anders als in der Weimarer Republik, nicht vom Parlament auf das Staatsoberhaupt abschieben lässt. Das Grundgesetz hat eine wehrhafte Demokratie geschaffen. Ihre Fundamentalnormen können nicht durch Mehrheitsbeschluss und nicht einmal durch eine Verfassungsänderung abgeschafft werden. Parteien, die der freiheitlichen Ordnung den Kampf ansagen, müssen damit rechnen, vom Bundesverfassungsgericht verboten zu werden.

Sicher ist die Demokratie aber nur, wenn sie von der Zivilgesellschaft getragen und weiterentwickelt wird. Es war die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens, die nach 1945 im freien Teil Deutschlands zur allmählichen Überwindung altdeutscher Vorurteile gegenüber der pluralistischen Demokratie führte. Seit der Friedlichen Revolution von 1989 und der Wiedervereinigung im Jahr 1990 konnte sich diese Öffnung auch im östlichen Teil Deutschlands, auf dem Territorium der ehemaligen DDR, vollziehen.

Zu den wichtigsten Aufgaben der politischen Bildung gehört es, die Erinnerung an die Lehren aus der Weimarer Republik lebendig zu erhalten. Die deutsche Geschichte kennt freiheitliche, rechtsstaatliche und parlamentarische Traditionen, an die die Gegenwart anknüpfen kann. Es bedarf dieser Erinnerung, um gewappnet zu sein, wenn der Verfassung der Freiheit erneut Gefahr droht.


Heinrich August Winkler lehrte von 1991 bis 2007 Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Autor mehrbändiger Bestseller zur Geschichte Deutschlands und des Westens. Zuletzt erschien von ihm „Die Deutschen und die Revolution. Eine Geschichte von 1848 bis 1989“, C.H.Beck, München 2023.


(Inhaltlich verantwortlich: Fachbereich WD 1)

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